The Project Gutenberg eBook of Einer Mutter Sohn
    
This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and
most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
of the Project Gutenberg License included with this ebook or online
at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States,
you will have to check the laws of the country where you are located
before using this eBook.

Title: Einer Mutter Sohn

Author: Clara Viebig

Illustrator: Karl Köster

Release date: September 7, 2024 [eBook #74386]

Language: German

Original publication: Berlin: Egon Fleischel, 1911

Credits: Peter Becker, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EINER MUTTER SOHN ***





Anmerkungen zur Transkription:

Die Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals wurde weitgehend
übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
Die Originalvorlage ist in Fraktur gedruckt. Davon abweichende, in
Antiqua gedruckte Textstellen sind in dieser Textdatei _so_ markiert;
gesperrt gedruckter Text ist =so= markiert. Am Ende des Textes befindet
sich eine Liste korrigierter Druckfehler.




  Ausgewählte Werke

         von

     Clara Viebig


    Sechster Band

  Einer Mutter Sohn




  Inhalt der Ausgewählten Werke

  Erster Band: Rheinlandstöchter.
  Zweiter Band: Kinder der Eifel. Vom Müller-Hannes.
  Dritter Band: Es lebe die Kunst.
  Vierter Band: Die Wacht am Rhein.
  Fünfter Band: Das Schlafende Heer.
  Sechster Band: Einer Mutter Sohn.




      Clara Viebig


   Ausgewählte Werke

      Sechs Bände


     Sechster Band

   Einer Mutter Sohn


  [Illustration: Verlagssignet]

  Egon Fleischel & Co.
         Berlin
          1911




      Clara Viebig


   Einer Mutter Sohn

         Roman


        Auflage
         21-26


  [Illustration: Verlagssignet]

  Egon Fleischel & Co.
         Berlin
          1911




      Alle Rechte
      vorbehalten


  Die Zeichnung zum Original-
  Einband ist von =Karl Köster=




Erstes Buch




1




Sie waren ein schöngeistig veranlagtes Ehepaar, und da sie das Geld
hatten, künstlerische Neigungen zu pflegen, schriftstellerte er ein
wenig, und sie malte. Sie spielten auch vierhändig und sangen Duette,
wenigstens hatten sie es in der ersten Zeit ihrer Ehe getan; jetzt
besuchten sie um so fleißiger Konzerte und die Oper. Überall, wohin sie
kamen, gefielen sie; sie besaßen Freunde, man nannte sie ›scharmante
Leute‹, und doch fehlte ihnen etwas zum Glück – sie hatten keine
Kinder.

Und sie würden wohl auch keine mehr bekommen, waren sie doch nun schon
über die Zeit hinaus verheiratet, in der einem die Kinder geboren
werden.

In unbewachten Augenblicken, wenn er in seinem Bureau am Schreibtisch
saß, besonders aber, wenn er auf seinen Ritten, die er, teils seiner
Gesundheit wegen, teils noch aus Liebhaberei von der Kavalleristenzeit
her, in die weitere Umgebung Berlins machte, märkische Dörfer passierte,
wo auf sandigen Straßen Scharen von kleinen Flachsköpfen sich tummeln,
seufzte er wohl und zog die Stirn in Falten. Aber er ließ es seine Frau
nicht merken, daß er etwas vermißte, denn er liebte sie.

Sie aber konnte sich nicht so beherrschen; je höher die Zahl ihrer
Ehejahre stieg, desto nervöser wurde sie. Ohne Grund war sie zuweilen
gereizt gegen ihren Mann; über die Geburtsanzeigen in der Zeitung sah
sie mit einer gewissen Scheu beharrlich weg, und fiel doch einmal ihr
Blick auf: ›Die glückliche Geburt eines Knaben zeigen hoch erfreut an‹
und so weiter, so legte sie hastig das Blatt hin.

Früher hatte Käte Schlieben allerlei niedliche Kindersachen gestrickt,
gehäkelt, gestickt, genäht, – sie war ordentlich berühmt wegen
der Zierlichkeit ihrer mit blau und rosa Band ausgeputzten
Erstlingsjäckchen, jede ihrer jungverheirateten Bekannten erbat von ihr
solch ein Wunderwerk – nun hatte sie diese Art von Handarbeit endgültig
aufgegeben. Sie hoffte nicht mehr. Was half es ihr, daß sie ihre
Zeigefinger in die winzigen Ärmelchen des Erstlingsjäckchens steckte
und, es so vor sich hinhaltend, dieses mit träumerischem Blick lange,
lange ansah?! Es machte ihr nur Pein.

Und die Pein ward doppelt fühlbar in jenen grauen Tagen, die ohne Grund
plötzlich da sind, die auf leisen Sohlen auch mitten im Sonnenschein
gehuscht kommen. Dann lag sie auf dem Ruhebett in ihrem mit allem
Geschmack, wahrhaft künstlerisch ausgestatteten Zimmer und kniff die
Augen zu – von der Straße herauf, von der Promenade unter den
Kastanienbäumen, stieg ein Ruf auf, hell, durchdringend, jauchzend wie
segelnder Schwalben Schrei. Sie hielt sich die Ohren zu vor diesem
Schrei, der weiter drang als jeder andre Ton, der sich pfeilschnell
hinauf in den Äther schwang und hoch und selig sich wiegte. Sie konnte
so etwas nicht hören. Das wurde krankhaft.

Ach, wenn sie nun beide alt waren, schwer aufnahmefähig, zu müde, um
sich die Anregung außen zu holen, wer würde ihnen die dann ins Haus
bringen?! Wer würde ihnen etwas zutragen von all dem da draußen? Ihnen
mit seiner Frische, mit der Freudigkeit, die die Zwanzig umhüllt wie ein
köstliches Gewand, die wie Wärme und Sonne von faltenlosen Stirnen
strahlt, einen Hauch der Jugend wiedergeben, die ihnen nach den Gesetzen
der Zeit schon entschwunden war?! Wer würde sich begeistern an dem, was
sie einst begeistert hatte und das sie nun wiederum genossen, als wäre
es auch ihnen neu?! Wer würde mit seinem Lachen Haus und Garten füllen,
mit jenem sorglosen Lachen, das so ansteckend wirkt?! Wer würde sie mit
warmen Lippen küssen und sie froh machen mit seiner Zärtlichkeit?! Wer
würde sie auf seinen Schwingen mittragen, so daß sie nicht fühlten, daß
sie müde waren?!

Ach, den Kinderlosen blüht keine zweite Jugend! Niemand würde das Erbe
antreten, das sie hinterließen an Schönheitsfreude, an Schönheitssinn,
an Begeisterung für Kunst und Künstler; niemand würde ein pietätvoller
Hüter sein all jener hundert Sachen und Sächelchen, die sie mit
Geschmack und Sammlerfreude in den Räumen ihrer Wohnung zusammengetragen
hatten. Ach, und niemand würde, wenn jene letzte schwere Stunde kommt,
vor der alle bangen, mit liebenden Händen die erkaltende Hand festhalten
wollen: ›Vater, Mutter, geht nicht! Noch nicht!‹ – O Gott, o Gott,
solch liebende Hände würden ihnen nicht die Augen zudrücken – – –!

Wenn jetzt Schlieben aus dem Kontor nach Hause kam – er war Mitinhaber
einer großen Handelsfirma, die sein Großvater einst begründet und sein
Vater zu hohem Ansehen gebracht hatte –, fand er das liebenswürdige
Gesicht seiner Frau oft rotfleckig, den ganzen zarten Teint durch
anhaltendes Weinen zerstört. Und der Mund zwang sich nur zum Lächeln,
und in den schönen braunen Augen lauerte es wie Trübsinn.

Der Hausarzt zuckte die Achseln: die gute Frau war eben nervös, sie
hatte zu viel Zeit zum Grübeln, war zu sehr sich selbst überlassen!

Um dies zu ändern, schied der besorgte Ehemann für unbegrenzte Zeit aus
dem Geschäft aus: seine Sozien machten das ja auch ebensogut ohne ihn,
der Arzt hatte recht, er mußte sich mehr seiner Frau widmen; sie waren
ja beide so allein, so ganz und gar aufeinander angewiesen!

Man beschloß, auf Reisen zu gehen; es war ja durchaus kein Zwang da, zu
Hause zu bleiben. Die schöne Wohnung gab man auf; die Möbel, die ganze
kostbare Einrichtung kam zum Spediteur. Wenn es einem gefiel, konnte man
nun Jahre fortbleiben, Eindrücke sammeln, sich zerstreuen; Käte würde in
schönen Gegenden landschaftern, und er, Schlieben, nun, wenn ihm die
gewohnte Arbeit fehlte, konnte er ja leicht in schriftstellerischer
Tätigkeit Ersatz finden!

Sie reisten nach Italien und Korsika, noch weiter, nach Ägypten und
Griechenland; sie sahen das schottische Hochland, Schweden und Norwegen,
unendlich viel Herrliches.

Dankbar drückte Käte ihrem Paul die Hand; sie schwelgte. Ihr
empfängliches Gemüt begeisterte sich, und ihr nicht ganz unbedeutendes
Maltalent fühlte sich auf einmal mächtig angeregt. Ach, all das malen
können, auf der Leinwand festhalten, was an Farbenglut und
Stimmungszauber sich dem entzückten Auge enthüllte!

Am Morgen schon zog die Eifrige mit ihren Malsachen aus, ob’s nun auf
dem Felsen von Capri, am blauen Bosporus oder im gelben Sand der Wüste,
ob’s angesichts der schroffen Zinken der Fjorde oder in den Rosengärten
der Riviera war. Ihr zartes Gesicht verbrannte; selbst auf ihre Hände,
die sie sonst sorgfältig gepflegt hatte, achtete sie nicht mehr. Das
Fieber der Betätigung hatte sie erfaßt. Gott sei Dank, jetzt konnte sie
etwas schaffen! Das klägliche Gefühl eines nutzlosen Lebens war nicht
mehr da, nicht mehr das peinigende Bewußtsein: dein Leben hört auf mit
dem Augenblick, in dem deine Augen sich schließen, da ist nichts von
dir, was dich überdauert! Jetzt hinterließ sie doch wenigstens etwas
Selbstgeborenes – wenn’s auch nur ein Bild war. Die Werke mehrten sich;
eine ganze Menge von Rollen bemalter Leinwand schleppte man nun schon
mit sich herum. Es hatte Schlieben anfänglich große Freude gemacht,
seine Käte so eifrig zu sehen. Galant trug er ihr Feldstuhl und
Staffelei nach und verlor nicht die Geduld, Stunden und Stunden bei
ihrer Arbeit zugegen zu sein. Er lag im spärlichen Schatten einer Palme
und folgte, über sein Buch wegblickend, den Bewegungen ihres Pinsels.
Welch ein Glück, daß sie so viel Befriedigung in ihrer Kunst fand! Wenn
es auch für ihn ein wenig ermüdend war, so untätig umherzuliegen –
nein, er durfte doch kein Wort sagen, hatte er ihr doch nichts, gar
nichts als Ersatz zu bieten!

Und er seufzte. Das war derselbe Seufzer, der ihm entfahren war, wenn
auf den sandigen Straßen der Mark die unzähligen Flachsköpfe spielten,
derselbe Seufzer, den ihm die Sonntage entlockten, an denen er das ganze
städtische Proletariat – Mann und Weib und Kinder, Kinder, Kinder –
hatte nach dem Tiergarten wallen sehen. Ja, schon recht – ein wenig
nervös fuhr er sich über die Stirn – jener Schriftsteller hatte schon
recht – welcher war es doch gleich? – der da einmal irgendwo sagte:
›Warum heiratet der Mann? Nur um Kinder zu haben, Erben seines Leibes,
seines Blutes. Kinder, denen er weitergeben kann, was in ihm ist an
Wünschen, Hoffnungen und auch an Errungenschaften; Kinder, die von ihm
abstammen wie die Schößlinge von einem Baum, Kinder, die dem Menschen
ein Fortleben in Ewigkeit ermöglichen.‹ So allein war das Leben nach dem
Tode aufzufassen – das ewige Leben! Die Auferstehung des Fleisches, die
die Kirche verheißt, war zu verstehen als das Sicherneuen der eignen
Persönlichkeit in folgenden Geschlechtern. Ach, es war doch etwas
Großes, etwas unbeschreiblich Beruhigendes in solchem Fortleben!

»Grübelst du?« fragte Frau Käte. Sie hatte für einen Augenblick von
ihrer Staffelei aufgesehen.

»Was – wie – sagtest du was, mein Herz?« Erschrocken fuhr er auf, wie
ein auf verbotenem Wege Schweifender.

Sie lachte über seine Zerstreutheit: die wurde ja immer schlimmer! Woran
dachte er nur? Geschäfte – sicher nicht! Aber vielleicht wollte er eine
Novelle schreiben, einen Roman? Warum sollte er’s nicht einmal damit
versuchen?! Das war doch noch etwas andres, als kleine Reiseplaudereien
an die ›Vossische‹ oder an die ›Frankfurter Zeitung‹ schicken! Und es
würde ihm schon glücken; Leute, die nicht halb die Bildung hatten, nicht
halb das Wissen, nicht halb das ästhetische Feingefühl wie er, schrieben
doch ganz lesbare Bücher!

Sie redete heiter auf ihn ein, aber er schüttelte mit einer gewissen
Resignation den Kopf: ach was, Romane, schriftstellern überhaupt! Und er
dachte: da sagt man immer, ein Werk ist wie ein Kind – aber,
wohlverstanden, nur ein echtes, großes Werk –, das, was er und seine
Frau schufen, waren das Werke in diesem Sinne, Werke, die
Ewigkeitsbestand in sich trugen?! Er fand plötzlich an ihrem Bild, das
er gestern noch galant bewundert hatte, heute streng zu tadeln.

Sie war ganz erschrocken darüber: warum war er nur heute so gereizt?
Wurde er am Ende gar nervös? Ja, es war augenscheinlich, die laue Luft
des Südens taugte ihm nicht, er sah abgespannt aus, so müde in den
Mienen. Da half nichts, ihr Mann war ihr denn doch lieber als ihr Bild,
sofort würde sie abbrechen!

Und so geschah es denn auch, sie reisten ab, reisten von einem Ort zum
andern, von einem Hotel zum andern, an den Seen entlang, über die
Grenze, bis sie auf einer Schweizer Alpenhöhe längere Rast machten.

Statt unter einer Palme lag er hier nun wieder im Schatten einer Tanne
– seine Frau malte – und er folgte über das aufgeschlagene Buch weg
mit den Blicken den Bewegungen ihres Pinsels.

Sie malte emsig, hatte sie doch ein reizendes Motiv entdeckt: diese
grüne Alpenmatte mit einem Blumenflor, bunter denn bunt, mit den
sonnbeglänzten Rücken der braunen Kühe, war anmutvoll wie der
Paradiesesgarten am ersten Schöpfungstag! Im Eifer des Sehens hatte sie
den breitrandigen Schutzhut nach hinten geschoben, die warme Sommersonne
sengte ungehindert goldne Tüpfchen auf ihre zarten Wangen und den
schmalen Sattel der feinen Nase. Den Pinsel, den sie ins Grün ihrer
Palette getaucht hatte, hielt sie prüfend gegen das Grün der Matte und
blinzelte mit halb geschlossenen Augen, ob die Farbe auch stimmte.

Da schreckte ein Laut sie auf – halb war’s ein Murren des Unwillens
über die Störung, halb ein Brummen des Beifalls – ihr Mann hatte sich
aufgerichtet und blickte auf ein paar Kinder, die sich ihnen lautlos
genähert hatten. Sie boten Alpenrosen zum Kauf an, das Mädchen hatte ein
Körbchen davon voll, der Junge trug seinen Strauß in der Hand.

Waren das wunderhübsche Geschöpfe, das Mädchen so blauäugig sanft, der
Junge ein Erzschelm! Der Frau schwoll das Herz; sie kaufte den Kindern
all ihre Alpenrosen ab, gab ihnen sogar mehr dafür, als sie forderten.

Das war den kleinen Schweizern so recht ein Glück – noch mehr bekommen,
als man fordert?! Vor Freude erröteten sie, und als die fremde Dame sie
liebreich ausfragte, fingen sie freimütig an zu plaudern.

=Die= Kinder mußte sie malen, die waren zu entzückend, die waren ja
tausendmal schöner als die schönste Landschaft!

Schlieben sah es mit einer seltsamen Unruhe, daß seine Frau die Kinder
malte; erst das größere Mädchen, dann den kleinen Buben. Mit welcher
Hartnäckigkeit hing ihr Blick an dem runden Knabengesicht! In ihren
Augen war Glanz, sie schien nie müde zu werden, machte nur Pause, wenn
die Kinder nicht mehr Geduld hatten. All ihr Denken drehte sich um diese
Malerei: würden die Kinder heute auch kommen? War die Beleuchtung gut?
Um Gottes willen, es würde doch kein Unwetter werden, das die Kinder
abhielt?! Nichts andres hatte Interesse für sie. Das war eine große
Hingabe. Und doch wurden es schlechte Bilder; die Züge ähnlich, aber
keine Spur der Kindesseele darin. Er sah es klar: die Kinderlose kann
nicht Kinder malen!

Arme Frau! Mit einem Gefühl tiefen Mitleids sah er ihren Bemühungen zu.
Wurde ihr Gesicht nicht mütterlich weich, lieblich rund, wenn sie sich
zu den Kindern neigte? Der Typus der Madonna – und doch waren dieser
Frau Kinder versagt – – –!

Nein, er konnte dies nicht länger mehr mit ansehen, es machte ihn krank!
Unwirsch hieß Schlieben die Kinder nach Hause gehen. Die Bilder waren
fertig, wozu noch länger daran herumpinseln, das machte sie nicht
besser, im Gegenteil! –

An diesem Abend weinte Käte so, wie sie zu Hause geweint hatte. Und sie
zürnte ihrem Manne: warum ließ er ihr nicht diese Freude?! Warum hieß es
so plötzlich: abreisen?! Sie kannte ihn gar nicht wieder – waren die
Kinder nicht lieb, entzückend, störten sie ihn denn?!

»Ja,« sagte er nur. Es war ein harter, trockener Klang in seiner Stimme
– ein so mühsames ›Ja‹ –, sie hob das Gesicht aus dem Taschentuch, in
das sie hineingeweint hatte, und sah zu ihm hin. Er stand am Fenster des
teppichbelegten Hotelzimmers, die Hände auf die Fensterbrüstung gestützt
und die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. So sah er stumm hinaus in die
große Landschaft, in der Berggipfel voll abendsonnenfrohen Firns von
ewiger Unvergänglichkeit redeten. Wie kniff er die Lippen, wie nervös
zuckte sein Schnurrbart!

Sie schlich zu ihm hin und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Was
fehlt dir?« fragte sie leise. »Entbehrst du die Arbeit – ja, die
Arbeit, nicht wahr? Ich fürchtete es schon. Es wird dir langweilig, du
mußt wieder in Tätigkeit. Ich versprech dir’s, ich will verständig sein
– nie mehr klagen – nur bleibe jetzt noch ein bißchen hier, nur noch
drei Wochen – zwei Wochen!«

Er blieb stumm.

»Nur noch zehn – acht – sechs Tage! Auch das nicht mal?!« Sie sagte es
schmerzlich enttäuscht, er hatte verneinend den Kopf geschüttelt. Ihre
Arme schlangen sich um seinen Hals: »Ich bitte dich, nur noch fünf –
vier – drei Tage! Warum denn nicht? Ich bitte dich, die paar Tage –
nur drei Tage noch!« Sie feilschte förmlich um jeden Tag. »Ach, dann
wenigstens zwei Tage noch!«

Sie schluchzte auf, ihre Arme lösten sich von seinem Halse – zwei Tage
mußte er doch zugeben!

Ihre Stimme schnitt ihm durchs Herz; so hatte er sie noch nie bitten
hören, aber er stemmte sich gegen die Nachgiebigkeit, die ihn
beschleichen wollte: nur keine Sentimentalität! Es war besser, hier
rasch aufzubrechen, viel besser für sie!

»Wir reisen morgen!«

Und als sie ihn ansah mit weitgeöffneten, schreckensstarren Augen, tief
erbleicht, da entfuhr es ihm, ohne daß er es sagen wollte, herausgelockt
von einer Bitterkeit, deren er nicht mehr Meister wurde: »Sie sind ja
doch nicht dein!«




2


Und sie reisten ab. Aber es war, als sei mit der smaragdgrünen
Alpenmatte, auf der sie die lieblichen Kinder gemalt hatte, der Frau
auch jede Freudigkeit entschwunden. Da war wieder ganz der alte nervöse
Zug in ihrem Gesicht, die Mundwinkel senkten sich ein wenig abwärts, und
sie war leicht geneigt, zu weinen. Mit einer förmlichen Angst
beobachtete Schlieben seine Frau: ach, war denn nun wirklich alles
umsonst gewesen, das Aufgeben seiner Tätigkeit, dieses ganze lange,
abspannende, planlose Herumreisen?! Hatte die alte, trübe Stimmung sie
wieder gepackt?!

Wenn er sie so lässig dasitzen sah, die Hände unbeschäftigt im Schoß,
überkam es ihn wie Wut: warum tat sie nichts, warum malte sie denn
nicht? Es brauchte doch nicht gerade auf jener verwünschten Alpenwiese
zu sein! War es denn nicht auch hier schön?!

Sie hatten sich im Schwarzwald niedergelassen; aber von Tag zu Tag
hoffte er vergebens, daß eines der grünen stillen Waldtäler sie reizen
würde, ihre Malsachen hervorzusuchen, oder eins der bräunlichen
Schwarzwaldmädchen mit dem Kirschenhut und dem riesigen, roten
Regenschirm, wie Vautier sie gemalt hat. Sie hatte keine Lust,
ordentlich eine Art Scheu, den Pinsel wieder anzufassen.

Er machte sich im geheimen bittere Vorwürfe: wäre es nicht besser
gewesen, ihr die Freude zu lassen, nicht dazwischen zu fahren?! Und doch
– einmal hätte die Sache doch ein Ende nehmen müssen, und je länger sie
angedauert hätte, desto schwerer wäre die Trennung gewesen! Das stand
nun fest, mit dem Spätherbst wollten sie wieder nach Berlin heimkehren.
Er hielt es beim besten Willen nicht länger so mehr aus; des
Umherziehens von Hotel zu Hotel, des Bummelns durch die Welt, das keine
andre Frucht zeitigte, als ab und zu mal ein kleines Feuilleton, eine
Reiseplauderei über ein noch weniger bekanntes Stückchen Erde, war er
herzlich müde. Er sehnte sich wieder nach einer eignen Häuslichkeit,
verlangte brennend nach der geschäftlichen Tätigkeit, die, solange er
darinnen war, ihm oft als eine Fessel und so nüchtern gedeucht hatte.
Aber Käte – – – –! Wenn er daran dachte, daß sie nun wieder viele
Stunden einsam zu Hause verbringen würde, sich ganz auf sich und Lektüre
beschränkend, denn, übersensitiv wie sie war, fand sie wenig Gefallen am
Umgang mit anderen Frauen, dann überkam ihn Hoffnungslosigkeit. Da
würden wieder dieselben trüben Augen sein, dieses gleiche,
melancholische Lächeln, die alten gereizten Stimmungen, unter denen das
ganze Haus litt, sie selber am meisten.

Und er betrachtete sich selber wie anklagend; er ging sein ganzes Leben
zurück: hatte er etwas verbrochen, daß ihm kein Sohn beschieden war,
keine Tochter?! Ja, wenn Käte ein Kind hätte, dann wäre alles gut, sie
wäre vollauf beschäftigt, ausgefüllt durch dieses Wesen, um das sich
Elternliebe, hoffnungsvoll und hoffnungsberechtigt, in ewig erneutem
Kreise dreht!

Beide Eheleute quälten sich, denn der Frau Gedankenwanderungen endeten
erst recht immer an diesem einen Punkte. Jetzt, nachdem sie von jenen
lieben Kindern geschieden worden war, von diesem, ach, viel zu kurzen
Sommerglück, schien es ihr erst ganz klar geworden zu sein, was sie
entbehrte – hatte es nicht vorher nur wie eine schmerzliche Ahnung auf
ihr gelastet?! Aber jetzt, jetzt war die grausam deutliche Gewißheit da:
alles, was man sonst in der Welt ›Glück‹ nennt, ist nichts gegen den Kuß
eines Kindes, gegen sein Lächeln, sein Schmiegen in der Mutter Schoß!

Sie hatte die Kinder auf der Matte beim Kommen und Gehen immer zärtlich
geküßt, nun sehnte sie sich nach diesen Küssen. Ihres Mannes Kuß
ersetzte ihr diese nicht; sie war nun bald fünfzehn Jahre verheiratet,
=der= Kuß war keine Sensation mehr, er war zu einer Gewohnheit geworden.
Aber der Kuß von Kinderlippen, die so frisch, so unberührt, so scheu und
doch so zutraulich sind, der war ihr etwas ganz Neues gewesen, etwas
unendlich Süßes. Ein Glücksgefühl hatte ihre Seele dabei durchrieselt,
zugleich mit dem ganz physischen Behagen, ihren Mund in diese
duftig-weichen und doch so prallen Wangen versenken zu können, die von
Gesundheit und Jugend flaumig behaucht waren wie die Bäckchen eines
Pfirsichs. Immer wieder irrte ihre Sehnsucht zu der Alpenmatte zurück;
und diese ihre ungestillte Sehnsucht vergrößerte das Erlebnis, umgab die
Gestalten, die so flüchtig in ihrem Leben aufgetaucht waren, mit dem
ganzen Glorienschein zärtlicher Erinnerung. Ihre unbeschäftigten
Gedanken spannen lange Fäden. Wie sie sich nach den Kleinen sehnte, so
würden die sich auch nach ihr sehnen, weinend würden sie über die Matte
irren, und das reiche Geldgeschenk, das sie für jedes von ihnen beim
Wirt des Hotels hinterlassen – hatte sie doch fortgemußt, ohne ihnen
Adieu zu sagen –, würde sie nicht trösten; vor der Tür würden sie
stehen und nach den Fenstern hinaufäugen, aus denen ihre Freundin ihnen
so oft gewinkt hatte. Nein, das konnte sie Paul nicht verzeihen, daß er
so wenig Verständnis gezeigt hatte für ihr Empfinden!

Der Aufenthalt im Schwarzwald, dessen sammetige Wiesenhänge zu sehr an
die Matten der Schweiz erinnerten, von dessen Aussichtspunkten man an
hellen Tagen zur Alpenkette hinüberblicken konnte, wurde beiden
Schliebens zur Qual. Es trieb sie fort; die dunklen Tannen, dieser
grüne, tiefe Wald wurde ihnen zu eintönig. Sollten sie es nicht einmal
mit einem Seebad versuchen? Das Meer ist alle Tage neu. Und die Saison
für die See war auch da; schon wehte der Wind über Stoppelfelder, als
sie in die Ebene hinabfuhren.

Sie wählten ein belgisches Seebad, eines, in dem man Toilette macht und
ein ganz internationales Publikum täglich etwas Neues zu sehen bietet.
Sie empfanden es beide: viel zu lange waren sie in stillen
Gebirgseinsamkeiten gewesen!

An den ersten Tagen machte ihnen das bunte Treiben Spaß, aber dann waren
sie, zwischen die sich in letzter Zeit etwas wie eine trennende Wand
hatte schieben wollen, beide plötzlich ganz einig: hier dieses Auf und
Ab von Männern, die Gecken glichen, von Frauen, die, wenn sie der
Demimonde nicht angehörten, diese doch mit Erfolg kopierten, war nichts
für sie! Nur fort!

Schlieben machte den Vorschlag, jetzt endgültig die Reise aufzugeben und
schon etwas früher nach Berlin zurückzukehren, aber davon wollte Käte
doch nichts wissen. In ihr war eine geheime Angst vor Berlin – ach,
wieder in die alten Verhältnisse zurückkehren?! Sie hatte sich bis jetzt
gar nicht gefragt, was sie eigentlich von dieser langen Reisezeit
erhofft hatte; aber sie hatte etwas erhofft – ja! Was –?!

Ach, nun würde sie wieder so viel allein sein und nichts, nichts war da,
was sie ganz erfüllte!

Nein, sie war noch nicht imstande, nach Berlin zurückzukehren! Sie sagte
ihrem Manne, daß sie sich noch erholungsbedürftig fühle – gewiß war sie
bleichsüchtig, blutarm! Längst hätte sie Schwalbach, Franzensbad,
irgendein Stahlbad besuchen sollen – wer weiß, vielleicht wäre dann
manches anders!

Er war nicht ungeduldig – wenigstens zeigte er es ihr nicht – denn ein
tiefes Mitleid mit ihr begann in ihm zu wachsen. Natürlich sollte sie in
ein Stahlbad; man hätte das längst versuchen sollen, versuchen müssen!

Der belgische Arzt schickte sie nach dem berühmten Spaa.

Hoffnungsvoll kamen sie dort an. Bei ihr war die Hoffnung ganz echt. »Du
sollst sehen,« sagte sie heiterer zu ihrem Manne, »hier wird’s mir gut
tun. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl – nein, eigentlich das ganz
bestimmte Gefühl, daß uns hier etwas Gutes widerfährt!«

Auch er hoffte; er zwang sich dazu, zu hoffen, ihr zuliebe. O, und es
wäre ja schon genug, der Erfüllung genug, wenn die Eigenart der
Landschaft ihr so viel Interesse abgewänne, daß sie die gänzlich
vernachlässigte Malerei wieder aufnähme! Wie froh würde er schon darüber
sein! Wenn sich der frühere Eifer zur Kunst wieder einstellte, so war
das tausendmal heilbringender, als die stärkste Eisenquelle Spaas.

Die Heide blühte, all die weiten Flächen des Hochlands waren rot, in
Purpur versank die purpurne Sonne.

Es kam, wie er gehofft hatte; das heißt, zu malen fing sie nicht an,
aber sie unternahm mit ihm Touren in die Ardennen und die Eifel, zu Fuß
und zu Wagen, und hatte Freude daran. Das Venn hatte es ihr angetan. Sie
stand in ihrem lichten Kleid wie ein kleiner heller Punkt in dem
ungeheuern Ernst der Landschaft, schirmte die Augen mit der Hand gegen
die hier so unbehinderte, durch keinen Baum, keinen Berg gehemmte
Sonnenaussicht und sog in tiefen Atemzügen die herbe, gläserne, noch von
keinem Rauch menschlicher Wohnungen, kaum von Menschenodem versehrte
Luft ein. Um sie blühte das Venn wie ein gleichfarbener Teppich, tief,
ruhig, dem Auge ein wohltuendes Labsal; nur selten reckte sich
dazwischen blauer Enzian und die leicht schaukelnde weiße Flocke des
Wollgrases.

»O, wie schön!« Das sagte sie mit tiefster Empfindung. Die Melancholie
der Landschaft schmeichelte ihrer Stimmung. Da war kein bunter Ton, der
sie störte, kein Durcheinander von Farben. Selbst die Sonne, die hier
schöner untergeht als anderswo – so tief errötend, daß der ganze Himmel
mit errötet, daß der schlängelnde Vennbach, von Moospolstern eingesäumt,
jede Lache, jede wassergefüllte Torfgrube rotgolden widerstrahlt und das
traurige Venn einen Mantel trägt voll leuchtender Herrlichkeit – selbst
diese Sonne brachte keinen grell-heiteren Schein. Groß, würdevoll, eine
ernste Siegerin nach ernstem Kampfe, zeigte sie ihr gewaltiges
Riesenrund.

Mit großen tränenden Augen sah Käte in diese wunderbare Sonne, bis das
letzte Strählchen, das letzte rosige Äderchen im Wolkengrau versiegt
war: so ging die sterben – der Himmel war tot –, aber am Morgen stand
sie doch wieder da, eine ewig-unvergängliche, nie besiegte Hoffnung!
Sollte, durfte da das Menschenherz nicht auch wieder schlagen, neu
belebt, immer in Hoffnung?!

Nebel huschten übers Moor, verschleierte, unbeschreibbare, ungewisse
Erscheinungen; ein Raunen ging vor dem Wind, ein Lispeln durch Kraut und
Wollgras – es war Käte, als habe das Venn ihr etwas zu sagen. Was sagte
es?! Ah, das war nicht umsonst, daß sie hier gehalten wurde, sich
festgehalten fühlte wie mit starker und doch gütiger Hand!

Sie ging, gleichsam suchend, mit rascherem, elastischerem Schritt.

Schlieben war glücklich über das Gefallen, das seine Frau an der Gegend
fand. Er konnte dieser Landschaft freilich keinen besonderen Geschmack
abgewinnen – war es nicht reichlich öde, monoton und unfruchtbar hier?
Aber gewiß, Stimmung, sehr viel Stimmung hatte die eigentümliche
Szenerie – nun, und wenn sie sich darin behagte, war die ihm doch
lieber als ein Paradies!

Sie fuhren oft hinauf bis zur Baraque Michel, jenem einsamen Wirtshaus
auf der Grenze von Belgien und Preußen, in dem die Grenzjäger ihren
Wacholderschnaps trinken, wenn sie auf etwaige Schmuggler fahnden, und
wo die Torfarbeiter ihre nebelfeuchten Kittel und durchnäßten Stiefel am
stets brennenden Herdfeuer trocknen.

So viele Kreuze im Venn, so viele Verunglückte. Mit heimlichem Grausen
hörte Käte die Erzählungen der Leute – das Venn, konnte das so
furchtbar sein?! – und sie fragte sie immer wieder von neuem aus. War’s
möglich, jener Mann aus Xhoffraix, der nach Torfstreu gefahren, war hier
versunken, mit Karren und Pferd, so dicht am Weg, und man hatte nie, nie
wieder etwas von ihm zu Gesicht bekommen?! Und dort das Kreuz, so
verwittert und schwarz, wie kam das mitten ins Moor?! Warum hatte sich
nur der Handwerksbursche, der auf der Poststraße von Malmedy nach Eupen
wandern wollte, so weit ab verlaufen? War es denn Nacht gewesen oder ein
Schneetreiben, daß er nicht hatte sehen können, oder Kälte, grimmige
Kälte, bei der ein Müder erfriert? Nichts von alledem; nur Nebel,
plötzlicher Nebel, der so verwirrt, daß man nicht mehr geradeaus weiß,
noch rückwärts, weder links noch rechts, jegliche Richtung verliert, von
der Straße abkommt und im Kreise umherrennt wie ein sinnlos
verängstigtes armes Tier. Und alle die Nebel, die im Venn steigen,
wenn’s Tageslicht auslischt, sind das die Seelen der Unbestatteten, die,
in zerfallnen Gewändern allnächtlich ruhelos ihren durch keinen
Segensspruch, durch kein Weihwasser geweihten Grüften entsteigen?!

Das war ein Märchen. Aber war’s nicht überhaupt hier wie im Märchen? So
ganz anders als irgendwo sonst in der Welt, eigentlich häßlich und doch
nicht häßlich, eigentlich nicht schön und doch so über alle Maßen
schön?! Und sie selbst, war sie hier nicht eine ganz andre, ging sie
nicht erwartungsvoll, selig-verträumt, wie eine, die etwas Wunderbares
erleben soll?! –

Es war in der sechsten Woche ihres Aufenthaltes in Spaa. Die Nächte
waren schon winterkalt, die Tage aber noch sonnig. Es war immerhin eine
weite Fahrt hinauf zur Baraque, auch für die kräftigen Ardennengäule,
aber Mann und Frau waren heute doch wieder oben. Hieß es nun bald
scheiden?! Ach ja – mit Wehmut mußte sich’s Käte eingestehen – es war
sehr herbstlich, das Heidekraut verblüht, die Lüfte rauh; das in der
Nacht schon gefroren gewesene Gras raschelte unter ihren Füßen. Man
konnte winterliche Kleidung gebrauchen.

»Hu, wie kalt,« sagte fröstelnd Schlieben und schlug sich den Kragen des
Überziehers in die Höhe. Er wollte seiner Frau ein Tuch um den Hals
schlingen, aber sie wehrte sich dagegen: »Nein, nein!« Eiligen Schrittes
lief sie vor ihm her durchs raschelnde Kraut. »Sieh nur!«

Es war ein weiter Ausblick, der sich ihnen bot, hier auf der höchsten
Erhebung des Venns, die ein wackeliges Holztürmchen ziert. Die ganze
große heidebewachsene Hochfläche lag vor ihnen, darauf ab und zu ein
dunkelragendes Tannentrüppchen, das nur auf der dem Sturm abgekehrten
Seite breitende Äste zeigte. Ängstlich geduckte Schonungen, kaum höher
als das Kraut und nur durch die andre Farbe erkenntlich. Und hier und
hier, und da und dort ein grauer Findlingsblock und ein zur Seite
gewehtes Kreuz. Und eine Stille darüber im herbstlich bleichen
Mittagslicht, als sei hier Gottesacker.

Als sie auf das Türmchen geklettert waren, sahen sie noch mehr. Sie
sahen von der Hochfläche zu Tal: rundum eine blaue Weite, blau vom
Dunkel der Wälder und vom Duft des Herbstes, und im schönen Blau
langgestreckte Dörfer, die weißen Häuser halb verborgen hinter hohen
Schutzhecken. Und hier, nach Belgien hinab, mit seinem grauen Dunst wie
eine Wolke in der klaren, kristallhellen Herbstluft lagernd, das große
Verviers, überragt von Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen.

Käte seufzte auf und schauderte unwillkürlich zusammen: ach, so nahe
schon die Alltäglichkeit? Rückte ihrer wunderbaren Märchenwelt das graue
Leben schon näher und näher?!

Schlieben hüstelte; er fand es reichlich kühl hier oben. Sie stiegen vom
Türmchen herunter, aber als er sie zur Baraque zurückführen wollte,
widerstrebte sie: »Nein, noch nicht, noch nicht! Es läutet ja erst
Mittag!«

Von der Kapelle Fischbach her, jenem schieferbekleideten, uralten
Kirchlein, in dessen Turm man früher die große rote Laterne hißte, um
dem im wilden Meer der Nebel schwimmenden Wanderer den rettenden Port zu
weisen, und unablässig die Glocke rührte, um – versagte das Auge –
durchs Ohr den Irrenden zu retten, läutete es. Hell und durchdringend
rief das Glöckchen in die Einsamkeit – der einzige Laut der großen
Stille.

»Wie rührend ist dieser Klang!« Käte stand mit gefalteten Händen und sah
schwimmenden Auges in die große Weite hinaus. Welch ein Zauber wohnte in
diesem Venn?! Er umspann die Seele, wie das zähe Gestrüpp der Heide und
die kriechenden Ranken des Schlangenmooses den Fuß umstrickten. Wenn sie
daran dachte, daß sie nun bald von hier scheiden mußte, fortgehen aus
dieser ungeheuern Stille, die ein Geheimnis zu bergen schien, ein
Wunderbares hegte im tiefen Schoß, krampfte ihr Herz sich zusammen in
plötzlicher Angst: wie würde es nun mit ihr werden, was mit ihr
geschehen?! Ihre suchende Seele stand wie ein Kind verlangend auf der
Schwelle des Märchenlandes – sollte ihr denn keine Gabe werden?!

»Was war das?!« Mit einem halblauten Ruf des Erschreckens griff sie
plötzlich nach dem Arm ihres Mannes: »Hast du’s nicht auch gehört?«

Sie war ganz blaß geworden; mit groß aufgerissenen Augen stand sie da,
sich unwillkürlich auf den Zehen hebend und den Hals reckend.

»Nun wieder! Hörst du’s?« Etwas wie das leise Wimmern eines Kindes war
an ihr Ohr gedrungen.

Nein, er hatte nichts gehört: »Es werden wohl Menschen in der Nähe sein.
Käte, wie du einen aber erschrecken kannst!« Ein wenig ärgerlich
schüttelte er den Kopf. »Du weißt doch, jetzt sind alle Weiber und
Kinder aus den Venndörfern draußen, um Preißelbeeren zu sammeln. Sonst
haben sie ja nichts zu ernten. Sieh mal, jetzt sind die Beeren
hochreif!« Er bückte sich und pflückte ein Stäudchen.

Wunderschön stand das Träubchen der tief korallenfarbenen Beeren gegen
das glänzende Dunkelgrün der ovalen Blättchen. Aber auch Blüten waren
noch am Ständchen, kleine weiße, reine Blüten.

»Wie Myrte, genau wie Myrtenblüte,« sagte sie und nahm ihm das Ständchen
aus der Hand. »Und die Blättchen sind auch gerade wie Myrtengrün!« Den
Stengel zwischen den Fingern drehend, sah sie sinnend darauf nieder:
»Die Myrte des Venns!« Und die kleine Blume entzückt an ihren Mund
hebend, küßte sie sie.

»Weißt du noch – damals – an unserm Hochzeitsabend, weißt du noch? Du
hast die Myrte aus meinem Kranz geküßt, und ich habe sie auch geküßt,
und dann küßten wir uns. Damals – damals – o, wie glücklich waren wir
damals!« Sie sagte es sehr weich, wie verloren in einer süßen
Erinnerung.

Er lächelte, und wie sie sich näher zu ihm neigte, unverwandt den
verträumten Blick auf das grüne Ständchen geheftet, zog er sie an sich
und legte den Arm um sie. »Und sind wir heute nicht – nicht« – er
wollte sagen ›nicht ebenso glücklich‹, aber er sagte nur: »nicht auch
glücklich?«

Sie antwortete nicht, sie verharrte stumm. Aber dann, mit einer jähen
Bewegung das glänzende Grün von sich schleudernd, wendete sie sich ab
und lief fort von ihm, blindlings, weglos ins Venn hinein.

»Käte, was ist dir denn?!« Erschrocken hastete er hinter ihr her; sie
lief so rasch, daß er sie nicht gleich einholen konnte. »Käte, du wirst
noch hinstürzen! Aber so warte doch! Käte, was hast du?!«

Keine Antwort. Aber an den zuckenden Bewegungen ihrer Schultern sah er,
daß sie heftig weinte. Ach, was war das nun wieder?! Bekümmert war sein
Gesicht, als er hinter ihr drein rannte übers öde Venn. Sollte es denn
nie besser mit ihr werden? Da sank einem ja wahrhaftig jeglicher
Lebensmut! Es war auch eine Torheit gewesen, sie hierher zu bringen –
geradezu eine Verrücktheit! Hier war ja keine Heiterkeit zu finden. Eine
Trostlosigkeit lauerte in dieser unbegrenzten Weite, eine schreckhafte
Härte in dieser herb duftenden Luft, eine unerträgliche Schwermut in
dieser großen Stille!

Schlieben hörte nur das eigne erregte Atmen. Immer rascher lief er, eine
heftige Angst um seine Frau erfaßte ihn plötzlich. Jetzt hatte er sie
beinahe erreicht – schon streckte er die Hand aus, sie am flatternden
Kleid zu haschen – da drehte sie sich um, warf sich ihm an die Brust
und schluchzte: »Ach, hier ist beides: Blüte und Frucht! Aber unsre
Myrte ist abgeblüht und hat nicht Frucht getragen – nicht Frucht – wir
armen Leute!«

Also das – das war’s wieder?! Verwünscht! Er, der sonst so Gemäßigte,
stampfte heftig mit dem Fuß auf; Zorn, Scham und ein gewisses
Schmerzgefühl jagten ihm das Blut zu Kopfe. Da stand er nun in einer
Ödenei, hielt seine zum Erbarmen weinende Frau in den Armen und kam sich
selber höchst kläglich vor.

»Sei nicht böse, sei nicht böse,« bat sie und drückte sich fester an
ihn. »Siehst du, hier hatte ich gehofft – ach, so bestimmt gehofft –
gewartet – ich weiß selbst nicht recht auf was, aber immer gewartet –
und heute – eben ist mir’s klar geworden: es war doch alles, alles
umsonst! Laß mich weinen!«

Und sie weinte wie jemand, dem alle Hoffnung gestorben ist.

Was sollte er ihr sagen? Wie sie trösten? Er wagte kein Wort, strich ihr
nur sacht übers heiße Gesicht und fühlte, wie auch ihn ein Gefühl
beschlich, =das= Gefühl, das er nicht immer die Kraft hatte, beiseite zu
schieben.

So standen sie lange stumm, bis er, sich zusammennehmend, in einem Ton,
der gleichgültig-ruhig zu klingen bemüht war, sagte: »Wir müssen
zurückgehen, wir sind hier ganz in die Wildnis geraten. Komm, nimm
meinen Arm! Du bist übermüdet, und wenn wir – – –«

»Still,« unterbrach sie ihn und ließ hastig seinen Arm fahren. »Wieder
wie vorhin! Es klagt was!«

Nun hörte er’s auch. Sie horchten beide: war das ein Tier? Oder die
Stimme eines Kindes, eines ganz kleinen Kindes?!

»O Gott!« Weiter sagte Käte nichts, aber sie machte, kurz entschlossen,
eine Wendung nach rechts und lief eilig, ohne acht zu haben, daß sie
mehrmals stolperte im schier undurchdringlichen Beerengestrüpp, zu einer
kleinen Bodensenkung hinunter.

Ihr feines Ohr hatte sie recht geführt. Da lag das Kind auf der Erde. Es
hatte kein Kissen, keine Decke, war recht erbärmlich eingebündelt in
einen alten, zerschlissenen Frauenrock. Sein Köpfchen, das dunkel
behaart war, lag im bereiften Kraut; mit den großen, klaren Augen guckte
es starr in die Helle, die zwischen Himmel und Venn flimmerte.

Da war kein Schleier, keine schützende Hülle; auch keine Mutter – nur
das Venn.

Sie hatten sich doch getäuscht: es weinte nicht, es grahlte nur so vor
sich hin, wie stillzufriedene Kinder zu tun pflegen. Seine kleinen
Händchen, die nicht mit eingebündelt waren, hatten um sich gefaßt,
einige der roten Beeren gegriffen und zerquetscht. Dann waren die
Fäustchen zum hungrigen Mündchen gewandert; die Säuglingslippen waren
betropft mit Beerensaft.

»So allein?!« Käte war in die Kniee gesunken, ihre Hände umfaßten
zitternd das Bündel. »Um Gottes willen, das arme Kind! O, wie reizend es
ist! Sieh nur, Paul! Wie kommt es hierher? Es wird erfrieren!
Verhungern! Ruf mal, Paul! Das arme Würmchen! Wenn jetzt die Mutter
käme, der würde ich es aber gehörig sagen – es ist schändlich, das
hilflose Wesen so liegen zu lassen! Rufe – laut – lauter!«

Er rief, er schrie: »He, holla! Ist niemand da?!«

Keine Stimme antwortete, kein Mensch kam. So still lag das Venn, als sei
es eine ausgestorbene, längst vergessene Welt.

»Es kommt niemand,« flüsterte Käte ganz leise, und es war Angst und
zugleich zitterndes Frohlocken in ihrer Stimme. »Die Mutter kümmert sich
nicht – wer weiß, wo die hin ist?! Ob sie kommt?!« Spähend sah sie
umher, reckte den Kopf nach allen Seiten, um ihn dann mit einem Seufzer
der Befriedigung wieder auf das Kind herabzuneigen.

Was gehörte dazu für ein unverzeihlicher Leichtsinn – nein, was für
eine unsagbare Roheit, solch ein Würmchen hier preiszugeben! Wenn sie
nun ein paar Stunden, nur eine Stunde später gekommen wären?! Da konnte
es bereits von einer Schlange gebissen, am Ende gar von einem Wolf
zerrissen worden sein!

Nun mußte Schlieben doch lachen, obgleich ihn ein leises Mißvergnügen
beschlichen hatte beim Anblick ihrer Exaltation. »Nein, mein Kind,
Giftschlangen gibt es hier nicht, und Wölfe auch nicht mehr, da kannst
du dich beruhigen. Aber wenn die Nebel erst steigen, so hätten die
genügt!«

»O –!« Schaudernd preßte Käte den Findling an sich. Sie kauerte jetzt
auf den Hacken und hielt das Kind im Schoß. Ihr Zeigefinger kitzelte
schäkernd unter dem kleinen Kinn; sie streichelte die rosigen Bäckchen,
das flaumige Köpfchen, erschöpfte sich in Liebkosungen und
Schmeichelnamen, aber unverwandt sah das Kind mit den großen, dunklen
und doch so hellen Augen in die flimmernde Helle. Es lächelte nicht, es
weinte aber auch nicht; es schenkte den Fremden gar keine Beachtung.

»Glaubst du, daß man’s mit Absicht hier ausgesetzt hat?« fragte Käte
plötzlich und machte die Augen weit auf. Eine heiße Blutwelle schoß ihr
zu Kopf. »O, dann – dann« – sie tat einen zitternden Atemzug und
preßte das Kind an sich, als möchte sie es nicht wieder lassen.

»Die Sache wird sich schon irgendwie aufklären,« sagte Schlieben
ablenkend. »Die Mutter wird schon kommen!«

»Siehst du sie – siehst du sie?« forschte sie fast ängstlich.

»Nein!«

»Nein!« Sie wiederholte es erleichtert und lächelte dann. Ihr Auge und
Ohr gehörte nun ganz dem hilflosen Wesen. »Wo ist das liebe Kindchen –
ei, wo ist es denn?! Lach doch mal! Sieh mich doch mal an mit deinen
großen Guckaugen! O, du liebes Geschöpf, o, du süßes Kind!« Sie tändelte
mit ihm und preßte Küsse auf seine Händchen, ohne zu achten, daß diese
schmutzig waren.

»Was machen wir nun?!« sagte der Mann betreten.

»Wir können es nicht hier liegen lassen. Selbstverständlich nehmen wir’s
mit!« Die zarte Frau hatte plötzlich etwas sehr Energisches. »Glaubst
du, ich werde das Kind im Stiche lassen?!« Ihre Wangen glühten, ihre
Augen glänzten.

Mit einer gewissen Scheu sah Schlieben seine Frau an: wie war sie schön
in diesem Augenblick! Schön, gesund, glücklich! So hatte er sie lange
nicht gesehen. Nicht mehr, seit er sie als selige Braut in die Arme
geschlossen hatte! Ihre Brust hob und senkte sich rasch unter bebenden
Atemzügen, und an dieser Brust lag das Kind, und zu Füßen blühte die
Myrte des Venns.

Eine seltsame Bewegung überkam ihn; aber er wendete sich ab: was ging
sie das fremde Kind an?! Und doch gestand er zögernd zu: »Freilich,
hierlassen können wir’s nicht! Weißt du was? Wir wollen es bis zur
Baraque mitnehmen. Gib her, ich will es tragen!«

Aber sie wollte es selber tragen, sie ließ sich nur von ihm auf die Füße
helfen. »So – so – komm, mein liebes Kindchen!« Behutsam hob sie den
Fuß zum ersten Schritt – da bannte ein Ruf sie an die Stelle.

»Heela!«

Eine rauhe Stimme hatte das gerufen. Und nun kam ein Weib auf sie zu;
die Gestalt im flatternden Rock hob sich groß und scharf ab von dem sie
umflutenden lichten Äther.

Woher kam die so plötzlich? Dort, hinter dem Erdwall her, den man bei
der Torfgrube ausgeworfen hatte! Sie war auf allen Vieren gekrochen und
hatte Beeren gepflückt; ein fast gefüllter Eimer hing ihr am Arm, und in
der Rechten trug sie das hölzerne Maß und den großen, knöchernen
Pferdekamm, mit dem die Beeren abgestreift werden.

Das war die Mutter! Ein tiefer Schreck befiel Käte, sie wurde blaß.

Auch Schlieben war betroffen; aber dann atmete er erleichtert auf: so
war’s entschieden die beste Lösung! Natürlich, man hätte es sich ja
gleich denken können, wie sollte das Kind wohl ganz allein ins öde Venn
kommen?! Die Mutter hatte Beeren gesucht und es derweilen hier
niedergelegt!

Die Frau schien ihnen übrigens gar nicht Dank zu wissen, daß sie sich
während ihrer Abwesenheit des Kindes so freundlich angenommen hatten.
Mit einer ziemlich unsanften Bewegung nahmen die starkknochigen Arme
das Kind der Dame ab. Mißtrauisch musterte der Blick des Weibes die
Fremden.

»Ist es Ihr Kind?« fragte Schlieben. Es hätte der Frage nicht bedurft:
das waren ganz dieselben dunklen Augen, nur daß sie bei dem Kinde
glanzvoller waren, noch nicht vom Staube des Lebens getrübt, wie bei der
Mutter.

Die Frau gab keine Antwort. Erst als Schlieben nochmals fragte: »Sind
Sie die Mutter?« und zugleich in die Tasche griff, fand sie es der Mühe
wert, kurz zu nicken:

»_C’est l’ mi’n!_«[1] Ihr Gesicht blieb finster, ganz ohne Regung von
Stolz oder Freude.

[1] _C’est le mien._

Mit einem gewissen empörten Staunen sah es Käte. Wie gleichgültig das
Weib war! Hielt sie nicht das Kind, als wäre es ihr eine überflüssige
Last?! Ein Neid kam sie an, ein quälender Neid, und zugleich ein
heftiger Unwille: die da verdiente wahrhaftig das Kind nicht! Aus dem
Arm hätte sie ihr’s reißen mögen. Wie roh das Gesicht war, grob die
Züge, hart der Ausdruck! Die konnte einem ja ordentlich Angst machen mit
ihrem finsteren Blick. Nur jetzt – jetzt leuchtete etwas darin auf:
aha, sie sah das Geldstück, das Paul aus seiner Börse genommen hatte!

Pfui, wie gierig jetzt der Blick wurde!

Die Beerensucherin streckte die Hand aus – da war ein großes, blankes
Silberstück – und als es ihr nun gereicht war, als sie’s hielt, atmete
sie tief; ihre braunen Finger schlossen sich fest darum.

»_Merci!_« Ein Lächeln huschte flüchtig über das unfreundliche Gesicht,
dessen Mundwinkel verdrossen hingen; die Stumpfheit des Ausdrucks
belebte sich für Augenblicke. Und dann – das unförmlich eingebündelte
Kind auf einem Arm, am andern den schweren Eimer – schickte sie sich
an, davonzutrotten.

Jetzt sah man erst, wie armselig ihr Rock war, er hatte Flicken in allen
Farben und Größen. In den Zöpfen, die, verfilzt und unordentlich unter
dem buntbetupften Kattuntuch vorhingen, hafteten dürre Heide und
Tannennadeln; sie ging in alten schwergenagelten Männerschuhen. Man
wußte nicht, war sie schon bejahrt oder noch jung; der starke Leib, die
schlaffen Brüste entstellten sie, aber daß ihr Gesicht einmal nicht
unschön gewesen sein mußte, das sah man noch. Das Kleine glich ihr.

»Ein hübsches Kind haben Sie,« sagte Schlieben. Seiner Frau zuliebe fing
er noch einmal die Unterhaltung mit der Unzugänglichen an. »Wie alt ist
der Knabe?«

Die Beerensucherin schüttelte den Kopf und sah teilnahmlos am Frager
vorbei. Mit der war wirklich nichts anzufangen, die war ja entsetzlich
stupide! Schon wollte Schlieben sie endgültig gehen lassen, aber Käte
drängte sich an seinen Arm und raunte ihm zu: »Frage sie, wo sie wohnt!
Wo sie wohnt – hörst du?!«

»He, wo wohnen Sie denn, gute Frau?«

Sie schüttelte wieder stumm den Kopf.

»Ich meine, wo sind Sie her? Aus welchem Dorf?«

»_Je ne co’pré nay_,«[2] sagte sie kurz. Aber dann, zugänglicher werdend
– vielleicht daß sie noch ein zweites Almosen erhoffte – hub sie in
weinerlich klagendem Ton an: »_Ne n’ava nay de pan et tat d’s
e’fa’ts!_«[3]

[2] _Je ne comprends pas._

[3] _Nous n’avons pas de pain et tant des enfants._

»Sie sind wohl Wallonin?«

»_Ay[4] – Longfaye!_« Und sie hob den Arm und zeigte in eine Richtung,
in der man nichts sah als Himmel und Venn.

[4] Ja.

Longfaye war ein sehr armes Venndorf; Schlieben wußte das und wollte
noch einmal in die Tasche greifen, aber er fühlte sich von Käte
zurückgehalten: »Nein, der da nicht – der Frau nicht – du mußt es dem
Gemeindevorsteher übergeben, für das Kind, für das arme Kind!«

Sie tuschelte sehr leise und aufgeregt schnell.

Das Weib konnte unmöglich etwas verstanden haben, aber der Blick der
schwarzen Augen flog blitzschnell von dem Herrn zu der Dame und blieb
voll Mißtrauen auf der feinen Städterin haften: wenn die ihr doch nichts
geben wollte, was sollte sie sich dann noch länger ausfragen lassen; was
wollte die von ihr?! Mit einem kaum merklichen Kopfnicken und einem
knapp herausgestoßenen »Adieu« wandte sich die Wallonin ab. Gelassenen
aber weitausholenden Schritts entfernte sie sich übers Venn; rasch kam
sie vorwärts, ihre Gestalt wurde kleiner und kleiner, die Mißfarbe ihres
ärmlichen Rocks war bald nicht mehr kenntlich im farblosen Venn.

Die Sonne war verschwunden mit dem Kind; plötzlich war alles grau.

Regungslos stand Käte und sah in die Richtung von Longfaye. Sie stand,
bis ein Frösteln sie zusammenschauern ließ, und hing sich dann schwer an
den Arm ihres Mannes; als sei sie auf einmal müde geworden, so ging sie
stumm mit schleppenden Füßen der Baraque zu. –

Nebel begann den hellen Mittag zu verschleiern. Feuchtkalte Luft, die
empfindlicher näßt als Regen, machte die Kleider klamm. In dichten
Schwärmen flogen die Stechfliegen der Sümpfe zu Tür und Fenstern der
Baraque herein; drinnen brannte ein schwelendes Torffeuer, mit dürren
Tannenreisern zu lodernderer Glut entfacht, und die Fliegen klebten sich
an Herdwand und Decke – nein, sie wollten noch nicht sterben!

Der Herbst war da, Sonne und Wärme dem Venn entschwunden, jetzt tat man
gut daran, zu fliehen.

Aber draußen, ganz in der Öde, überm höchsten Punkt des Venns, kreiste
ein einsamer Bussard und stieß seinen durchdringenden, sieghaften
Wildlingsschrei aus; dem war wohl hier, im Sommer wie im Winter, der
wollte nicht fort von hier.




3


Der Gemeindevorsteher des kleinen Venndorfs war einigermaßen verwundert
und verlegen, als so feine Herrschaften bei ihm vorfuhren und ihn zu
sprechen wünschten. Durch die Jauche seines Hofes, die ihm bis an die
Kniee spritzte, ging er ihnen entgegen. Er wußte nicht, wo er sie
hineinführen sollte, denn drinnen waren die Ferkel und das Kälbchen, und
die alte Sau wälzte sich vor der Tür.

So gingen sie mit ihm auf der stillen Dorfstraße, von der die wenigen
Gehöfte noch abseits liegen, auf und ab, während der Wagen langsam in
tief ausgefahrenen Geleisen hinter ihnen dreinholperte.

Käte war blaß, ihren Augen sah man’s an, daß sie wenig Schlaf gefunden
hatten. Jedoch sie lächelte, und eine erwartungsvoll-freudige Spannung
war in ihren Zügen, sprach aus ihrem Schritt; immer war sie den andern
ein wenig vorauf.

Schliebens Gesicht war sehr ernst. War es nicht eine große
Unbedachtsamkeit, eine grenzenlose Übereilung, die er jetzt beging,
seiner Frau zuliebe?! Wenn es nun nicht zum Guten ausschlug?!

Es war eine böse Nacht gewesen. Seltsam stumm und wie geistesabwesend
hatte er gestern Käte von der Baraque nach Hause gebracht, sie hatte
nichts gegessen, und, große Ermüdung vorgebend, sich früh zur Ruhe
gelegt. Aber als er, ein paar Stunden später, sein Lager aufsuchte, fand
er sie noch nicht eingeschlafen. Sie saß aufrecht im Bett, ihr schönes
Haar, das sie zur Nacht in zwei Zöpfe flocht, hing ihr lang herunter und
gab ihr so das Aussehen einer ganz jungen Frau. Aus verstörten Augen sah
sie ihn seltsam verlangend an, und dann schlang sie beide Arme um seinen
Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter.

Sie war so eigentümlich gewesen, so weich und doch so heftig, er hatte
sie besorgt gefragt, ob ihr etwas fehle, aber sie hatte nur den Kopf
geschüttelt und ihn in stummer Liebkosung fest umfaßt.

Er glaubte sie endlich eingeschlafen – sie schlief auch, aber nur ganz
kurze Zeit – da war sie mit lautem Schrei schon wieder erwacht: sie
hatte geträumt, so lebhaft geträumt – o, wenn er wüßte, was sie
geträumt hatte! Geträumt – geträumt –! Sie seufzte und warf sich und
lachte dann leise in sich hinein.

Er merkte wohl, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, was sie ihm gern
sagen wollte, und was sie sich doch nichts recht zu sagen traute. So
fragte er sie.

Da hatte sie es ihm denn gestanden, stockend, schüchtern und doch mit
einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erschreckte: es war das Kind, an das
sie immerfort dachte, immerfort denken mußte – ach, wenn sie das hätte!
Das wollte sie haben, mußte sie haben! Die Frau hatte ja noch so viele
Kinder, und sie – sie hatte keins! Und sie würde doch so glücklich mit
ihm sein, ja, unsäglich glücklich!

Im Dunkel der Nacht, durch kein Wort von ihm unterbrochen, durch keine
Bewegung – er hatte ganz still gelegen, fast wie gelähmt von der
Überraschung, die doch nicht ganz eine Überraschung mehr war – hatte
sie sich immer mehr gesteigert: was war ihr ganzes Leben? Eine
immerwährende Sehnsucht! Alles, was er ihr an Liebe tat, konnte ihr doch
das eine nicht ersetzen: ein Kind, ein Kind!

»Lieber, guter Mann, schlag’s mir nicht ab! Mach mich glücklich! So froh
wird keine andre Mutter auf Erden sein – geliebter Mann, gib mir das
Kind!« Ihre Tränen flossen, ihre Arme umklammerten ihn, ihre Küsse
überschauerten sein Gesicht.

»Aber warum gerade =dieses= Kind?! Und so schnell entschlossen – das
ist doch keine Kleinigkeit – man muß sich das erst sehr reiflich
überlegen!«

Er hatte Einwendungen gemacht, Ausflüchte, aber sie hatte für alles
schlagfertige Antworten bereit: was noch lange überlegen? Man würde doch
zu keinem andern Resultat kommen! Und wie er nur denken konnte, daß die
Frau das Kind vielleicht nicht geben würde? Wenn sie’s nicht liebte, gab
sie’s gern, und wenn sie es liebte, würde sie es erst recht gern geben
und Gott danken, es so gut versorgt zu wissen.

»Aber der Vater, der Vater, wer weiß, ob der damit einverstanden
ist?!«

»Ach, der Vater! Wenn die Mutter es gibt, der Vater sicherlich! Ein
Brotesser weniger ist bei so armen Leuten immer ein Glück. Das arme
Kind, es wird vielleicht sterben aus Mangel an Nahrung, während es bei
uns so gut« – sie unterbrach sich – »ist es nicht wie eine Fügung, daß
gerade wir ins Venn kommen, gerade wir es finden mußten?«

Er fühlte, daß sie ihn beredete, und er sträubte sich innerlich dagegen:
nein, wenn sie sich denn schon von ihrem Gefühl so fortreißen ließ –
sie war eben eine Frau –, so mußte er doch, als Mann, den Verstand über
das Gefühl setzen!

Und er hatte ihr alle Bedenken aufgezählt, wieder und wieder, und als
Letztes ihr gesagt: »Du ahnst gar nicht, in welchen Zwiespalt du dich
selber bringst! Wenn nun die Neigung, die du für das Kind zu empfinden
glaubst, nicht standhält?! Wenn es sich dir nicht sympathisch
entwickelt?! Bedenke, es ist und bleibt immer das angenommene Kind!«

Aber da war sie fast zornig aufgefahren: »Wie kannst du so etwas sagen?!
Glaubst du, ich bin engherzig?! Eigen geboren oder angenommen, das ist
ganz gleich, denn es wird mir angeboren durch die Erziehung. Ich werde
es mir erziehen. Das ›Ausdemselbenblutesein‹ macht’s doch nicht! Bloß
weil ich’s geboren habe, darum soll ich ein Kind lieben?! O nein! Ich
liebe das Kind, weil – weil – nun, weil es so ganz auf mich angewiesen
ist, weil es so klein ist, so unschuldig, weil es unendlich süß sein
muß, wenn so ein hilfloses Geschöpfchen die Armchen nach einem
ausstreckt!« Und sie breitete die Arme aus und schloß sie dann an ihre
Brust, als hielte sie so schon ein Kind am Herzen. »Du bist ein Mann, du
verstehst das eben nicht. Aber du willst mich doch so gerne glücklich
machen – mach mich jetzt glücklich! Lieber, geliebter Mann, du wirst ja
so rasch vergessen, daß er nicht unser Eigengeborener ist, es bald gar
nicht anders mehr wissen. ›Vater, Mutter‹ wird er zu uns sagen – und
wir werden Vater und Mutter sein!«

Wenn sie recht hätte! Von einer seltsamen Empfindung durchrieselt,
schwieg er. Und warum sollte sie nicht recht haben?! Ein Kind, daß man
vom ersten Lebensjahre an ganz auf =seine= Weise erzieht, das man
vollständig auslöst aus den Verhältnissen, in denen es geboren worden
ist, das nicht anders weiß, als daß es seiner jetzigen Eltern Kind ist,
das da denken lernt mit ihrem Denken und fühlen mit ihrem Fühlen, das
kann nichts Fremdes mehr haben. Das wird ein Teil des ureigensten Ichs,
wird einem so lieb, so teuer, als hätte man’s selber gezeugt!

Vor des Mannes Herzen stiegen Bilder auf, deren Anblick er nicht mehr
erhofft, nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er sah sein lächelndes Weib,
auf dessen Schoß ein lächelndes Kind; er sah sich selber lächeln und
fühlte einen nie gekannten Stolz bei dem kindlich-zärtlichen Lallen:
›Va–ter!‹ Ja, Käte hatte schon recht, alles, was man sonst Glück nennt,
ist nichts gegen dieses Glück. Nur ein Vater, eine Mutter wissen, was
Freude ist!

Er küßte seine Käte, und dieser Kuß war schon halbe Zustimmung, das
hatte sie gefühlt.

»Laß uns morgen hinfahren, morgen, gleich früh!« bat sie, unterdrückten
Jubel im Ton.

Er bemühte sich, gelassen zu bleiben: nein, erst mußte man die Sache,
nach eigner, reiflicher Überlegung, in Berlin mit dem Anwalt und auch
mit sonstigen Vertrauensleuten besprechen!

Darüber geriet sie außer sich; halb schmollte sie, halb lachte sie ihn
aus: war denn dies hier eine Geschäftssache? Was ging den Anwalt und
andere Leute ihre tiefste, persönlichste Herzenssache an?! Niemand war
darum zu befragen, niemand sollte sich da hineinmischen! Kein Mensch
durfte ahnen, woher das Kindchen kam, von wem es abstammte! Sie, sie
beide waren seine Eltern, sie kamen für es auf, sie waren sein Anfang
und die Bürgen für seine Zukunft – ihr Werk, ganz ihr Werk war dieses
Kind!

»Morgen holen wir es gleich! Je eher es aus dem Schmutz und der
Verkommenheit herauskommt, desto besser – nicht wahr, Paul?« Sie ließ
ihn gar nicht mehr zu Worte kommen, sie überschüttete ihn in sprudelnder
Lebendigkeit mit Plänen und Vorschlägen; und ihr Überschwang schwemmte
seine Bedenken mit fort.

Man kann auch zu bedenklich sein, zu übertrieben vorsichtig und sich so
jede Lebensfreude verbittern, das sagte er sich. Was taten sie denn
Außergewöhnliches? Sie hoben nur etwas auf, was ihnen vor die Füße
gelegt worden war; sie gehorchten so einem Wink des Schicksals. Und da
waren wirklich auch gar keine Schwierigkeiten. Wenn sie’s selber nicht
verrieten, würde niemand die Herkunft des Kindes erfahren, und hier
wiederum würde nicht groß Nachfrage nach dessen Verbleib sein. Es war
ein namen-, ein heimatloses Etwas, das sie an sich nahmen und aus dem
sie machten, was sie daraus machen wollten. Später, wenn man das Alter
dazu hatte, adoptierte man dann den Kleinen in aller Form und legte so
auch in Akten fest, was man im Herzen längst getan hatte. Jetzt galt es
nur noch, den Gemeindevorsteher von Longfaye aufzusuchen und mit seiner
Unterstützung die Abtretung seitens der Eltern zu erlangen!

Als Schlieben zu einem Entschluß gekommen war, plagte ihn gleiche Unruhe
wie seine Frau. Diese stöhnte: wenn es doch erst morgen wäre! Wenn ihr
nun jemand zuvorkäme, wenn das Kind nicht mehr da wäre morgen?! Sie warf
sich rastlos hin und her in Ungeduld und Bangigkeit. Aber auch Schlieben
wälzte sich schlaflos von einer Seite zur andern. Ob das Kind auch
gesund war?! Einen Augenblick überlegte er besorgt, ob es nicht geraten
sei, den Badearzt von Spaa ins Vertrauen zu ziehen – der könnte
mitfahren und den Kleinen vorerst untersuchen – aber dann verwarf er
diesen Gedanken wieder: das Kind sah ja so kräftig aus! Er rief sich die
derben Fäustchen zurück, den klaren Blick der blanken Augen – auf
nacktem Boden, bei Kälte und Wind, ohne Schutz hatte es gelegen – es
mußte eine Kernnatur haben. Darüber konnte man ruhig sein. –

Es war noch sehr früh am Morgen gewesen, als das Ehepaar sich aufgerafft
hatte – müde, wie zerschlagen an allen Gliedern – aber von einer Art
fröhlicher Entschlossenheit getrieben.

Käte lief im Hotelzimmer hin und her, so geschäftig, so freudig erregt
wie jemand, der einen lieben Gast erwartet. Sie war so sicher, daß sie
das Kind gleich mit herbringen würden. Jedenfalls wollte sie anfangen,
die Koffer zu packen, denn wenn man das Kind hatte, dann nur nach Hause,
so schnell als möglich nach Hause! »Das Hotel ist nichts für solch einen
kleinen Liebling. Der mußte sein Kinderzimmer haben, einen freundlichen
Raum mit geblümten Gardinen – nur dunkle nebenbei zum Vorziehen, um das
Licht beim Schlafen zu dämpfen – sonst alles hell, leicht, luftig. Und
eine Babykommode muß darin stehen mit den vielen Fläschchen und
Näpfchen, und sein Badewännchen, sein Bettchen mit den weißen
Mullvorhängen, hinter denen man ihn liegen sehen kann mit roten
Bäckchen, die Fäustchen am Kopf, und fest schlummern!«

Sie war so jugendlich, so liebenswürdig in ihrer erwartungsvollen
Freude, daß sie ihren Mann entzückte. Schien nicht der Sonnenschein, auf
den er so lange vergeblich geharrt hatte, jetzt kommen zu wollen?! Er
ging schon dem Kinde vorher, fiel heiter verklärend auf dessen Weg.
–

Die Eheleute waren beide bewegt, als sie gen Longfaye fuhren. Einen
bequemen Landauer mit schließbarem Verdeck hatten sie heute genommen
statt des leichten Zweisitzers, in dem sie sonst ihre Touren zu machen
pflegten. Es könnte auf dem Rückweg zu kalt für den Kleinen werden!
Decken und Mäntel und Tücher waren eingepackt, eine ganze Auswahl.

Schlieben hatte sich mit seinen Papieren versehen; man würde wohl kaum
einen Ausweis von ihm verlangen, aber der Sicherheit halber, um einer
etwa dadurch entstehenden Verzögerung vorzubeugen, steckte er sie ein.
Man hatte ihm den Gemeindevorsteher von Longfaye als einen ganz
verständigen Mann genannt, so würde sich denn alles glatt abwickeln.

Wie die Ebereschen zu seiten der Straße unter der herbstlichen Last
roter Beeren ihre Kronen senkten, so senkten sich auch die Häupter der
beiden Menschen unter einer Flut von hoffnungsvollen Gedanken. Rasch
flogen die Bäumchen am rollenden Wagen vorbei, rasch alle Etappen des
Lebens am bewegten Gemüt. Fünfzehn Ehejahre – lange Jahre, wenn man
wartet – erst mit Zuversicht, dann mit Geduld, dann mit Zaghaftigkeit,
dann mit Sehnsucht – mit Sehnsucht, die von Jahr zu Jahr heimlicher
wird, und in der Heimlichkeit immer brennender! Nun war die Erfüllung
nah, freilich anders, als liebende Gatten sie sich ausmalen; aber doch
eine Erfüllung.

Unabweislich kam der Frau das alte Bibelwort in den Sinn: ›Und als die
Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn‹ – o, dieses Kind aus der
Fremde, aus dem Unbekannten, aus dem Lande, das nicht Acker noch Früchte
hat und nicht gesegnet ist mit reichen Ernten, dieses Kind war eine Gabe
des Himmels, ein Geschenk seiner Güte! Sie beugte ihr Haupt wie
gesegnet, des Dankes voll.

Und der Mann drückte leise die Hand seiner Frau, und sie erwiderte den
Druck. Hand in Hand blieben sie sitzen. Sein Blick suchte den ihren, und
sie errötete. Jetzt liebte sie ihn wieder wie im ersten Jahr ihrer
jungen Ehe – nein, jetzt liebte sie ihn noch um vieles mehr, denn
jetzt, jetzt schenkte er ihr das Glück ihres Lebens: das Kind!

Selig schweifte ihr Blick übers arme Vennland, das braun und öde schien
und doch ein Märchenland war voll der herrlichsten Wunder.

»Hab ich’s nicht gewußt?!« murmelte sie triumphierend und doch
zusammenschauernd in einer fast abergläubischen Regung. »Ich hab’s
gefühlt – hier – hier!«

Sie konnte es kaum erwarten, bis sie das Venndorf erreichten. Ach, wie
lag das abseits aller Welt, so ganz vergessen! Und so arm! Aber die
Armut schreckte sie nicht und die aus der Armut entspringende
Unsauberkeit auch nicht; sie nahm ihn ja jetzt mit fort von hier,
brachte ihn in Kultur und Wohlleben, und daß er einmal auf nacktem Boden
gelegen hatte statt in weichem Bettchen, das würde er nun und nimmer
ahnen. Sie dachte an Moses: wie der gefunden worden war im Schilf des
Nils, so hatte sie ihn gefunden im Gras des Venns – ob er ein großer
Mann würde wie jener?! Wünsche, Gebete, Hoffnungen und hundert Gefühle,
die sie früher nicht gekannt hatte, bewegten ihr Herz. –

Schlieben hatte Mühe, sich dem Gemeindevorsteher verständlich zu machen.
Nicht daß der Mann ein Wallone gewesen wäre, der schlecht Deutsch
verstand – Niklas Rocherath aus dem Haus ›Zur guten Hoffnung‹, so
genannt, weil man’s, als das ansehnlichste des Dorfes, weit vom Venn her
erblicken konnte, war gut deutsch – aber er begriff den Herrn nicht.

Was wollte der mit dem Jean-Pierre von der Lisa Solheid? Annehmen an
Kindes Statt?! Ganz verdutzt sah er drein, und dann war er beleidigt:
nein, wenn er auch ein simpler Bauer war, zum Narren halten ließ er sich
von dem Herrn drum doch nicht!

Erst allmählich gelang es Schlieben, ihn von der Ernsthaftigkeit seiner
Absicht zu überzeugen. Aber immer noch rieb der Alte bedenklich das
stopplige Kinn und sah mißtrauisch auf die, die so hergeschneit kamen in
seine Einsamkeit. Erst als Käte, von der langen Auseinandersetzung
ermüdet und gequält, ihn ungeduldig beim Arm ergriff und ihm, fast
gereizt und mit Heftigkeit, ins Gesicht schrie: »So begreifen Sie doch!
Wir haben kein Kind, wir wollen aber ein Kind – begreifen Sie’s nun?!«
– da begriff er.

Kein Kind – o weh! Kein Kind – da weiß man ja gar nicht, für was man
lebt! Nun nickte er verständnisvoll; und mitleidig auf die Frau
blickend, die so reich war, so fein angetan und doch keine Kinder hatte,
zeigte er sich viel zugänglicher. Also der Jean-Pierre von der Lisa
Solheid hatte ihnen so gut gefallen, daß sie sich den mitnehmen wollten
bis nach Berlin? Was der Jung für ein Glück hatte! Die Lisa würde es gar
nicht glauben wollen. Zu gönnen war der’s freilich, so arm wie die war
keiner hier, die wußte manchen Tag nicht, wie sie sich und ihre fünf
satt machen sollte. Früher, als ihr Mann noch lebte –

Was, der Mann lebte nicht mehr?! Sie war Witwe?! Wie befreit aufatmend
unterbrach Schlieben den Gemeindevorsteher. Er hatte, wenn er auch nicht
darüber gesprochen hatte, vor dem Vater beständig eine geheime Furcht
gehabt: wenn der nun ein Schnapstrinker wäre oder sonst ein Tunichtgut?!
Nun fiel ihm eine Last von der Seele – der war tot, der konnte nicht
mehr schaden! Oder war er am Ende an einer Krankheit gestorben, an einem
zehrenden Leiden, das sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt?!
Schlieben hatte sagen hören, daß die Nebel des Venns und seine
plötzlichen Temperaturwechsel leicht der Lunge und dem Hals verderblich
werden – dazu schwere Arbeit und schlechte Ernährung – der junge Mann
war doch nicht etwa gar an der Schwindsucht gestorben?! Ängstlich
forschte er.

Aber Niklas Rocherath lachte: nein, von einer Krankheit hatte der Michel
Solheid zeitlebens nichts gewußt und war auch an keiner gestorben. Zu
Verviers hatte er gearbeitet, in der Maschinenfabrik, schwarz berußt und
nackt bis zum Gürtel; dem waren Kälte und Hitze ganz einerlei gewesen.
Und alle Samstag war er herübergekommen von Verviers und war den Sonntag
bei seiner Familie geblieben. Und es war Samstag vor Peter und Paul
gewesen, jetzt etwas über ein Jahr her, da hatte der Michel von dem, was
er in Überstunden verdient hatte, seiner Frau eine Speckseite gekauft
und ein oder zwei Pfund Kaffee, denn –

»Ihr müßt wissen, Hähr, dat is hier viel zu teuer für uns un über der
Jrenz viel billiger,« sagte der alte Mann bekümmert, hob dann langsam
die Faust und drohte hinüber zum Venn, das ruhig und weltfern dalag. »Da
waren se ihm aber bald auf den Fersen. Von der Baraque an waren sie als
hinter ihm drein – die verdammte Cammise![5] Ihrer drei, vier. Nu müßt
Ihr wissen, dat de Michel laufen konnt wie nur einer. Wenn de seinen
Pack hinter den Busch geschmissen hätt und hätt sich am laufen gehalten,
den hätten se mein Lebtag nich jekriegt. Aber ne, dat wollt he nich, da
hätt he sich doch für sich selber jeschämt. Um sich nu nich zu verraten,
wohin he eijentlich jing, rannt he statt nach rechts nach links ab durch
’t Wallonische Venn, der Hill nach. Durch Elefay un Neckel,[6] so immer
die Kreuz un die Quer, un kam nu so janz aus der Jejend heraus, wo he
Bescheid wußt wie in seiner Tasch. Ober dem Pannensterz waren se ihm
dicht auf den Hacken. Un se waren hinter ihm am Schreien: ›Steh!‹

[5] Grenzjäger.

[6] Walddistrikte im hohen Venn.

»Seht Ihr, Hähr, wär he nu in die Jroße Haard jelaufen un hätt sich da
im Dickicht verborjen, so hätten se ihn ohne Hund nie jefunden. Aber nu
war he verwirrt un rannt aus dem Busch eraus, blank über et Venn.

»›Halt!‹ – ›Steh!‹ – un zum dritten Mal: ›Halt!‹ Aber er sprung wie
’ne Hirsch. Da drückt einer los un  – Jesus Christus erbarme dich,
jetzt und in der Stunde unsers Todes!« – der Gemeindevorsteher
schlug andächtig ein Kreuz und wischte sich dann mit dem Handrücken
unter der schnüffelnden Nase her – »de Schuß fuhr durch die Speckseit
in den Buckel, hinten erein, vorn eraus. Da schlug de Solheid den
Kuckeleboom.[7] En Schand war et: um en Speckseit, so ’ne staatse
Kerl!

[7] Purzelbaum.

»He hat noch en starke Stund jelebt. He sagt noch, dat he de Solheid aus
Longfaye wär und dat se sein Frau holen sollten.

»Ich war den Tag jrad am Heckenscheren, da kam einer jerannt. Un ich
macht mich auf mit der Lisa, die war damals im sechsten Monat met ’m
Jean-Pierre. Aber als mir hinkamen, war et schon zu spät.

»Se hatten ihn liejen, nich weit vom jroßen Kreuz. Se hatten ihn tragen
wollen bis Ruitzhof in en Haus, aber he saat: ›Laßt mich – hier will
ich himmelen!‹[8] Un hatt in de Sonn jekuckt.

[8] sterben.

»Hähr, die stand am Himmel so jroß un rot de Tag – so jroß – wie se
einst wird stehen am Tage des Jerichts! Hähr, he war janz in Schweiß un
Blut – Stunden waren se mit ihm jejagt – aber an der Sonn hatt he noch
sein Freud!

»Hähr, de Kerl, de ihn jeschossen hatt, de war janz drauß, de hielt ihn
im Schoß un war am weinen. Hähr, ne,« – der Gemeindevorsteher
schüttelte sich, und man merkte seiner Gebärde den Abscheu an – »ich
möcht kein Cammis sein!«

Die Stimme des alten Mannes war tiefer und rauher geworden – es war
das Zeichen seiner Anteilnahme – nun bekam sie wieder ihren früheren
gleichmäßigen Klang: »Wenn et Euch paßt, Madame, wollen mir jetzt
jehen!«

»O, das Kind, das arme Kind,« flüsterte Käte erschüttert.

»Glauben Sie denn, daß die Witwe sich von diesem Jüngsten trennen wird?«
fragte Schlieben, von einer plötzlichen Befürchtung erfaßt. Dieses nach
dem Tode des Vaters geborene Kind – war es möglich?!

»O –!« Der Alte wiegte den Kopf und schmunzelte. »Wenn Ihr wat
Ordentliches dafür jebt! Sie hat ’er ja noch jenug!«

Jetzt war Nikolas Rocherath wieder ganz Bauer; das war nicht derselbe
Mann mehr, der von der Sonne des Venns und dem Tode des Solheid
gesprochen hatte. Nun galt es, so viel als möglich herauszuschlagen,
einen Fremden, der noch dazu ein Städter war, ordentlich übers Ohr zu
hauen!

»Hundert Taler wären nich übertrieben jefordert,« sagte er und blinzelte
dabei von der Seite nach dem ernsten Gesicht des Herrn – mußte der ein
Geld haben, der verzog ja nicht eine Miene!

Vom Viehhandel her war der alte Bauer seit Lebzeiten das Feilschen
gewöhnt, nun blickte er, von scheuer Bewunderung für solch einen
Reichtum erfüllt, auf den Fremden. Bereitwillig führte er nach der Hütte
der Solheid. –




4


Die Hütte der Solheid lag, wie alle Häuser des Dorfes, ganz für sich
allein hinter einer giebelhohen Hecke. Aber die Hecke, die da schützen
sollte gegen die Stürme des Venns und das wilde Schneetreiben, war nicht
mehr dicht; man sah’s, hier fehlte die sorgende Männerhand. Die
Hainbuchen waren regellos in die Höhe geschossen; abgestorbene Zweige,
die der Vennwind peitschte, reckten sich wie klagende Finger in die
Luft.

Hu, hier mußte es eisig kalt sein im Winter! Unwillkürlich zog Käte den
weichen, seidengefütterten Tuchmantel fester um sich. Und doppelt dunkel
mußte es hier sein in dunklen Tagen! Die winzigen Fensterchen waren
durch die Schutzhecke lichtlos gemacht, und tief hing das Dach über den
Eingang. Ohne Stufen, gleich von der ebenen Erde ging’s hinein.

Der Gemeindevorsteher rappelte am ›Jadder‹, der einstmals grün
gestrichenen, jetzt farblos gewordenen Haustür mit dem eisernen Klopfer.
Der Klopfer dröhnte durchs Haus, aber die Tür gab dem Druck nicht nach.
Ei, die Solheid war wohl in den Beeren und die Kinder mit ihr! Man hörte
drinnen im verschlossenen Hüttenraum nur das hungrige Schreien des
Jüngsten.

Das arme Kind – o, sie hatte es wieder allein gelassen! Käte zitterte
vor Erregung, wie Hilferuf erklang ihr das Geschrei.

Gelassen setzte sich der Gemeindevorsteher auf den Hauklotz vor der Tür
und zog seine Pfeife aus der Tasche des faltigen blauen Leinenkittels,
den er, der Herrschaft zu Ehren, rasch über das Arbeitswams gezogen
hatte. Jetzt hieß es warten.

Enttäuscht sah sich das Ehepaar an – warten?! Käte hatte den Sitz
ausgeschlagen, den ihr der Alte mit einer gerissen Galanterie auf dem
Hauklotz angeboten; sie hatte keine Ruhe, rastlos schritt sie vor dem
Fensterchen auf und ab und mühte sich vergebens, durch die blinde
Scheibe hineinzuspähen.

Immer ungebärdiger schrie drinnen das Kind. Der alte Rocherath lachte:
das war mal ein Brüllen, der Jean-Pierre hatte ’n kräftige Lung!

Käte konnte das Schreien nicht mehr mit anhören, es machte ihr
körperliche und seelische Qual. Ach, wie es ihr in den Ohren gellte! Sie
preßte die Hände dagegen. Und ihr Herz zitterte vor Mitleid und
Empörung: wie konnte die Mutter so lange ausbleiben?!

Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn; mit brennenden, ungeduldigen
Augen starrte sie hinaus aufs Venn, auf den nackten, baumlosen, sich
endlos hinschlängelnden Pfad. Da sah sie endlich Gestalten – endlich!
– und doch blieb ihr auf einmal der Atem stehen, ihr Herz setzte den
Schlag aus, um dann plötzlich, wie toll, ungestüm drauf loszuhämmern: da
kam die Mutter!

Lisa Solheid trug eine Reisigwelle auf dem Rücken, um die Schultern mit
einem Strick festgeschnürt. Die Last war so schwer, daß sie das Weib
ganz vornüber drückte und ihm den Kopf tief duckte. Drei Kinder – die
kleinen Füße in plumpen Nagelschuhen – trappten vor der Mutter her,
während ein viertes an ihrem Rock hing. Das hatte auch schon
Preißelbeeren gesucht, seine Händchen waren rot gefärbt wie die Hände
der größeren Geschwister, die Eimer, Maß und Kamm schleppten.

Hübsche Kinder, alle vier! Sie hatten dieselben dunklen Augen wie der
kleine Jean-Pierre, mit denen starrten sie halb dreist, halb scheu die
fremde Dame an, die ihnen zulächelte.

Die Solheid erkannte die Herrschaften nicht, die ihr gestern auf dem
Venn eine Gabe gereicht hatten – oder tat sie nur so?

Der Strick, der die Welle zusammenhielt, hatte ihr tief in Schultern und
Brust eingeschnitten, jetzt löste sie ihn und schleuderte mit
kraftvollem Ruck die Bürde ab; und jetzt griff sie nach der Axt, die
neben dem Hauklotz lag, und begann, als sei niemand zugegen, mit
mächtigen Hieben ein paar starke Äste zu zerkleinern.

»Heela, Lisa,« sagte der Gemeindevorsteher, »wenn du jenug Holz jehauen
hast, für die Jrumbieren zu kochen, paß ens op!«

Sie sah flüchtig von ihrer Arbeit zu ihm auf. Die Fremden waren beide –
ohne Verabredung – ein wenig auf die Seite gegangen: mochte es der
Gemeindevorsteher ihr erst einmal sagen! Es war doch nicht so einfach,
wie sie sich’s gedacht hatten. Die war nicht leicht zugänglich!

Der Solheid verschlossenes Gesicht veränderte keinen Zug; stumm, mit
zusammengepreßten Lippen verrichtete sie ihre Arbeit weiter. Das Holz
barst unter ihren kraftvollen Hieben, die Stücke flogen um sie herum. Ob
sie überhaupt auf das hörte, was der Mann zu ihr sprach?!

Ja – die Beobachtenden wechselten einen raschen Blick – und jetzt
antwortete sie auch! Lebhafter, als man es bei ihrer verdrossenen Art
vermutet hätte.

Lisa Solheid hob den Arm und wies nach ihrer Hütte, darinnen der Kleine
noch immer unerhört schrie. Rauh klang ihre Rede, in einem schier
barbarischen Dialekt, man verstand nichts davon, nur ab und zu ein
französisches Wort. Auch der Gemeindevorsteher sprach wallonisch. Sie
wurden beide lebhaft, erhoben ihre Stimmen und redeten laut
gegeneinander an; fast klang es wie Zank.

Sie schienen nicht einig zu werden! Käte lauschte in verhaltner Angst.
Würde sie es geben? Würde er’s von ihr losbekommen?!

Heimlich zupfte sie ihren Mann. »Biete mehr, gib ihr doch mehr, hundert
Taler sind viel zu wenig!« Und dem Bauer da mußte er auch etwas
versprechen für seine Bemühung. Hundert, zweihundert, dreihundert,
hundert mal hundert waren nicht zu viel! Ach, wie das arme Kindchen
schrie! Es litt sie fast nicht mehr so tatenlos vor der Schwelle.

Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre – ein schönes Mädchen mit
wirren Haaren und drei jüngere Knaben – standen, den Finger im Mund,
die schmutzigen Näschen ungewischt, und rührten sich nicht vom Fleck.

Da fuhr die Mutter sie an: »Heela,« und sie stoben davon, eines fast
über das andre purzelnd. Aus der kleinen Höhlung unter der Schwelle
scharrten sie den Schlüssel vor, und die Größte stieß ihn ins rostige
Schloß und drehte ihn, auf den Zehen stehend, mit aller Kraft ihrer
beiden Händchen um.

Die Solheid wandte sich nun gegen die Fremden; ihre hagere braune Rechte
machte eine einladende Bewegung: »_Entrez!_«

Sie traten ein. Innen war’s so niedrig, daß Schlieben den Kopf bücken
mußte, um ihn nicht wider die Balkendecke zu stoßen, und so dunkel, daß
sie geraume Zeit brauchten, bis sie nur irgend etwas unterscheiden
konnten. Ärmlicher konnte es nirgendwo sein – alles in allem ein
einziger Raum. Der Herd war von rohen Steinen kunstlos gemauert, darüber
hing vom geschwärzten Balken an eiserner Kette der Kessel herab; offen
stieg der Qualm der langsam schwelenden Torfglut hinauf in den rußigen
Rauchfang. Ein paar irdene Teller im Schlüsselbrett – buntblumig aber
rissig – ein paar verbeulte Zinngefäße, ein Melkeimer, ein hölzerner
Bottich, eine lange Bank hinterm Tisch, auf dem Tisch ein halber Laib
Brot und ein Messer, wenige Kleider an Nägeln, in die Wand halb
hineingebaut das Ehebett, darin jetzt wohl die Witwe mit den Kindern
schlief, und davor die plumpe Holzwiege des kleinen Jean-Pierre – das
war alles.

Wirklich alles? Von einem Frösteln im dämmerkalten, kellerdumpfen Raum
geschüttelt, sah sich Käte um. O, wie trostlos arm! Da war kein Schmuck,
keine Zier! Doch, dort ein schreiend buntes Marienbildchen – ein roher
Farbendruck auf dünnem Papier – ein Weihwasserkesselchen aus weißem
Porzellan darunter – und dort, auf der andern Seite der Wand, dicht
beim Fenster, so daß das wenige Licht darauf fiel, ein Soldatenbild.
Unter Glas und Rahmen, in drei Abteilungen, dreimal derselbe
Infanterist. Links: das Gewehr geschultert, auf Posten vorm
schwarz-weißen Schilderhaus – rechts: marschbereit, Tornister und
Kochgeschirr aufgeschnallt, Brotbeutel und Feldflasche an der Seite,
Gewehr bei Fuß – in der Mitte: in Parademontur ein Gefreiter, die Hand
grüßend an den Helm gelegt.

Ah, das sollte wohl der Mann sein, Michel Solheid als Soldat?! Einen
scheuen Blick warf Käte auf das Bild – der da, der war ja erschossen
worden beim Schmuggeln auf dem Venn! Wie schrecklich! Sie hörte wieder
den Alten erzählen, sah den blutenden Mann im Heidekraut liegen, und das
Grausen des Abenteuerlichen rüttelte sie. Ihr Blick glitt wieder und
wieder hin zu dem Bilde, dem üblichen Soldatenbild, das in seiner
stereotypen Nichtigkeit so gar nichts sagte, und von da zu der Wiege des
kleinen Jean-Pierre: ob der viel vom Vater hatte?!

Schlieben hatte gewartet, daß seine Frau das Wort nehmen sollte – sie
würde ja am besten wissen, wie mit der andern zu reden sei – aber sie
schwieg. Und der Gemeindevorsteher sagte auch nichts; nun er die
Verhandlungen eingeleitet hatte, hielt er es für höflich, dem Herrn das
Wort zu lassen. Und die Solheid sprach auch nicht. Sie scheuchte nur mit
einer stummen Gebärde die Kinder, die sich mit Gier über das harte Brot
auf dem Tisch hermachen wollten. Dann stand sie still bei der Wiege;
ihre Rechte, die noch das Beil vom Holzspalten hielt, hing schlaff
herunter am armseligen Rock. Finster war ihr Gesicht, unnahbar, und doch
spiegelte sich ein Kampf darin.

Schlieben räusperte sich. Er hätte es lieber gehabt, wenn ein andrer für
ihn die Sache erledigt hätte, aber da dieser andre nicht da war, der
Gemeindevorsteher ihn nur erwartungsvoll anblickte, so sah er sich
gezwungen, zu sprechen. Mit einer Freundlichkeit, die wie Herablassung
erscheinen mochte und doch nur Verlegenheit war, sagte er: »Frau
Solheid, der Gemeindevorsteher wird Ihnen gesagt haben, was uns zu Ihnen
führt – verstehen Sie mich, gute Frau?«

Sie nickte.

»Wir haben die Absicht, Ihr jüngstes Kind an« – er stockte, sie hatte
eine Bewegung gemacht, als wolle sie verneinen – »an Kindes Statt
anzunehmen, _adopter_! Sie verstehen!«

Sie antwortete nicht; aber er fuhr fort, so rasch, als habe sie ›ja‹
gesagt: »Wir werden es halten, als wenn es unser eigenes wäre, es wird
es so gut haben, wie Sie es ihm natürlich nicht geben können, und wir
–«

»O, und wir werden es so lieb haben!« fiel Käte ihm ins Wort.

Das schwarze Weib drehte langsam den Kopf nach der Seite, wo die blonde
Frau stand. Es war ein seltsamer Blick, der die Fremde maß, die jetzt
näher zur Wiege herangekommen war. War’s ein prüfender Blick, ein
abwehrender, ein freundlicher oder unfreundlicher?!

Käte sah mit verlangenden Augen nach dem Kinde. Das weinte jetzt nicht
mehr, es lächelte jetzt sogar, und jetzt – jetzt reckte es die Ärmchen!
O, es war schon so klug, es sah sie an, merkte bereits, daß sie ihm gut
war! Es versuchte sich aufzurichten – ah, es wollte zu ihr, zu ihr!

Das Rot der Freude schoß ihr zu Kopf, schon streckte sie die Hände aus,
das Kleine aufzunehmen, da schob sich wie eine Wand die Mutter vor die
Wiege.

»_Neni_,«[9] sagte die Wallonin hart. Abwehrend hob sie die freie Linke.
Und dann machte sie das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn des Kindes,
und dann auch auf seine Brust.

[9] Nein.

Aber warum denn nicht, warum wollte sie es denn nun auf einmal nicht
geben?! Käte zitterte vor Schreck. Flehend suchte ihr Blick den ihres
Mannes: hilf du mir! Ich muß, ich muß das Kind haben!

Und Schlieben sagte jetzt, was er schon vorhin hatte sagen wollen, als
seine Frau ihm ins Wort gefallen war: »Wir stellen die Zukunft Ihres
Kindes sicher. Wissen Sie, was das heißt, gute Frau? Es wird nie Sorge
ums tägliche Brot haben – nie hungern müssen! Nie arbeiten müssen, um
sein Leben zu fristen – nur arbeiten aus Freude an der Arbeit!
Verstehen Sie?!«

Arbeiten – aus Freude an Arbeit?! Verständnislos schüttelte das Weib
den Kopf. Aber dann fiel ihm ein: nie hungern! – und ein Licht glomm in
seinem stumpfen Blick auf. Nie hungern – ei, das verstand die Witwe
wohl, und doch schüttelte sie wieder verneinend den Kopf: »_Neni!_«

Sie zeigte auf sich und die andern Kinder und dann mit einer umfassenden
Bewegung hinaus aufs große Venn: »_Nos avans tortos faim!_«[10] Sie
zuckte die Achseln mit dem Gleichmut der Gewöhnung, und es schien sogar,
als ob sie lächeln wollte; die Mundwinkel ihres verdrossenen Mundes
hoben sich ein wenig, ihre sonst herbgeschlossenen Lippen ließen die
kräftigen, gesunden Zähne sehen.

[10] _Nous avons faim tous._

Der Gemeindevorsteher mischte sich jetzt ein: »Lisa, wahrhaftiges Jotts,
dat is doch kein Pläsier, zu hungere! Sackerment, dat du so jeckelig
bis! De Jung, de kömmt ja aus der Höll in der Himmel. Wat ich dir schon
jesagt hab: die Herrschafte sin reich, sehr reich, un se sin jeck op dat
Kind, – rasch, jib et ihnen, du has ’r ja noch vier!«

Noch vier! Sie nickte nachdenklich, aber dann warf sie den Kopf in den
Nacken, und ein Blick – jetzt war er deutlich, es flackerte darin etwas
wie Haß – schoß zu der andern hinüber, die da stand so reich, so fein,
mit Ringen an den Fingern, und nach der ihr Jean-Pierre guckte.
»_Neni!_« Sie sagte es noch einmal und noch abweisender und noch
hartnäckiger denn zuvor.

Aber der Gemeindevorsteher war zäh, er kannte hier die Art. »Du wirs es
dir überlejen,« sprach er überredend. »Un wenn ich dir sage, daß se dir
reichlich jeben werden – nich wahr?« wandte er sich fragend an
Schlieben. »Habt Ihr nich jesagt, da es Euch nich ankömmt op ’n Stück
Jeld bei so ’ner armen Frau?!«

»Nein, gewiß nicht,« versicherte Schlieben. Und Käte war wieder
voreilig: »Es kommt uns gar nicht darauf an – von Herzen gern, was sie
verlangt – ach, das liebe Kind!«

»_Dju n’ vous nin_,«[11] murrte die Solheid.

[11] _Je ne veux pas._

»Du wills nich?! Ä wat!« Der alte Bauer lachte sie fast aus. »Du bis ja
wie mein Maiblum, wenn die nich stehn will un mit dem Hinterbein jegen
der Melkeimer haut! Stoß die Leut doch nit vor der Kopp! Wat haste dann,
wenn se nu fortjehn un sin des satt?! Jar nix! Dann haste ’r fünf, die
›Brot‹ schreien, un der Winter is für der Tür? Willste wieder so ’ne
Winter zubringen wie der vorige? Is dir der Jean-Pierre da nich bald
befrore? Die vier andern sin schon jrößer, die bringste besser durch.
Un du könnts dir en Kuh anschaffen – denk ens, en Kuh! Un du könnts
dir en besser Dach op et Haus setzen lassen, wat der Regen un der
Schnee nich durchläßt, un könnts auch Jrumbieren jenug han. Sicher en
jut Jeschäft, Lisa!«

Käte wollte noch etwas hinzufügen – ah, was wollte sie der Frau nicht
alles Gutes tun, wenn die ihr nur das Kind überließ! – aber ein
Räuspern des Alten und ein heimliches Zublinzeln seiner Augen mahnten
sie, stille zu sein.

»_Kubin m’è dinroz – ve?_«[12] fragte jetzt plötzlich die Solheid.

[12] _Combien me donnerez-vous donc?_

Sie hatte lange unschlüssig gestanden, den Kopf gesenkt, und es war ganz
still um sie gewesen. Die Fremden hatten sich nicht gerührt, der
Gemeindevorsteher nicht; kein Wind pfiff im Rauchfang, kein Feuer
knisterte. Auf allem lastete stumme Erwartung. Nun hob sie den Kopf, und
ihr düsterer Blick glitt wie musternd durch die armselige Stube, hin zu
dem kargen Brot auf dem Tisch und dann zu den hungrigen Vier. Das fünfte
sah sie nicht mehr an. Sie war erblaßt, das tiefe Sonnenbraun ihres
Gesichtes war ganz fahlgrau geworden.

»Wat er dir jeben will?! – Nu, wat wollt Ihr jeben?!« ermunterte der
Bauer. »Ich rechne, Ihr werd’t einsehen, dat zweihundert noch zu wenig
sin! Die Solheid hängt sehr an dem Kind, et is nich leicht, wenn se ’t
herjeben tut!« Er blinzelte von der Seite beobachtend nach Schlieben
und rief, wie man auf einer Auktion zu rufen pflegt: »Zweihundert,
zweihundertfünfzig, dreihundert! Wahrhaftije’s Jott’s, nich zu viel!
De Jean-Pierre is ene staatse Jung – seht ens, die Fäust! Un die
Braden![13] Ene höllische Jung! Nich wahr, Madame« – er sah das
Verlangen in Kätes Augen – »dreihundert Taler sin e so viel wie nichts
für den?«

[13] Lenden.

Käte hatte Tränen in den Augen und war sehr blaß. Die Luft in der Hütte
beengte sie, sie fühlte einen unendlichen Widerwillen – nur fort, rasch
fort von hier! Aber nicht ohne das Kind! »Vierhundert – fünfhundert«
stieß sie hervor, und ihr Blick suchte flehend ihren Mann, wie: mach ein
Ende, rasch!

»Fünfhundert, gern!« Schlieben zog seine Brieftasche hervor.

Der Bauer reckte den Hals, um besser sehen zu können, seine Blicke
wurden ganz starr: das hatte er noch nicht erlebt, daß einer so
bereitwillig zahlte! Auch die Kinder starrten mit großen Augen.

Die Solheid hatte einen flüchtigen Blick auf die Scheine geworfen, die
der Herr neben das Brot auf den Tisch breitete; aber das begehrliche
Licht, das in ihren Augen aufgeblitzt war, erlosch jäh wieder. »_Neni_,«
sagte sie mürrisch.

»Biet ihr noch wat mehr – mehr!« raunte der Alte.

Und Schlieben legte noch ein paar Scheine zu den übrigen auf den Tisch;
seine Finger bebten leicht dabei, die ganze Sache war ihm so unsäglich
widerlich. Er dachte ja gar nicht daran, zu feilschen; was sie haben
wollte, sollte sie haben, nur ein Ende gemacht!

Bei so viel Gleichmütigkeit hielt sich Nikolaus Rocherath nicht mehr –
so viel bar Geld auf dem Tisch, und das Weibsbild konnte sich noch
bedenken?! Er sprang auf sie zu und rüttelte sie an den Schultern:
»Biste stabeljeck? Sechshundert Taler bar op den Tisch, un du nimms se
nich?! Wer hierzuland kann sagen, dat he sechshundert Taler bar hat?!
Dat is e Stück Jeld, dat is en Stück Jeld!« Sein abgemergeltes Gesicht,
das von Jahren der Arbeit und von einem Leben in Wind und Wetter
unendlich hager geworden war, so scharf umrissen, wie aus hartem Holz
geschnitten, vibrierte in jeder Faser. Es zuckte ihm in den Fingern:
wie konnte sich da nur ein Mensch noch bedenken?!

Polternd entfiel das Holzbeil, das sie bis dahin noch immer festgehalten
hatte, der Hand der Solheid. Ohne den Kopf zu heben, ohne nach dem Tisch
hinzusehen und ohne nach der Wiege, sagte sie laut – aber es war kein
Klang in der Stimme –: »_Allons bon! Djhan-Pire est dà vosse!_«[14]

[14] _Eh bien! Jean-Pierre est à vous!_

Und sie wendete sich ab, ging schweren Trittes zum Herd und störte den
schwelenden Torf auf.

Welch eine Gleichgültigkeit! Wahrhaftig, dieses Weib war nicht wert,
eine Mutter zu sein! In Frau Kätes sanften Augen begann es zu funkeln.
Auch Schlieben war empört: nein, hier brauchte man sich kein Gewissen
daraus zu machen, das Kind fortzunehmen! Ein Ekel stieg ihm in die
Kehle.

Die Solheid tat, als ginge sie nun alles nichts mehr an. Sie hantierte
am Herd, während der Gemeindevorsteher, wiederholt die Daumen beleckend,
die Scheine zählte – jeden derselben von beiden Seiten besehend – und
sie dann sorgfältig in das Kuvert steckte, das ihm der Herr überließ.

»Da, Lisa, haste se, leg se in de Handpostill!«

Mit einer heftigen Bewegung riß sie sie ihm aus der Hand, und ihren
Oberrock hochhebend, versenkte sie sie in die Tasche eines armseligen
zerlumpten Unterrocks. –

Nun war noch das Letzte zu erledigen. Wenn auch Schlieben sicher war,
daß niemand hier mehr nach dem Kinde fragen würde, die Formalitäten
mußten doch erledigt werden. Seinen Bleistift von der Uhrkette
losnestelnd – denn wo sollte hier Tinte herkommen? – setzte er auf
einem Blatt des Notizbuchs den Abtretungsschein der Mutter auf. Der
Gemeindevorsteher als Zeuge unterschrieb. Nun setzte die Solheid noch
ihre drei Kreuze darunter; sie hatte einmal schreiben gelernt, es aber
wieder verlernt.

»So!« Mit einem Seufzer der Erleichterung erhob sich Schlieben von der
harten Bank, auf die er sich während des Schreibens gesetzt hatte. Gott
sei Dank, nun war alles erledigt, nun brauchte ihm der Gemeindevorsteher
nur noch Geburtsattest und Taufschein zu besorgen und zuzustellen! »Hier
– dies ist meine Adresse! Und hier – dies für etwaige Auslagen!« Er
drückte dem Alten verstohlen ein paar Goldstücke in die Hand, und dieser
schmunzelte, als er sie in seiner Hand fühlte.

Wie war’s, nun würden sie ja wohl gleich den Knaben mitnehmen?

In Käte, die bis dahin regungslos dagestanden hatte, mit weitgeöffneten
Augen die Mutter anstarrend, als könne sie nicht begreifen, was sie sah,
kam jetzt Leben. Natürlich würden sie das Kind gleich mitnehmen, nicht
eine Stunde länger ließ sie’s mehr hier! Und sie nahm es hastig aus der
Wiege, preßte es kosend in ihre Arme und hüllte es in ihren warmen,
weiten Mantel mit ein – es war ja nun ihr Kind, ihr so schwer
erkämpftes, tausend Gefahren entrissenes, innig geliebtes, süßes kleines
Kind!

Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre standen stumm dabei mit großen
Augen. Hatten sie’s verstanden, daß ihr Bruder nun ging, auf immer ging?
Nein, sie hatten es wohl nicht verstanden, sonst würden sie doch zeigen,
wie leid es ihnen tat. Ihre großen Blicke galten nur dem Brot dort auf
dem Tisch.

Schlieben fühlte lebhaftes Mitleid mit den Kleinen – die blieben nun
hier in ihrem Elend, ihrem Hunger, ihrer Verkommenheit! Er steckte jedem
der vier eine Gabe ins Händchen; keins der vier dankte, aber die kleinen
Finger schlossen sich fest um das Geldgeschenk.

Auch die Solheid dankte nicht. Als die fremde Frau ihren Jean-Pierre aus
der Wiege genommen – sie hatte das gesehen, ohne hinzublicken –, war
sie zusammengezuckt. Jetzt aber stand sie regungslos bei der leeren
Wiege, auf der Stelle, wo vorhin das Beil polternd ihrer Rechten
entfallen war, und sah stumm zu, wie Jean-Pierre in den weichen Mantel
gehüllt ward. Sie hatte ihm nichts mitzugeben.

Schlieben hatte, trotz aller Gleichgültigkeit der Mutter, zu guter Letzt
doch noch eine Szene befürchtet – es konnte ja nicht sein, daß sie so
fühllos blieb, wenn man ihr Jüngstes davontrug! – aber die Solheid
blieb ruhig. Unbeweglich stand sie, die Linke auf die Stelle ihres
Rockes gedrückt, wo sie die Tasche fühlte. Dieses Geld in der Tasche da
– Schlieben fühlte sich heftig erregt –, strafte das nicht alle
Tradition von Mutterliebe Lügen?! Und doch – diese war ja so verkommen
in der großen Armut, halb vertiert im harten Kampf ums tägliche Brot,
daß ihr selbst die Empfindung für das Eigengeborene darin untergegangen
war! O, welch andre Mutter würde Käte nun dem Kinde sein! Und zärtlich
besorgt schob er seine Frau, die den Kleinen auf dem Arme trug, dem
Ausgang zu.

Nur fort, hier war nicht gut sein!

Sie eilten. Aber auf der Schwelle wendete Käte noch einmal den Kopf.
Einen Blick mußte sie der doch noch schenken, der, die da hinten blieb,
so starr und stumm. Wenn die ihr auch unbegreiflich war, ein Blick des
Mitgefühls gehörte der doch noch!

Da – – – ein kurzer Schrei, aber laut, durchdringend, furchtbar in
seiner erschütternden Knappheit. Ein einziger, aus Qual und Haß
herausgepreßter unartikulierter Schrei.

Die Solheid hatte sich gebückt. Ihre Hand hatte das Holzbeil aufgerafft.
Sie holte aus wie zum Wurf – blitzend flog die scharfe Schneide am Kopf
der enteilenden Frau vorüber und blieb krachend im Türpfosten haften.




5


Wie auf der Flucht, so waren sie mit dem Kinde enteilt. Sie hatten es in
den Wagen gepackt – schnell, schnell! –, der Kutscher hatte auf die
Pferde gepeitscht, die Räder hatten sich knirschend gedreht. Wie ein
böser Traum, den man gern vergißt, so blieb das Venndorf, versunken, in
ihrem Rücken. Sie sahen nicht mehr nach ihm zurück.

Ein ödes Grau lag überm Venn. Die Sonne, die noch am Morgen geschienen
hatte, war so ganz verschwunden, als hätte sich hier nie ein Strählchen
von ihr gezeigt. Der plötzliche Vennebel war da und bezog alles. Wo
vordem noch eine Aussicht gewesen war, ein Auslug ins Weite, war jetzt
eine versperrende Mauer. Eine Mauer, nicht von Stein und nicht von Lehm,
und doch um vieles fester. Sie riß nicht, sie barst nicht, sie wankte
nicht, sie wich nicht dem Hammerschlag der kraftvollsten Faust. Mächtig
und undurchdringlich baute sie sich aus den Sümpfen und ragte vom
Moorland bis hinauf zu den Wolken – oder hatten sich die Wolken hinab
zur Erde gesenkt?

Himmel und Venn, beides eins. Nichts als Grau, ein zähes, feuchtes,
kaltes, fließendes und doch festes, unergründbares, geheimnisvolles,
schauriges Grau. Ein Grau, aus dem der, der sich im Moor verirrt,
nimmermehr herausfindet. Der Nebel ist zu zähe; er hat Arme, die packen,
die so dicht umfangen, daß man nicht mehr vorwärts sehen kann, nicht
rückwärts, nicht nach links, nicht nach rechts, daß der Ruf erstickt,
der sich aus angstgepreßter Kehle entringen will, und das Auge blind
wird für jeden Weg, jede Fußspur.

Der Kutscher fluchte und hieb auf die Pferde ein. Von der Straße war
nichts mehr zu sehen, aber auch gar nichts mehr, kein Graben zur Seite,
keine Telegraphenstange, kein Ebereschenbäumchen. Wie zerflossen war die
breite, mühselig angelegte Chaussee im Venngrau. Ein Glück, daß die
Gäule noch nicht verwirrt waren. Die folgten ihrer Nase, warfen ihre
langen Schweife, wieherten hell und trabten mutig drauflos ins
Nebelmeer.

Schaudernd hüllte Käte sich und das Kindchen fester ein; nun brauchten
sie alle vorsorglich mitgenommenen wärmenden Hüllen. Ihr Mann packte sie
noch fester ein, und dann legte er, wie schützend, den Arm um sie. Eine
böse Fahrt!

Sie hatten den Wagen schließen lassen, aber das kalte Grau drang doch zu
ihnen herein; es zwängte sich durch alle Ritzen, durchs Glas der
Fenster, füllte den Innenraum, daß ihre Gesichter wie bleiche Flecke
schwammen im dunstigen Dämmer, und legte sich schwer, hemmend auf ihren
Atem.

Käte hüstelte und dann zitterte sie. In ihrer Seele war jetzt nichts von
Freude, sie fühlte nur Angst, Angst um den errungenen Besitz. Wenn die
Mutter jetzt hinter ihnen drein käme – o, dieses schreckliche Weib mit
der blitzenden Axt! In einem Grauen sondergleichen preßte sie die Augen
zu – nur das nicht mehr sehen! Und doch riß sie die Augen wieder auf,
fühlte Angstschweiß auf ihrer Stirn und das Beben ihres Herzens – weh,
bis in ihre Träume würde sie dieses verfolgen! Bis zu ihrer letzten
Stunde würde sie das nicht mehr loswerden – nie, nimmermehr – das Weib
mit der blitzenden Axt!

Dicht an ihrem Kopf war das Beil vorübergesaust – der Luftzug des
Schwunges hatte ihr Schläfenhaar wehen gemacht –, es hatte ihr nichts
getan, in den Pfosten der Tür nur war es gefahren und hatte den krachend
gespalten. Und doch war ihr Leides geschehen. Wie in Entsetzen faßte
sich Käte mit beiden Händen an die Schläfen: nie, nie wurde sie diese
Angst wieder los!

In ihrer Seele war eine fast abergläubische Furcht, eine Furcht wie vor
einem Gespenst, das da umgeht. Nur fort von hier! Nur nie mehr wieder
hierher zurück! Nur jede Spur hinter sich verlöscht! Nie durfte jene
erfahren, wohin sie sich gewendet hatten! Berlin – leider! – die
Adresse hatten sie dem Gemeindevorsteher gegeben, aber Berlin war ja so
weit, dorthin würde das Vennweib niemals kommen!

Und das Venn selber –?! Huh! Sich schüttelnd vor Grausen sah Käte
hinaus ins graue Nebelgewoge. Gott sei Dank, das blieb ja hier, das
würde bald ganz vergessen sein! Wie hatte sie nur dieses öde Venn einmal
schön finden können?! Sie begriff sich nicht. Was war denn Reizvolles an
diesen unwirtlichen Flächen, auf denen nichts gedieh als hartes Gras und
zähes Heidekraut? Auf denen kein Korn seine Ähren wiegte, kein Singvogel
sein kleines Lied pfiff, keine fröhlichen Menschen gesellig lebten,
überhaupt keine Heiterkeit war, kein lauter Ton; nur Todesschweigen und
Kreuze am Weg. Hier war’s schrecklich!

Angstvoll, während ihr Auge vergebens nach einem Lichtblick suchte,
stieß sie hervor: »Paul, laß uns heute noch abreisen! So schnell als
möglich abreisen!«

Ihm war’s recht. Auch ihm war nicht wohl zumute. Wenn dieses Weib, diese
Bestie, in ihrem plötzlichen Wutausbruch seine Frau getroffen hätte?!
Aber er konnte sich selber einen Vorwurf nicht ersparen: wer hatte es
ihn geheißen, sich mit solchem Volke einzulassen? Solcher Unkultur ist
man nicht gewachsen!

Und ein Unwille gegen das Kind ergriff ihn, das da so friedlich im Arm
seiner Frau schlummerte. Finster sah er in das kleine Gesicht: würde er
das je, je lieben können? Würde nicht die Erinnerung an des Kindes
Herkunft seiner Neigung stets hindernd sein? Ja, er hatte sich übereilt.
Wieviel besser hätte er daran getan, seiner Frau vernünftig ihren Wunsch
auszureden, ihrer romantischen Idee, dieses Kind, gerade dieses Kind
anzunehmen, energisch entgegen zu treten!

Die Brauen zusammengezogen, die Stirn in Falten, schaute er auch hinaus
zum Fenster, an dessen Glas sich das Grau klebte und in großen Tropfen
niederrann.

Draußen heulte jetzt der Wind; er hatte sich plötzlich aufgemacht. Und
er heulte stärker, je mehr sie sich dem Scheitel des hohen Venn
näherten, fauchte um den Wagen wie ein böser Hund und sprang den Pferden
gegen die Brust. Die Gäule mußten sich wehren, ihren Trab verlangsamen;
nur mühsam schwankte der Wagen voran.

Nie, niemals durfte dieses Kind erfahren, woher es stammte, denn sonst
– in tiefen Gedanken starrte der neue Vater ins Venn, dessen Nebelwand
jetzt für Augenblicke durch einen wütenden Windstoß auseinandergerissen
ward – denn sonst – – – was ›denn sonst‹?! Er fuhr sich über die
Stirn und atmete beklommen. Es beschlich ihn etwas wie eine Furcht, aber
er machte sich selber nicht klar: wovor.

Den Blick zu seiner Frau wendend, sah er, daß sie ganz in Betrachtung
des schlafenden Kindes versunken war, und seine Mißstimmung wurde
dadurch nicht kleiner. Er zog ihre Rechte, die sie stützend unter des
Kindes schwer hingesunkenen Kopf hielt, fort: »Laß doch, ermüde dich
doch nicht so! Es wird auch schon so weiterschlafen!« Und als sie
besorgt »St« machte, erschrocken, ob der kleine Schläfer auch nicht
gestört sei, sagte er nachdrücklich: »Eins muß ich dir sagen, mein Kind,
und dich dabei auch warnen: gib nicht gleich dein ganzes Herz – warte
erst ab!«

»Wieso?« Verwundert sah sie ihn an, sie hörte einen Unterton aus seiner
Stimme heraus. »Warum sagst du das so – so – nun so ärgerlich?!« Leise
lachte sie auf in einem glücklichen Vergessen. »Weißt du – ja, es war
abscheulich, unendlich peinlich in dieser Umgebung – aber, Gott sei
Dank, jetzt ist’s ja überstanden! Eine Mutter vergißt ja so schnell all
die Schmerzen, die sie bei der Geburt ihres Kindes gelitten hat – wie
sollte ich das Widrige heut nicht auch vergessen?! Sieh nur,« – und sie
streichelte, vorsichtig liebkosend, mit der Spitze ihres Fingers die
warmrot geschlafene Wange des kleinen Jean-Pierre – »wie unschuldig,
wie lieblich! Ich freue mich so! Freu dich doch auch, Paul, du bist ja
sonst so herzensgut! Komm, nun laß uns mal überlegen, wie wir den Jungen
eigentlich nennen wollen!« Es war eine große Weichheit in ihrem Ton:
»Unsern Jungen!«

Sie hörten nicht mehr den Wind, der zum Sturm geworden war. Sie hatten
jetzt so vieles zu überlegen. ›Jean-Pierre,‹ nein, das blieb auf keinen
Fall! Und heute abend noch würde man von Spaa bis Köln fahren, denn dort
erst konnte man es wagen, eine Wärterin zu engagieren; dort hatte ja
kein Mensch mehr eine Ahnung vom Venn. Und in Köln würde man auch
schleunigst die so notwendigen Kindersachen kaufen.

Wie sollte man sich nur behelfen bis dahin?! Ganz besorgt sah Schlieben
auf seine Frau: die hatte ja so gar keine Ahnung von kleinen Kindern!
Aber sie lachte ihn aus und tat wichtig: wem der Himmel ein Amt gibt,
dem gibt er auch den Verstand. Und hier der kleine Liebling war ja so
brav, noch nicht gemuckt hatte er, seit sie fortgefahren waren, hatte
immerfort geschlafen, als gäbe es keinen Hunger und keinen Durst, als
gäbe es nur ihr Herz, an dem er sich wohlig fühlte.

Allmählich wurde es behaglicher im Wagen. Es war, als ströme der sanft
ruhende Kinderkörper eine wohltuende Wärme aus. Hauch des Lebens stieg
auf aus der sich kräftig hebenden, gleichmäßig atmenden kleinen Brust;
Freude des Lebens glühte aus den rosiger und rosiger werdenden Wangen;
Segen des Lebens tropfte von diesen winzigen, im Schlaf zu Fäustchen
geballten Händen. Still vor sich hinsinnend, mit verhaltenem Atem,
schaute die Frau in ihren Schoß, und der Mann, gerührt und seltsam
bewegt, nahm des Kindes winzige Faust in seine große Hand und besah sie
lächelnd: ja, nun waren sie Eltern! – – – – –

Draußen aber war das Grauen. So kann der Herbst nur stürmen im wilden
Venn. Hier gibt es kein sanft-wehmütiges Scheiden des Sommers, kein
leises Sichheranstehlen des Winters, keinen mild vorbereitenden
Übergang, hier setzt das Unwetter ein mit Macht, aus Sonnenwärme
schlägt’s um in Eiseskälte. Der Sturm saust übers braune Hochland, daß
sich das niedrige Kraut noch niedriger duckt und die kleinen
Wacholderstöcke sich noch kleiner machen. Mit Pfiff und Geschrill, mit
Gebell und Geheul jagt der Vennwind, stöbert in Sumpfloch und Torfgrube,
peitscht die trüben Lachen, wirft sich ins angeschonte Tannendickicht
mit Gewalt, daß das stöhnt und ächzt und knackend zusammenschauert, und
rast dann weiter um verwitterte Kreuze.

Wie Orgelton braust es übers Moor – oder ist es das Rauschen
schäumender Brandung? Nein, hier ist kein Wasser, das Ebbe und Flut hat
und in weißen Wogen gegen den Strand wäscht, hier ist nur das Venn; aber
es gleicht dem Meer in seiner ewigen Weite. Und seine Lüfte sind stark
wie Meereslüfte, und seiner Vögel schriller Schrei ist wie Möwenschrei,
und Natur spielt – hier wie dort – mit gewaltigem Griff auf der Orgel
des Sturms das Lied von ihrer Allmacht.

Über den Scheitel des großen Venns kroch der kleine Wagen. Die Winde
wollten ihn hinunterblasen wie ein winziges Käferchen. Immer wütender
stießen sie gegen das Gefährt, kläfften und heulten wie mit Wolfsgeheul,
winselten um seine Räder, schnauften um seine Wände; stemmten sich vorn
ihm entgegen und zerrten von hinten wie mit gierigen Zähnen daran: weg
mit dem hier. Und weg auch mit denen, die darinnen saßen! Diese
Eindringlinge, diese Diebe, die führten etwas mit sich fort, das dem
Venn gehörte, einzig und allein dem großen Venn!

Es war ein Kampf. Ob der Kutscher auch auf die Pferde hieb, die mutigen
Gäule stutzten doch, blieben stehen und schnauften ängstlich. Der Mann
mußte abspringen, sie eine Strecke führen, und noch immer zitterten
sie.

Aus den Gruben stieg’s auf und winkte mit wehenden Schleiergewändern
und wollte halten mit feuchten Armen. Ein Greifen war’s, ein Haschen,
ein Langen; ein Reißen von Nebeln und ein sich tückisch wieder
Zusammenballen, ein Chaos von wirbelnden, quirlenden, brauenden,
grauenden Dünsten. Und klägliche Töne von Wesen, die man nicht sah.

Waren alle Grüfte lebendig geworden? Stiegen die herauf, die hier
geschlafen hatten, von Pferdeschnaufen und Peitschenknall geweckt,
unwillig ob ihrer verletzten Ruh? Was waren das für Laute?!

Das stille Venn war lebendig geworden. In des Sturmes dumpfen Orgelbraus
mischte sich Schrillen und Pfeifen, Gellen und Krächzen und
Flügelschlagen und empörtes Schreien.

Durchs Nebelmeer schwamm eine Schar von Vögeln. Sie ruderten rechts,
ruderten links, äugten unruhig nieder zum fremden Gefährt, standen
Minuten bewegungslos über ihm, mit gespreizten Flügeln, zum Niederstoßen
bereit, und stießen dann ihr Geschrei aus, ihr aufgeschrecktes,
scharfdurchdringendes Wildlingsgeschrei. Heute hatte das nichts
Sieghaftes an sich – es klang wie Klage.

Und das Venn weinte. Große Tropfen entsanken den Nebeln; die Nebel
selbst wurden zu Tränen, zu langsam fallenden und dann zu stürzenden,
unaufhaltsamen, strömenden Tränen.




6


Schliebens hatten glücklich Berlin erreicht. Frau Käte war angegriffen,
als sie aus dem Coupé stiegen; ihr Haar war verwirrt, ihre Eleganz ein
wenig mitgenommen. Es war doch keine Kleinigkeit gewesen, mit dem Kinde
die weite Reise zu machen. Ein Glück nur, daß sie in Köln so rasch eine
gute Wärterin gefunden hatten – eine Witwe, kinderlieb und
wohlerfahren, eine echte rundlich-behäbige Kinderfrau – aber es hatte
für die Mutter doch noch genug zu sorgen gegeben. Ob das Kind sich
erkältet hatte oder ob ihm die Flasche nicht schmeckte? Es hatte
geschrieen, mit der ganzen Kraft seiner Lungen – kein Umhertragen half,
kein Schaukeln, kein Wiegen, kein Singen – es hatte geschrieen aus
vollem Halse während der ganzen Fahrt nach Berlin.

Aber, Gott sei Dank, nun war man ja zu Hause! Und wie mit Zauberschnelle
ordnete sich alles. Die behagliche Wohnung von früher war freilich
vermietet; aber im Grunewald entstand Villa neben Villa, und da man
jetzt ja so viel mehr Platz brauchte, bezog man eine dieser Villen. Erst
zur Miete; dann würde man sie wohl kaufen, denn es war wirklich nicht
möglich, ein Kind wie dieses in eine Stadtwohnung zu bringen. Einen
Garten mußte es doch haben.

Sie nannten ihn Wolfgang. ›Wolf‹ hatte etwas so Kurzes, Kraftvolles,
Energisches, und mit einem leisen wohligen Schauer dachte es Käte – es
war wie eine geheime Erinnerung an das Venn, jene Wildnis, über die sie
triumphiert hatten, und der sie nur dies eine kleine Zugeständnis
machten. Und ›Wölfchen‹ – wenn man so das ›Wolf‹ verkleinerte – klang
es nicht unendlich liebevoll?!

›Wölfchen‹ – das sagte die junge Mutter wohl hundertmal am Tag.

Die junge Mutter! Frau Käte fühlte es: ach ja, sie war wieder jung
geworden in ihrem Kinde, ganz jung. Ihre fünfunddreißig Jahre hätte ihr
niemand geglaubt, und sie selber am wenigsten. Wie konnte sie laufen,
wie die Treppe hinaufhuschen, wenn es hieß: »Das Kind ist aufgewacht! Es
schreit nach der Flasche!«

Sie, die früher so viele Stunden auf der Chaiselongue zugebracht hatte,
kam jetzt keine Minute im Tag zum Hinlegen; dafür schlief sie des Nachts
um so fester. Es war doch so, wie sie andre Frauen hatte sagen hören:
ein Kleines nimmt die Mutter ganz und gar in Anspruch. O, was waren es
für inhaltleere, farblose Tage gewesen, die sie früher so hingelebt
hatte! Jetzt erst hatte ihr Leben Inhalt, Wärme, Glanz.

Jeden Tag ging sie neben dem Kinderwagen her, den die Wärterin schob,
und es machte ihr ein besonderes Vergnügen, selber einmal den leichten
kleinen Wagen mit seinem weißen Lack, den vergoldeten Knöpfen und den
blauen Seidengardinen zu fahren. Wie die Leute nach dem eleganten Wagen
sahen – nein, nach dem schönen Kinde drehten sie sich um! Ihr Herz
klopfte vor Freude, ihr geschmeicheltes Ohr fing die Rufe der
Bewunderung auf – ›Das reizende Kind!‹ – ›Wie elegant!‹ –›Die
prachtvollen Augen!‹ – und dann schlug ihr Herz noch geschwinder, ein
Gefühl seligen Stolzes erfüllte sie, so daß sie einher ging, den Kopf
frei gehoben, die Augen voll Glück. Alle hielten sie ja für die Mutter,
für des jungen Kindes junge Mutter, für des schönen Kindes schöne
Mutter! Wie oft hatten Fremde ihr schon von der Ähnlichkeit gesprochen:
›Ihnen wie aus den Augen geschnitten, gnädige Frau, nur das Haar ist
dunkler als das Ihre!‹ Dann hatte sie jedesmal gelächelt mit einem
tiefen Erröten. Sie konnte den Leuten doch nicht sagen, daß er ihr
eigentlich gar nicht ähnlich sehen konnte! Wußte sie es jetzt doch
selber kaum mehr, daß kein Tropfen ihres Blutes in Wölfchens Adern
floß.

Nach ihr schaute er zuerst, wenn er erwachte. Zwar stand sein
mullverhangenes Bettchen neben dem Bett der Wärterin, aber der Mutter
galt doch sein erster Blick, und auch sein letzter, denn niemand
verstand es so gut wie sie, ihn in Schlaf zu singen.

  »Schlaf, mein süßes Kind,
  Draußen geht der Wind.
  Höre, wie der Regen fällt
  Und wie Nachbars Hündchen bellt!
  Hündchen hat den Mann gebissen,
  Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

das tönte Abend für Abend leise und schmeichelnd aus der Kinderstube,
und der kleine Wolf schlief sanft dabei ein, beim Lied vom Wind und
Regen ob schutzlosen Häuptern und von Bettlern, deren Kleider der Hund
zerreißt. –

Schlieben hatte jetzt keine Veranlassung mehr, sich über die Stimmungen
seiner Frau zu beklagen. Alles war anders geworden – auch ihre
Gesundheit – gleichsam neu, als sei noch einmal ein Leben begonnen.
Und er selber? Er selber hatte jetzt viel mehr Lust zur Tätigkeit.
Nun er wieder ins Geschäft eingetreten war, fühlte er ein sonst nicht
gekanntes Behagen, wenn er sah, daß neue Unternehmungen glückten.
Unternehmungsgeist hatte er früher nie gehabt – wozu auch? Was er und
seine Frau brauchten, hatten sie reichlich. Natürlich war es ihm
angenehm gewesen, gut abzuschließen, aber daß es ihm Freude gemacht
hätte, Geld zu verdienen, hätte er nicht sagen können. Er hatte immer
mehr Vergnügen daran gefunden, es auszugeben.

Der alte Schlieben war darin ganz anders gewesen, von einer viel weniger
großen Leichtigkeit, und er hatte sich, solange er lebte, stets darüber
Vorwürfe gemacht, daß er den einzigen Sohn bei einem Kavallerieregiment
hatte dienen lassen; da war dem von der kavalleristischen Flottheit
etwas kleben geblieben, was mit den Ansichten des ursoliden,
behäbig-bürgerlichen Kaufmanns nicht recht stimmen wollte. Und die
Schwiegertochter? Nun, die war auch nicht so ganz nach dem innersten
Herzen des alten Herrn gewesen, die hatte zu viel modernes Zeug im Kopf,
und der Paul wurde ganz davon angesteckt. Man konnte ja ein gebildeter
Mensch sein – warum nicht? und sich auch für die Kunst interessieren,
ohne darum so wenig realen Sinn zu besitzen!

Der biedere Mann, der Kaufmann von echtem Schrot und Korn und
Urberliner, hatte nicht mehr die Freude gehabt, an seinem Sohn zu
erleben, was jetzt dessen Sozien mit Verwunderung und ungemessenem
Erstaunen wahrnahmen. Sie brauchten jetzt nicht mehr über Schliebens
mangelndes Geschäftsinteresse die Achseln zu zucken und eine gewisse
Spitze auf die Frau zu haben, die ihn so ganz in Beschlag nahm; jetzt
hatte er das Interesse, das sie wünschten. Jetzt machte es ihm Freude,
auf ihre Projekte einzugehen; es erschien ihm selber Bedürfnis, ja
geradezu geboten, neue Verbindungen anzuknüpfen, den ruhigen, von lange
her eingeschlagenen Geschäftsgang nach rechts und links, nach allen
Seiten zu erweitern. Er zeigte Geschäftsgeist und wurde auf einmal
praktisch. Und mitten in seinen Berechnungen, vertieft am Pult sitzend,
konnte Schlieben sich dabei ertappen, daß er dachte: ›das wird dem
Jungen einmal von Nutzen sein!‹ Dann aber konnte ihn dieser Gedanke doch
wieder so irritieren, daß er die Feder hinwarf und unwirsch vom Pulte
aufsprang: nein, nur seiner Frau zu Gefallen hatte er den Jungen
angenommen, lieben wollte er ihn nicht!

Und doch, wenn er zu Tisch nach Hause kam, an jenen köstlichen
Nachmittagen, in denen die Kiefern um sein Haus dufteten und die reine
Luft den nach angespannter Arbeit erwachten Appetit noch verstärkte,
wenn ihm dann der Junge mit Geschrei entgegenzappelte, seinen kleinen
Bauch klopfend: »Papa – essen – gut mecken,« und Käte sich lachend am
Fenster zeigte, dann konnte er sich nicht enthalten, den hungrigen
Schreier hoch in die Luft zu schwingen und ihn erst nach einem
freundlichen Klaps wieder auf die Füße zu stellen. Er war doch ein
famoser Kerl! Und immer bei Appetit. Nun, Gott sei Dank, satt zu essen
würde er ja auch immer haben!

Eine gewisse Behäbigkeit kam dabei über den Mann. Was er früher nie so
gefühlt hatte: daß ein eignes Heim ein Glück bedeutet – das fühlte er
jetzt. Und er empfand die Wohltat des gesicherten Besitzes, der es
gestattet, sich das Leben mit allen möglichen Annehmlichkeiten
auszugestalten. Hübsch war das Haus! Aber wenn er es demnächst kaufte,
baute er doch noch an, und das Grundstück daneben kaufte er auch noch
zu. Es wäre doch höchst fatal, wenn sich da etwa einer einem dicht auf
die Nase setzte!

Es war Schlieben seinerzeit schwer geworden, hier draußen Wohnung zu
nehmen, nachdem er, solange er denken konnte, in einer Berliner
Stadtwohnung gelebt hatte. Nun aber pries er den Gedanken seiner Frau,
hier herauszuziehen, als sehr glücklich. Nicht nur des Kindes wegen! Man
hatte selber hier draußen ja einen ganz andern Genuß seines Heims; man
kam viel mehr zum Bewußtsein eines solchen. Und wie viel gesünder war’s
– wahrhaftig, der Appetit war kolossal! Man wurde noch der reine
Materialist! Und von seinem knurrenden Magen getrieben, folgte Schlieben
dem eßlustigen Jungen ins Haus. – – –

Wolfgang Solheid, genannt Schlieben, bekam die ersten Hosen. Es war ein
Fest fürs ganze Haus. Käte ließ ihn heimlich photographieren, denn
hübscher hatte nie ein Junge in ersten Hosen ausgesehen. Und sie stellte
ihrem Mann das Bild des noch nicht Dreijährigen – weiße Hosen, weißer
Faltenkittel, Pferdchen im Arm, Peitsche in der Hand – von einem
Rosenkranz umgeben, in die Mitte seines Geburtstagstisches. Das war ja
unter all den vielen Geschenken das Beste, was sie ihm geben konnte. Wie
kräftig Wölfchen war! Hier auf dem Bilde sah man’s erst: so groß wie ein
Vierjähriger! Und trotzig sah er aus, unternehmend wie ein Fünfjähriger,
der schon an Streit mit andern Buben denkt.

Glückselig wies die Frau dem Manne das Bild, und ein solches Leuchten
war dabei in ihren Augen, daß er sich innig freute. Er dankte ihr, sie
küssend, viele Male für diese Überraschung: ja, dieses Bild sollte neben
dem ihren auf seinem Schreibtisch stehen! Und dann schäkerten sie beide
mit dem Knaben, der sich in seinen ersten Hosen, die ihm noch unbequem
waren, ungebärdig über den Teppich wälzte.

Schlieben konnte sich nicht entsinnen, je seinen Geburtstag so angenehm
verlebt zu haben wie dieses Mal. Es war so viel Heiterkeit um ihn, so
viel Freude. Und wenn auch Wolf schon am Mittag die ersten Hosen
zerrissen hatte – wie und wo war der bestürzten Wärterin ganz
unbegreiflich –, so störte das den Festtag nicht, im Gegenteil, das
Lachen wurde noch heller. »Zerreiße Hosen, mein Junge, zerreiße,«
flüsterte die Mutter lächelnd in sich hinein, als ihr der Schaden
gezeigt wurde, »sei du nur froh und stark!«

Am Abend war Gesellschaft. Die Fenster der hübschen Villa waren hell
erleuchtet, und im Garten war italienische Nacht. Lau war die Luft;
unbeweglich breiteten die Kiefern ihre Äste unterm Sternenhimmel, und
großen Glühwürmern gleich schimmerten bunte Lampions in Büschen und
Laubgängen.

Im Oberstock der Villa, im einzigen nicht hell beleuchteten, nur von
einer Milchglasampel matt beschienenen, durch dichte Vorhänge und
Jalousien still gehaltenen Gemach, lag Wölfchen und schlief. Aber unten
ließ man ihn leben.

An der Festtafel war der Hausherr schon betoastet worden und dann seine
liebenswürdige Gattin – mit was konnte man den Gefeierten nun noch mehr
feiern, als daß man den Jungen leben ließ, seinen Jungen?!

Der Geheime Sanitätsrat Hofmann, der erprobte Arzt und langjährige
Freund des Hauses, bat sich das Vorrecht aus, diese paar Worte sprechen
zu dürfen. Er als Arzt, als Berater in mancher Stunde, er wußte ja am
besten zu sagen, woran es hier noch gemangelt hatte. Alles war
dagewesen: Liebe und innigstes Verstehen und auch das äußere Glück, aber
– hier machte er eine kleine Pause und nickte der ihm gegenübersitzenden
Frau des Hauses freundlich-verständnisinnig zu – das Kinderlachen hatte
gefehlt! Und nun war auch das da!

»Kinderlachen – o, du Erlösung!« rief er und zwinkerte, und eine
Rührung kam dabei in seine Stimme, denn er gedachte auch seiner eignen
drei, die freilich jetzt schon selbständig draußen im Leben ihren Weg
gingen; aber ihr Lachen, das klang ihm noch in Herz und Ohr.

»Kein Kind – kein Glück! Aber ein Kind – ein Glück, ein großes Glück!
Und hier zumal! Denn meine Doktoraugen haben sich noch kaum je an einem
prächtigeren Brustkasten, an einem famoser entwickelten Schädel, an
strammeren Beinen und blankeren Augen geweidet. Alle Sinne sind scharf;
der Junge hört wie ein Luchs, sieht wie ein Falke, wittert wie ein
Hirsch, fühlt – nun, ich habe mir sagen lassen, daß er schon auf die
leiseste Berührung seiner Kehrseite lebhaft reagiert. Nur der Geschmack
ist bis jetzt nicht in gleichem Grade fein entwickelt – der Junge ißt
alles! Aber dies wiederum ist mir ein neuer Beweis seiner besonderen
körperlichen Bevorzugung, denn verehrte Anwesende –« hier kniff der
Doktor scherzhaft blinzelnd das eine Auge zu – »wer von Ihnen spräche
nicht mit mir: ein guter Magen, der alles verträgt, ist die größte
Lebensmitgabe einer gütigen Vorsehung! Der Junge ist ein Glückskind. Ein
Glückskind im doppelten Sinn des Wortes, denn nicht nur ist er selber
alles Glückes voll, nein, das Glück ist auch bei denen, die um ihn sind,
durch ihn eingekehrt. Hier, unsere liebe Frau, haben wir sie je früher
so gesehen? So jung mit den Jungen, so froh mit den Frohen! Und hier,
unser verehrter Freund – ’s ist wahrhaftig nicht, als hätte der heute
die Mitte der Vierzig erklommen – der steckt ja voll von Tatkraft, von
Plänen und Unternehmungen wie einer mit zwanzig! Und hat dabei die
schöne Ruhe, die behagliche Gesättigtkeit des glücklichen Hausvaters.
Und das macht alles, alles der Glücksjunge! Darum, Dank sei der Stunde,
die ihn bescherte, dem Winde, der ihn hergetragen hat! Woher –?!«

Der Doktor, der eine kleine, boshafte Ader hatte, machte jetzt
geflissentlich eine Pause, räusperte sich und zupfte an seiner Weste,
sah er doch so manches neugierige Auge erwartungsvoll auf sich
gerichtet. Aber er sah auch den raschen, betroffenen Blick, den das
Ehepaar miteinander tauschte, sah, daß Frau Käte erblaßt war und
ängstlich, fast flehend an seinen Lippen hing, und so fuhr er geschwind
mit einem gutmütig-einlenkenden Lachen fort: »Woher, meine Damen – nur
Geduld! Das will ich Ihnen jetzt sagen: vom Himmel ist er gefallen! Wie
die Sternschnuppe fällt in der Sommernacht. Und unsre liebe Frau, die
just spazieren ging, hat ihre Schürze aufgehalten und hat ihn sich
heimgetragen in ihr Haus. So ist er denn der Stern dieses Hauses
geworden, und wir alle und ich ganz besonders – wenn ich nun auch als
Arzt hier überflüssig geworden bin – freuen uns seiner, ohne zu fragen,
woher er uns ward. Alle gute Gabe kommt von oben, das haben wir schon in
der Jugend gelernt – darum: auf das Wohl dessen, der unsern Freunden
vom Himmel gefallen ist!«

Der Doktor war ernst geworden, es war eine gewisse Feierlichkeit darin,
wie er jetzt seinen Champagnerkelch hob und ihn austrank bis zur Neige:
»Prosit Rest! Auf das Wohl des Kindes, des Sohnes dieses Hauses! Der
Glücksjunge, er wachse, blühe und gedeihe!«

Die schön geschliffenen Gläser klangen melodisch-hell aneinander. Es war
ein Schwirren, ein Lachen, ein Hochrufen an der Festtafel, daß der
kleine Junge oben in seinem Bettchen sich unruhig hin und her zu wälzen
begann. Er murrte unzufrieden im Schlaf, warf die Lippen auf und zog die
Stirn kraus zwischen den kleinen Brauen.

Unten rückten die Stühle. Man war aufgestanden, ging zu den Eltern hin
und drückte ihnen, gleichsam gratulierend, die Hand. Das hatte Hofmann
wirklich hübsch gemacht, wirklich riesig nett! Der kleine Kerl war aber
auch allerliebst! Alle anwesenden Frauen waren sich darin einig, selten
ein so hübsches Kind gesehen zu haben.

Kätes Herz, das bei dem Toast anfänglich ein wenig bang geklopft hatte
– der gute Doktor würde doch, angeregt durch ein gutes Glas Wein und
ein gutes Diner, nichts ausplaudern von dem, was man nur ihm und dem
Anwalt anvertraut hatte?! – klopfte jetzt in einer lebhaften
Empfindung von Glück. Ihre Augen suchten ihren Mann und sandten ihm
heimlich-zärtliche, dankerfüllte Blicke. Und dann ging sie zu dem alten
Freund hin und dankte ihm ›für all die guten, lieben Worte‹. »Auch in
Wölfchens Namen,« sagte sie herzlich weich.

»Also hab ich’s doch recht gemacht? Na, das freut mich!« Der Freund zog
ihren Arm in den seinen und ging ein wenig abseits von den übrigen mit
ihr auf und ab. »Ich sah es, liebe Frau, Sie waren ängstlich, als ich
von des Jungen Herkunft anfing. Was denken Sie denn von mir?! Aber es
geschah mit Absicht, längst habe ich auf die Gelegenheit gebrannt.
Glauben Sie mir, wenn ich jedesmal einen Taler kriegte, so oft ich nach
des Jungen Herkunft – sei’s offen oder hintenherum – ausgefragt werden
soll, ich wäre jetzt schon ein vermögender Mann. Über manche Frage habe
ich mich geärgert; das heut war die Antwort darauf. Hoffentlich haben
sie sie verstanden! Sie sollen künftig ihre Vermutungen für sich
behalten!«

»Vermutungen –?!« Käte zog die Augenbrauen zusammen und drückte des
Arztes Arm. Was vermuteten die Leute – wußten sie schon etwas, ahnten
sie das Venn?! Eine plötzliche Angst fiel sie an. Mit Blitzesschnelle
tauchten Bilder vor ihr auf – hier mitten im festlich hellen Raum –
dunkle Bilder, von denen sie nichts mehr wissen wollte.

»Um Gottes willen,« sagte sie leise, und ein Zittern war in ihrer
Stimme. Wenn die Leute erst etwas wußten, o, dann – sie sprach es nicht
aus, die plötzliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen –, dann wurde
man die Vergangenheit nicht los! Dann kam die und verlangte ihr Recht
und war nicht mehr abzuschütteln! »Glauben Sie,« flüsterte sie stockend,
»glauben Sie – daß man – das Richtige – vermutet?«

»I wo, keine Spur!« Hofmann lachte, wurde aber dann gleich ernsthaft.
»Lassen wir doch die Leute und ihre Vermutungen, liebe Frau!« O weh, da
hatte er sich auf ein heikles Thema eingelassen – ihm wurde ganz heiß
– wenn sie wüßte, daß man ihrem Paul, dem treuesten aller Ehemänner,
eine ganz besondere Verpflichtung gegen das Kind zuschrieb?!

»Vermutungen – ach, was vermutete man denn?« Sie drängte ihn, ihre
Augen forschten angstvoll.

»Unsinn,« sagte er kurz. »Was wollen Sie sich darum kümmern?! Aber das
habe ich Ihnen und Ihrem Gatten ja gleich gesagt: wenn Sie ein solches
Geheimnis aus des Knaben Herkunft machen, wird viel daran herumgedeutelt
werden. Nun, Sie haben es ja nicht anders gewollt!«

»Nein!« Und die Augen schließend, schauerte Käte leicht zusammen. »Er
ist unser Kind – nur unser Kind –« sagte sie mit einer seltenen Härte
im Ton. »Und etwas andres existiert nicht!«

Kopfschüttelnd und fragend sah er sie an, betroffen über ihren Ton.

Da stieß sie hervor: »Ich habe Angst!«

Er fühlte, wie die Hand, die auf seinem Arm lag, leise bebte. –

Mitten in der Heiterkeit des Abends war es auf Kätes Freude wie eine
Lähmung gefallen. Sie wurde viel nach dem kleinen Wolf gefragt – das
war so natürlich, man zeigte ihr durch diese Fragen freundschaftliches
Interesse – und man beobachtete sie dabei im stillen: ganz großartig,
wie sie sich benahm! Man hätte der zarten Frau kaum solchen Heroismus
zugetraut. Wie sehr mußte sie ihren Mann lieben, daß sie sein Kind –
denn der Knabe mußte ja sein Kind sein, die Ähnlichkeit war zu
augenfällig, ganz genau derselbe Gesichtsschnitt, das gleiche dunkle
Haar – dieses Kind seiner schwachen Stunde an ihr Herz nahm, ohne
Groll, ohne Eifersucht. Sie, die Kinderlose, das Kind einer andern! Das
war großartig, fast zu großartig! Das begriff man denn doch nicht
ganz.

Und Käte empfand instinktiv, daß in den Fragen, die man an sie richtete,
etwas versteckt lag – war es Bewunderung oder Mitleid, Zustimmung oder
Mißbilligung? – etwas, das man nicht fassen, nicht einmal nennen
konnte, nur argwöhnen. Und das machte sie befangen. So gab sie auf
freundliche Fragen nach Wölfchen nur zurückhaltende Antworten, war knapp
in der Erzählung, kühl im Ton und konnte doch ein heimliches Vibrieren
ihrer Stimme nicht hindern. Das waren die zärtliche Freude, der
Mutterstolz, die sich nicht unterdrücken ließen, die Wärme ihres
Gefühls, die ihrer Stimme den verborgenen Unterton der Erregung liehen.
Andre nahmen’s für eine ganz andre Erregung.

Die Damen, die nach aufgehobener Tafel sich noch im Garten ergingen,
plauderten vertraulich. Die kieferduftenden Gartengänge, in denen die
Lampions nur bunt glühten, aber nicht erhellten, waren recht dazu
geeignet. Man wandelte zu zweien und dreien, Arm in Arm, und sah sich
vorsichtig erst nach Lauschern um: daß nur die gute Frau nichts hörte!
Da war kaum eine unter den Frauen, die nicht ihre Beobachtungen gemacht
hatte. Wie tapfer sie sich hielt, es war eigentlich ergreifend
anzusehen, wie Empfindlichkeit und Neigung, Abneigung und Wärme in ihr
rangen, sowie die Rede auf das Kind kam! Und wie sich dann in ihren
heiteren Blick eine Unruhe stahl – ach ja, sie mochte viel
durchgekämpft haben und noch immer durchkämpfen, die Arme!

Eine einzige meinte zwar, Schlieben viel zu lange und viel zu genau zu
kennen, um nicht zu wissen, daß es zum Lachen – nein, daß es geradezu
ungeheuerlich sei – von ihm so etwas anzunehmen. Von ihm, dem
Korrekten, der nicht nur in der äußeren Haltung und Erscheinung, nein,
ebenso innerlich allezeit der untadlige Kavalier war. Von ihm, dem
treuesten Gatten, der heute noch, nach langer Ehe, so verliebt in seine
Käte war, als hätten sie eben geheiratet. Die Sache lag ganz anders: sie
hatten sich immer Kinder gewünscht, was war natürlicher, als daß sie
sich, nun sie die Hoffnung endgültig aufgegeben hatten, eins angenommen
hatten?! Taten denn andre Leute das etwa nicht auch?!

Freilich, das kam schon vor, gewiß! Aber dann erfuhr man doch Näheres:
ob es ein Waisenkind war oder der illegitime Abkömmling aus hohen
Kreisen, ob es in der Zeitung aufgeboten war – ›an edeldenkende
Menschen zu vergeben‹ – ob es das Kind eines verlassenen Mädchens oder
der unerwünschte Spätling einer schon überreich mit Kindern gesegneten
Proletarierfamilie war und so weiter, immer wußte man doch wenigstens
einiges. Aber hier – warum denn hier ein solches Geheimnis?! Warum
nicht offen erzählt: daher haben wir’s, so und so trug’s sich zu?!

Frau Käte ganz offen nach der Herkunft des Kleinen zu fragen, war
schwer; man hatte sich schon früher einmal in dieser bestimmten Absicht
zu ihr begeben, aber gleich nach den ersten einleitenden Sätzen war in
die Augen der Frau etwas so Angstvolles gekommen, in ihr Wesen etwas so
scheu Ablehnendes, daß es mehr als taktlos gewesen wäre, das Gespräch
weiter zu verfolgen. Man sah sich gezwungen, das Fragen zu lassen –
aber merkwürdig, merkwürdig!

Auch die Herren im Rauchzimmer, die der Wirt einen Augenblick allein
gelassen hatte, behandelten das gleiche Thema. Der Doktor wurde ins
Gebet genommen.

»Hören Sie, verehrter Geheimrat, Ihr Toast war ja sehr famos, eines
Diplomaten würdig, aber uns machen Sie nichts vor! Sie sollten auch
nicht wissen, woher der Kleine stammt?! Na!« Besonders die beiden Sozien
intrigierte es, daß Schlieben sie so wenig eingeweiht hatte. Wenn man
allen Kix und Kax im Geschäftlichen besprach, hatte man doch auch ein
gewisses Anrecht auf die Privatverhältnisse, zumal man schon mit dem
alten Herrn zusammen gearbeitet hatte. Wo wäre der Paul heute, wenn sie
beide nicht für ihn eingetreten wären mit ihrer ganzen Arbeitskraft,
zur Zeit, als er noch an allem andern mehr Interesse fand und mehr
Geschmack als am Geschäft?! Der schon ältliche Meier, der sein
gutmütig-intelligentes, weinfrohes Gesicht über einem beträchtlichen
Embonpoint trug, konnte sich ordentlich über einen solchen Mangel an
Vertrauen kränken: »Als ob wir ihm was in den Weg gelegt hätten –
lachbar! Doktor, sagen Sie mal wenigstens eins: hat er den Jungen von
hier?!«

Aber der andre Kompagnon, der etwas gallige Bormann, der alle Jahre nach
Karlsbad mußte, unterbrach schroff: »Ich bitte Sie, Meier – Sie sehn
doch! Was geht’s uns auch an?! Von der letzten großen Reise wollen sie
sich ihn mitgebracht haben – na, schön! Wo waren sie denn eigentlich
zuletzt? Nach der Schweiz doch im Schwarzwald und dann in Spaa?!«

»Nein, an der Nordsee,« sagte Hofmann ruhig. »Sie sehen’s ja auch, der
Junge hat ganz friesischen Typus!«

»Der –? Mit seinen schwarzen Augen?!« Nein, aus Hofmann war wirklich
nichts herauszubekommen! Er machte ein so harmloses Gesicht, daß man
hätte meinen können, es sei ihm Ernst anstatt Scherz. Aha, dahinter
verschanzte er sich; er wollte eben nichts sagen! Man mußte das Thema
fallen lassen.

Der Doktor, der sich im stillen schon der Ungeschicklichkeit geziehen –
o weh, da hatte er, statt den guten Schliebens zu helfen, ihnen erst
recht die Neugier auf den Hals gehetzt! – hörte voller Befriedigung,
wie die Herren zur Politik übergingen. –

Es wurde Mitternacht, bis die letzten Gäste die Villa verließen; ihre
heitere Unterhaltung und ihr Lachen war noch laut in der nächtlichen
Stille und noch vom Ende der Straße her deutlich vernehmbar, als sich
Mann und Frau am Fuß der Treppe, die zum Oberstock führte, trafen.

Noch standen alle Fenster der unteren Räume offen, das Silber lag noch
auf dem Eßtisch, das kostbare Porzellan stand umher – mochte die
Dienerschaft es vorläufig wegräumen! Käte fühlte eine große Sehnsucht,
das Kind zu sehen. Sie hatte heute so wenig von ihm gehabt – den ganzen
Tag Gäste! Und dann all die Fragen, die sie hatte hören, all die
Antworten, die sie hatte geben müssen! Ihr Kopf brannte.

Als sie mit ihrem Mann zusammenstieß – Schlieben kam eilig aus seinem
Zimmer, er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, die Zigarren
wegzuschließen –, mußte sie lachen: aha, er wollte auch hinauf! Sie
hing sich an seinen Arm, und so stiegen sie Stufe um Stufe im gleichen
Tritt.

»Zu Wölfchen,« sagte sie leise und drückte seinen Arm. Und er sagte, wie
sich entschuldigend: »Ich muß doch mal sehen, ob der Junge von dem Lärm
nicht wach geworden ist!«

Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und traten vorsichtig auf wie Diebe.
Sie stahlen sich ins Kinderzimmer – da lag er so ruhig! Im Schlaf hatte
er sich aufgedeckt, die Beinchen zeigten ihr nacktes rosiges Fleisch,
und ein warmer, lebensvoller, unendlich frischer Duft stieg auf von dem
reinen, gesunden Kinderkörper und mengte sich mit dem Kraftgeruch der
Kiefern, den die Nacht durch die geöffnete Fensterspalte hereinsandte.

Käte konnte nicht an sich halten, sie bückte sich und küßte das kleine
Knie, das Grübchen in seiner festen Rundung zeigte. Als sie wieder
aufblickte, sah sie das Auge ihres Mannes mit nachdenklichem Ausdruck
auf das schlafende Kind geheftet.

Sie war so gewohnt, alles zu wissen, was ihn bewegte, daß sie fragte:
»Was denkst du, Paul? Bist du verstimmt?«

Er sah sie ein paar Augenblicke mit einer gewissen Zerstreutheit an und
dann an ihr vorbei; er war so in Gedanken, daß er ihre Frage gar nicht
gehört hatte. Nun murmelte er: »Ob es doch nicht besser wäre, offen zu
sein?! Hm!« Er schüttelte den Kopf und strich sich nachdenklich den Bart
am Kinn spitz zu.

»Was sagst du, was meinst du? – Paul!« Sie legte ihre Hand auf die
seine.

Das weckte ihn aus seinen Gedanken. Er lächelte ihr zu und sagte dann:
»Käte, wir müssen den Leuten reinen Wein einschenken! Warum denn auch
nicht sagen, woher er stammt? Ja, ja, es ist viel besser, ich fürchte,
wir werden sonst noch rechte Unannehmlichkeiten haben! Und wenn’s der
Junge nun beizeiten erfährt, daß er eigentlich nicht unser Kind ist –
ich meine, unser rechtmäßiges –, was schadet das denn?«

»Um Gottes willen!« Sie erhob die Hände wie in Entsetzen. »Nein – um
keinen Preis – nein! Nie, nie!« Sie sank am Bettchen nieder, breitete
beide Arme wie schützend über den Kinderkörper und schmiegte ihren Kopf
an die kleine warme Brust. »Paul, dann ist er uns verloren!«

Zitternd holte sie schwer Atem. Es lag ein solches Grauen in ihrem Ton,
eine so große Angst, ein wahrhaft prophetischer Ernst, daß es den Mann
stutzig machte.

»Ich dachte nur – ich meine – ich fühle eigentlich längst die
Verpflichtung,« sagte er stockend, wie sich wehrend gegen ihre Angst.
»Es ist mir unangenehm, daß die – daß die Leute – nun, daß sie reden!
Käte, sei nicht so merkwürdig, warum sollen wir’s denn nicht sagen?«

»Nicht sagen – warum nicht?! Paul, das weißt du doch selbst! Erfährt
er’s – o, diese Mutter – o, dieses Venn!«

Sie hielt den Knaben nur noch fester umschlungen; aber den Kopf hatte
sie von seiner Brust gehoben. Aus dem blassen Gesicht sahen ihre Augen
ganz verstört ihren Mann an: »Hast du die denn vergessen?!«

Ihr zitternder Ton wurde hart: »Nein, nie darf er’s wissen! Und ich
schwöre es, und du mußt es mir auch versprechen, heilig versprechen,
heut an diesem Tage, hier an seinem Bettchen, bei seinem friedlichen
Schlaf – Paul, und wenn ich sterben sollte, auch dann nicht –« sie
steigerte sich immer mehr in ihrer Erregung, ihr harter Ton wurde fast
schreiend – »nie werden wir’s ihm sagen! Und ich gebe ihn nicht her! Er
ist =nur= mein Kind, nur unser Kind allein!«

Ihr Ton schlug um: »Wölfchen, mein Wölfchen, du wirst doch nie von
Mutterchen gehn?!«

Jetzt strömten ihre Tränen, und unter diesen Tränen küßte sie das Kind
so heftig, so inbrünstig, daß es erwachte. Aber es weinte nicht, wie
sonst wohl, wenn es im Schlaf gestört ward.

Es lächelte, und beide Ärmchen um den Hals der sich zu ihm
Niederbeugenden schlingend, sagte es, schlaftrunken noch, aber doch
deutlich-klar: »Mutti!«

Sie stieß einen Laut des Entzückens aus, einen Ruf triumphierender
Freude: »Hörst du’s? Er sagt: ›Mutti!‹«

Sie lachte und weinte durcheinander wie in einem Übermaß von Glück und
haschte nach der Hand ihres Mannes und hielt ihn fest: »Paul –
Väterchen! – komm, gib du unserm Kinde jetzt auch einen Kuß!«

Und Schlieben bückte sich auch nieder. Seine Frau schlang den Arm um
seinen Hals und zog seinen Kopf noch tiefer herab, dicht neben den
ihren. Da legte das Kind den einen Arm um seinen Nacken, den andern um
den ihren.

Sie waren sich alle drei so nah in dieser stillen Sommernacht, in der
alle Sterne glänzten und Mondstrahlen silberne Brücken schlugen vom
friedvollen Himmel hinab zur friedvollen Erde.




7


Das waren Tage reinsten Glücks in der Villa Schlieben. Man hatte sie nun
gekauft, noch ausbauen lassen und auch zum Garten noch ein Stück Land
als Spielplatz dazu erworben. Es war nicht zu denken, daß der Junge
nicht Platz genug haben sollte, sich auszutummeln. Sand wurde gefahren,
ein Berg, so hoch wie eine Düne, darin er buddeln konnte. Und als er
anfing, zum Turnen groß genug zu sein, wurden eine Schaukel angeschafft,
ein Reck und ein Barren.

Aber dies alles war doch noch nicht ausreichend. Er stieg über sämtliche
Zäune der Nachbarvillen, über alle die mit Stacheldraht und Glasscherben
bewehrten Mauern.

»Herrlicher Junge,« sagte Geheimrat Hofmann, wenn er =von= Wolfgang
sprach. Sprach er =mit= ihm, so sagte er freilich: »Du bist ein ganzes
Rauhbein! Warte nur, wenn du in die Schule kommst, da werden sie dich
das Stillesitzen lehren!«

Wolf war wild – ›etwas zu wild‹ fand die Mutter. Schlieben machte der
Übermut des Jungen Spaß, es steckte eben so viel überschüssige Kraft in
ihm. Aber Käte fühlte sich ein wenig befremdet durch so viel Wildheit.
Nein, befremdet war sie eigentlich nicht, wußte sie doch nur zu gut,
woher diese Wildheit stammte; bange machte ihr die.

Sie schalt nicht über zerrissene Hosen – o, die konnten ja wieder
ersetzt werden! – aber als er heimkam mit dem ersten Loch im Kopf, da
wurde sie ganz unglaublich erregt. Sie schalt heftig, sie wurde
ungerecht. Es war ihr nicht möglich, ihm das Blut zu stillen – huh, wie
es rann! – wie einen Krampf begann sie’s am Herzen zu fühlen, mühselig
schleppte sie sich in ihr Zimmer und blieb da stumm in einem Winkel
sitzen, die Blicke starr ins Leere gerichtet.

Als ihr Mann ihr, solcher Übertreibung wegen, einige Vorwürfe machte,
sagte sie kein Wort dawider. Er tröstete sie dann: sie konnte ja nun
ganz ruhig sein, die Sache war weiter nicht von Belang, das Loch genäht
und der Junge seelenvergnügt, als sei nie etwas gewesen!

Aber sie fröstelte in einem nervösen Schauer und blieb blaß. Ach, wenn
Paul wüßte, an was sie dachte, immerfort denken mußte! Daß sich ihm
nicht die gleiche Erinnerung aufdrängte?! – – – O, Michel Solheid
hatte blutend auf dem Venn gelegen – Blut war zur Erde getropft heute
wie damals! Der kleine Knabe hatte sich nicht beklagt, ebensowenig, wie
sein – sie sträubte sich selbst in Gedanken gegen dieses Wort – wie
sein Vater, wie Michel Solheid geklagt hatte! Und doch war das rote Blut
hervorgespritzt wie ein Springquell; wieviel natürlicher wäre dabei ein
Weinen gewesen! Empfand Wolf denn anders, als andre Kinder empfanden?!

Käte ging die Reihe ihrer Bekannten durch: da war kein einziges Kind,
das bei solcher Verwundung nicht geweint hätte, und es brauchte deshalb
noch lange kein Feigling zu sein. Es war gewiß, Wölfchen war weniger
feinfühlig. Nicht nur stumpfer gegen körperlichen Schmerz, nein – und
das hatte sie schon mehrmals zu bemerken geglaubt –, auch stumpfer in
den Regungen der Seele. Selbst bei Freuden. Zeigten nicht andere Kinder
ihr Beglücktsein, indem sie jubelnd in die Hände klatschten? Den
begehrten Gegenstand: das Spielzeug, die Puppe, den Kuchen mit Rufen des
Entzückens umhüpften? Er hatte nur ein stummes Danachgreifen; nahm’s an
sich, eben weil es ihm geboten ward, ohne all die kindliche
Geschwätzigkeit, ohne dies anmutig-jauchzende Erfreutsein, das es so
unendlich dankbar macht, Kinder zu beschenken.

›Wie ein Bauer,‹ pflegte Schlieben zu sagen. Das gab ihr jedesmal einen
Stich durchs Herz. War Wölfchen wirklich aus so anderm Holz?! Nein,
›Bauer‹ durfte Paul nicht sagen! Wölfchen war doch nicht stupide, nur
vielleicht ein wenig langsam im Denken, aber doch schlau genug! Und er
war eben kein Großstadtkind; man lebte ja hier ganz wie auf dem Lande.

»Du Bauer!« Bei der nächsten Gelegenheit, als der Vater es wieder sagte
– es war diesmal zum Lobe gesagt und nicht zum Tadel, aus Freude
darüber, daß der Knabe sein Gärtchen so gut im Stande hielt –, brauste
die Mutter auf. Warum?! Schlieben begriff den Grund nicht. Warum sollte
er sich nicht freuen? Hatte der Junge seinen kleinen Garten denn nicht
allerliebst eingefriedigt? Aus Haselstöcken hatte er sich ein Staket
errichtet, das zur Verdichtung mit biegsamen Weidenruten durchflochten
und mit Kiefernzweigen belegt war. Und Bohnen und Erbsen hatte er
gesteckt, die er sich von der Köchin erbettelt hatte; und nun würde er
auch noch Kartoffeln legen. Hatte ihn’s jemand so tun geheißen? Nein,
niemand! Die perfekte Köchin und das Hausmädchen waren Großstadtkinder,
was wußten die von Erbsenstecken und Kartoffellegen?!

»Der geborene Landwirt,« sagte lachend der Vater.

Wie im Schmerz aber wandte sich die Mutter ab; viel, viel lieber hätte
sie gesehen, ihres Sohnes Garten wäre ein Unkrautfeld gewesen, als daß
er so emsig pflanzte, jätete und begoß.

Sie hatte ihm Blumen geschenkt; aber für die hatte er weniger Interesse,
sie gediehen ihm auch nicht so. Nur eine große Sonnenblume wuchs und
wuchs; sie war bald so hoch wie der Knabe, bald noch höher, und er stand
oft davor, das kindliche Gesicht ernst erhoben, und sah lange in ihr
goldenes Rund.

Als der Sonnenblume goldene Blätter verschrumpften, dafür aber ihr Same
reif ward – jeden Tag wurde der prüfend betrachtet und dann endlich
eingeerntet –, kam Wolfgang zur Schule. Er ging schon ins siebente Jahr
und war groß und stark; warum sollte er jetzt nicht mit andern Kindern
lernen?

Die Mutter hatte es sich zwar wundervoll gedacht, ihm selber die
Anfangsgründe beizubringen, hatte sie doch als junges Mädchen, das zu
Hause nichts zu tun fand und sich gern weiterbilden wollte, das Seminar
besucht und das Lehrerinnenexamen sogar mit Auszeichnung bestanden; aber
– es war schon zu lange her – hier versagte ihre Kraft. Besonders die
Geduld. Das ging so langsam voran, so unsäglich langsam! War der Junge
unbegabt? Nein, aber schwerfällig, von einer zu großen Schwerfälligkeit.
Und ihr war oft, als redete sie an wie gegen eine Mauer.

»Du bist viel zu lebhaft,« sagte ihr Mann. Aber Gott im Himmel, wie
sollte sie’s ihm denn klarmachen, daß das ein ›A‹ war und das ein ›O‹,
und wie sollte sie’s ihm erklären, daß, legt man zu eins noch eins, es
zwei sind, wenn sie nicht lebhaft dabei wurde?! Sie ereiferte sich, sie
nahm die Rechenmaschine und zählte dem Knaben die blauen und roten
Kugeln vor, die wie runde Perlen an einer Schnur saßen; sie wurde heiß
und rot dabei, fast heiser, und hätte zuletzt vor Ungeduld und
Verzagtheit weinen mögen, wenn Wölfchen dasaß und sie mit seinen großen
dunklen Augen so interesselos ansah und nach Stunden der Arbeit doch
noch nicht wußte, daß eine Perle und noch eine Perle zwei Perlen
sind.

Mit Schmerz sah sie’s ein, sie mußte den Unterricht aufgeben. »Beim
Lehrer wird es schon besser gehen,« tröstete Schlieben. Und es ging
besser, wenn man auch nicht gerade ›gut‹ sagen konnte.

Wolfgang war nicht faul. Aber seine Gedanken wanderten. Das Lernen
interessierte ihn nicht. Er hatte andres zu denken: ob die letzten
Blätter im Garten wohl gefallen sein würden, wenn er am Mittag aus der
Schule nach Hause kam?! Und ob im nächsten Frühjahr der Star, dem er das
Kästchen hoch oben in die Kiefer genagelt hatte, sich wohl wieder
einfinden würde? Alle schwarzen Beeren hatte der abgepickt vom
Holunderbaum und war dann fortgezogen mit Geschrei; wenn der nun keine
Holunderbeeren mehr fand, was fraß er dann?! Und bange Sorge rüttelte
des Knaben Herz – hätte er ihm doch noch ein Säckchen voll Beeren
mitgegeben! –

Jetzt lag der Schnee auf den Kiefern des Grunewalds. Als Wolfgang heute
morgen zur Schule gegangen war, das Ränzel auf dem Rücken, das
Hausmädchen als Begleitung neben sich, hatte die weiße Decke unter
seinen Stiefelchen geknirscht und geknackt. Es war sehr kalt. Und da
hatte er einen Schrei gehört, einen hungrigen krächzenden Schrei. Das
Hausmädchen meinte, es sei eine Eule gewesen – pah, was die wußte! Ein
Rabe war’s, der hungrige Bettelmann im kohlschwarzen Röcklein, wie in
der Fibel stand!

Und an den dachte jetzt der Knabe, als er in der Schulbank saß und mit
großen Augen auf die Wandtafel starrte, an die der Lehrer Wörter
schrieb, die man ergründen sollte. Wie angenehm mußte es jetzt unter den
Kiefern sein! Da flog der Rabe und streifte mit seinen schwarzen Flügeln
den Schnee von den Ästen, daß der stäubte. Wohin er dann fliegen
mochte?! Wie dem Star, so eilten dem Raben die Gedanken nach, weit, weit
fort! Des Knaben Blick erglänzte, seine Brust hob sich unter einem
tiefen Atemzug – da rief ihn der Lehrer an.

»Wolfgang, schläfst du mit offenen Augen? Wie heißt das hier?!« Der
Knabe fuhr zusammen, wurde rot, dann blaß und wußte nichts.

Die andern Jungen wollten sich totlachen – ›schläfst du mit offenen
Augen?‹ – das war zu drollig gewesen!

Der Lehrer strafte nicht, aber Wolfgang schlich doch nach Hause, als
hätte er Strafe bekommen. Vor dem Hausmädchen, das ihn immer abholen
kam, hatte er sich versteckt – nein, mit der ging er heute nicht! Auch
den Kameraden war er davongelaufen – mochten sie sich heute mal ohne
ihn balgen, morgen würde er ihnen desto mehr Schneeballen aufbrummen!

Er ging ganz allein, bog von der Straße ab und wanderte planlos zwischen
die Kiefern hinein. Er suchte den Raben, aber der war weit fort, und so
begann auch er zu rennen, zu rennen, so rasch er nur konnte, riß den
Tornister vom Rücken und schleuderte ihn mit einem lauten Schrei weit
von sich in die breiten Äste der Kiefer hinein, daß er da hängen blieb,
und nur Schnee in ganzen Stücken lautlos herunterklexte. Das machte ihm
Spaß. Er raffte beide Hände voll Schnee, drehte feste Bälle und begann
nun die Kiefer, die seinen Tornister gefangen hielt, regelrecht zu
bombardieren. Aber sie gab den Tornister nicht her, und als er heiß und
rot und müde war, aber sehr erheitert, mußte er ohne Ränzel nach Hause
gehen.

Das Hausmädchen war längst da, als er ankam; mit rotem Kopf – so war
sie nach ihm umhergerannt – und mit bösem Blick öffnete sie ihm die
Tür. »Na,« sagte sie ärgerlich, »wohl nachsitzen müssen?«

Er stieß sie zur Seite: »Halt deinen Mund!« Sie war ihm unleidlich in
diesem Augenblick, da er von draußen hereinkam, wo es so still, so frei
gewesen war.

Die Eltern saßen schon bei Tisch. Der Vater betrachtete ihn mit
Stirnrunzeln, die Mutter fragte mit sanftem Vorwurf, der nicht frei von
Besorgnis war: »Wo bist du so lange gewesen? Lisbeth hat dich überall
gesucht!«

»Nun?« Schliebens Stimme klang streng.

Der Knabe hatte keine Antwort gegeben, es war ihm auf einmal, als sei
ihm die Zunge gelähmt. Was sollte er denen hier drinnen denn von draußen
erzählen?!

»Er hat sicher in der Schule nachsitzen müssen, gnäd’ge Frau,« flüsterte
das Hausmädchen beim Präsentieren der Bratenschüssel. »Ich werde es
morgen schon von den andern Jungens ’rauskriegen und gnäd’ge Frau dann
Bescheid sagen!«

»O du!« Der Knabe war aufgefahren; so leise sie das gelispelt hatte, er
hatte es doch gehört. Der Stuhl polterte hinter ihm zu Boden, mit
geballter Faust stürzte er auf das Mädchen los, packte es so gewaltig
an, daß es gellend aufschrie und die Schüssel aus der Hand fallen
ließ.

»Du Gans, du Gans!« Er heulte es laut heraus und wollte sie schlagen;
nur mit Mühe zerrte ihn der Vater zurück.

»Wölfchen!« Käte war die Gabel klirrend aus der Hand gefallen, mit
weiten Augen, ganz starr, sah sie auf ihren Jungen.

Das Mädchen beklagte sich bitter: so war er immer, es war nicht
auszuhalten, vorhin hatte er erst gesagt: ›Halt dein Maul!‹ Nein, das
konnte sie sich nicht gefallen lassen, lieber zog sie! Und weinend lief
sie aus dem Zimmer.

Schlieben war empört. »Du sollst gegen Untergebene manierlich sein!
Gerade weil sie dienen müssen, sollst du höflich sein! Hörst du?« Und er
faßte den Jungen mit kräftiger Hand, zog ihn übers Knie und gab ihm die
wohlverdienten Schläge.

Die Zähne zusammenbeißend, ohne Laut, ohne Träne, ließ Wolfgang die
Strafe über sich ergehen.

Aber der Mutter fiel jeder Schlag aufs Herz. Sie war selber wie
geschlagen, ganz wie zerschlagen. Als ihr Mann nach dem stürmischen
Mittagessen seine Siesta hielt, rauchte, die Zeitung las und ein wenig
dabei einnickte, schlich sie hinauf zur Kinderstube, in die der Junge
eingeschlossen worden war. Ob er weinte?

Sachte drehte sie den Schlüssel – er kniete auf dem Stuhl am Fenster,
die Nase platt an die Scheibe gedrückt, und sah aufmerksam hinaus in den
Schnee. Er bemerkte sie gar nicht; da zog sie sich vorsichtig wieder
zurück. Sie ging wieder hinunter, aber sie fand nicht die innere Ruhe,
um in ihrem Zimmer zu lesen; auf leisen Sohlen, wie rastlos, glitt sie
durchs Haus. Da hörte sie, mitten zwischen Tellergeklapper, in der Küche
Lisbeth zur Köchin sagen: »Das lasse ich mir denn doch nicht gefallen!
Von so ’nem Bengel nicht! Was hat denn der hier zu suchen?!«

Von einem lähmenden Schrecken befallen, stand Käte starr: was – was
wußte die?! Es wurde ihr glühend heiß und dann eisig kalt. ›Von so einem
Bengel nicht – was hat der hier zu suchen?‹ – o, um Gottes willen,
=so= sprach die?!

Sie lief wieder hinauf zur Kinderstube; dort kniete Wölfchen noch immer
am Fenster.

Hier hemmte noch keine Nachbarvilla die Aussicht: man sah von diesem
Fenster aus ein großes Stück unbebautes Feld, auf dem sommers Löwenzahn
und Brennessel zwischen wildem Hederich im Sande vegetierten, jetzt aber
Schnee lag, hoch und rein, von keinem Fußtritt berührt. Es dunkelte
schon der frühe Winterabend, nur dies weiße Feld schimmerte noch, und im
bleichen Schein der Schneehelle dünkte der Mutter des Kindes Gesicht
sehr blaß.

»Wölfchen!« rief sie sanft. Und dann: »Wölfchen, wie konntest du zu
Lisbeth sagen: ›Gans‹ und ›Halte dein Maul?!‹ O pfui! Woher hast du
das?!« Sie fragte es leise-traurig.

Da drehte er sich nach ihr herum, und sie sah, wie seine Augen
brannten. Es flackerte darin wie eine geängstete, unruhige Sehnsucht.

Sie sah auch das, und ganz gegen alle Regeln der Pädagogik öffnete sie
die Arme und flüsterte – als es ihr entflohen war, war ihr’s selbst
nicht klar, warum sie es gesagt hatte, hatte er doch alles, alles, was
sein Herz begehrte – flüsterte: »Du armes Kind!«

Und er lief in ihre Arme.

Sie hielten sich umfangen, Herz klopfte an Herz; sie waren beide
traurig, aber keiner von ihnen wußte, warum er selber so traurig, und
auch nicht, warum der andere so traurig war.

»Es sind nicht die Schläge,« murmelte er.

Sie strich ihm mit glättender Hand das straffe Haar aus der Stirn; sie
fragte ihn jetzt nicht mehr. Denn – stieg dort aus dem Schneefeld nicht
etwas auf, schwebte am Fenster empor und legte den Finger auf die
Lippen: ›Still, nicht fragen, nicht daran rühren?!‹

Aber sie blieb bei ihm und spielte mit ihm, ihr war, als dürfe sie ihn
heute nicht allein lassen. Ja, sie mußte sich von jetzt ab überhaupt
noch mehr um ihn kümmern! Wie eine Last fiel es ihr plötzlich auf die
Seele: sie hatte ihn schon viel zu viel sich selber überlassen! Aber
dann tröstete sie sich wieder: er war ja noch so jung, er war ja noch
ganz weiches Wachs, das sie formen konnte, wie sie wollte! So am Fenster
stehen und mit so brennenden Augen hinaus ins öde Feld starren, durfte
er nie mehr! Nach was sehnte er sich? Hatte er denn nicht Liebe die
Fülle? Und alles andre, was ein Kinderherz erfreut?!

Sie sah sich um in seinem hübschen Zimmer; da waren so viele Spielsachen
aufgestapelt: Eisenbahnen und Dampfschiffe, Bleisoldaten und
Bilderbücher und die allerneuesten Spiele.

»Komm, wir wollen spielen,« sagte sie.

Da war er gleich dabei; sie erstaunte, wie rasch er seinen Kummer
vergessen hatte. Gott sei Dank, er war doch noch ein ganz ahnungsloses,
harmloses Kind! Aber mit welcher Unrast er die Spielsachen durcheinander
warf! ›Das ist dumm‹ und ›das ist langweilig‹ – nichts fesselte ihn
recht. Sie war bald ganz erschöpft von allem Vorschlagen und Anregen zu
dem und jenem Spiel; sie glaubte nicht, daß sie je selber als Kind so
schwer zu befriedigen gewesen war. Zehnmal schon hatte sie aufstehen
wollen und fortgehen – nein, jetzt hielt sie’s wirklich nicht mehr aus,
der Kopf war ihr ganz toll, ihre Nerven sträubten sich, es war
wahrhaftig leichter, am Kochherd zu stehen oder Hausarbeit zu
verrichten, als mit einem Kind zu spielen! – aber zehnmal hielt ihr
Pflichtgefühl sie wieder fest und ihre Liebe.

Sie durfte ihn nicht allein lassen, denn – mit dumpfer Angst fühlte
sie’s – denn dann kam jemand anders und nahm ihn ihr fort!

Blaß und abgemattet blieb sie bei ihm sitzen; er hatte sie sehr gequält.
Zuletzt fand er, ganz vergessen im Winkel des Spielschranks, ein
wolliges Schäfchen, ein nur mehr dreibeiniges, zerzaustes, altes
Spielding aus seiner ersten Kinderzeit. Damit vergnügte er sich; das
machte ihm mehr Spaß als die andern kostbaren Sachen. Wie ein ganz
kleines Kind saß er auf dem Teppich, hielt das Schaf zwischen den Knieen
und streichelte es.

Als er endlich im Bette lag, saß sie noch bei ihm und hielt ihm die
Hand. Sie sang, wie sie ihn so oft eingesungen hatte:

  »Schlaf, mein süßes Kind,
  Draußen geht der Wind,
  Höre, wie der Regen fällt
  Und wie Nachbars Hündchen bellt!
  Hündchen hat den Mann gebissen,
  Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

Immer leiser hatte sie gesungen; jetzt glaubte sie ihn eingeschlafen, da
riß er ungestüm seine Hand aus der ihrigen: »Hör auf mit dem Lied! Ich
bin kein kleines Kind mehr!«

       *       *       *       *       *

Es war ein Glück, daß es in der Grunewaldkolonie keine Straßenjungen
gab, sonst hätte Wölfchen sicherlich mit denen gespielt; so waren es
doch nur Portierkinder. An besserem Verkehr fehlte es ihm freilich
nicht; von Schulkameraden, deren Eltern gleich den seinen in Villen
wohnten, wurde er eingeladen, und auch die Berliner befreundeten
Familien, die es gerne sahen, wenn ihre Kinder an Ferientagen hinaus
konnten in den Grunewald, forderten ihn zu fleißigem Besuche auf.

Alle Kinder kamen gern in den schattigen Garten, wo Tante Schlieben
immer so freundlich war. Kuchen und Obst gab’s da genug und Reifen und
Bälle und Krocket und Tennis, Kegel und Turngeräte. An sonnigen
Nachmittagen stieg helles Gelächter und Gekreisch bis hoch hinauf in die
grünen Wipfel der Kiefern, aber – Frau Käte sah’s mit Befremden – ihr
Junge, der sonst doch immer so wilde, war dann der stillste. Er machte
sich nichts aus dem Besuch. Die Knaben in weißen und blauen
Matrosenanzügen, deren frische Gesichter sich so wohlgesittet über
blendenden Kragen erhoben, waren ihm nicht lieb; er gewann keine rechte
Fühlung mit ihnen. Am liebsten wäre er davongelaufen, da weit draußen
hin, wo niemand anders ging, als ab und zu mit einem großen Sack ein
Strolch, der mit seinem Drahthaken jedes Stullenpapier wendete, um zu
sehen, ob vom Sonntag nicht vielleicht doch etwas Kostbares übrig
geblieben sei. Dem hätte er gern geholfen. Oder Kienäpfel in den großen
Sack gesammelt.

Aber Freunde hatte Wolfgang doch auch. Da war Hans Flebbe – sein Vater
war Kutscher bei dem Bankier, der schrägüber die prachtvolle Villa hatte
und im Winter in der Bellevuestraße in Berlin wohnte –, da waren auch
noch Artur und Frida; aber deren Eltern waren nur Portierleute in einer
Mietvilla, die von verschiedenen Parteien bewohnt wurde.

Sobald diese drei aus der Schule nach Hause gekommen waren, fanden sie
sich vor der Schliebenschen Villa ein; sie waren nicht wegzutreiben,
geduldig warteten sie, bis Wolfgang sich zu ihnen gesellte.

»Mit meinem Hans ist er wie ’n Bruder,« pflegte der Kutscher zu sagen
und Wolfgang immer mit einem ganz besonders herablassenden
Peitschenschwippen hoch vom Bock zu begrüßen. Und die Portierleute
stellten befriedigend fest: »Was er, der olle Schlieben is, der faßt
immer an ’n Hut, und sie, die Jnädige, jrüßt auch immer sehr freundlich,
aber was der Kleene is, der is doch noch janz anders!«

Es waren wilde Spiele, bei denen Frida ganz als Junge gerechnet wurde,
die die vier Kameraden spielten: Nachlaufen, Versteck, am liebsten
Räuber und Gendarm. Ha, wie Wolfs, des Räuberhauptmanns, Augen
funkelten, wenn er dem Gendarmen, Hans Flebbe, einen Tritt gegen den
Bauch gab, daß er hintenüber zu Boden fiel und vor Schmerz eine Weile
starr liegen blieb.

»Ich habe ihn erschossen,« sagte er stolz zu seiner Mutter.

Käte, durch das wilde Schreien der Kinder, die auf dem unbebauten Feld
der Villa rasten, ans Fenster gerufen, hatte ihren Knaben hereingewinkt.
Widerwillig war er gekommen; aber er war doch gekommen. Jetzt stand er
atemlos vor ihr, und sie strich ihm das feuchte Haar aus dem
schweißüberströmten Gesicht: »Wie siehst du aus?! Und hier – sieh
mal!«

Vorwurfsvoll wies sie auf seine weiße Bluse, die war von oben bis unten
beschmutzt. Wo um alles in der Welt nur hatte er sich gesielt, es gab ja
hier gar nicht solche Pfützen?! Und die Hose! Das rechte Bein war der
Länge nach aufgeschlitzt, das linke zeigte am Knie ein dreieckiges
Loch.

Pah, das machte nichts! Schon wollte er wieder fortstürmen, er zitterte
vor Ungeduld: die Kameraden hockten ja hinterm Busch, die trauten sich
nicht eher heraus, als bis er, ihr Hauptmann, wieder bei ihnen war! Er
wehrte sich gegen die haltende Hand; aber sein Sträuben half diesmal
nichts, der Vater kam aus dem Nebenzimmer.

»Du bleibst hier! Pfui, schäme dich, dich der Mutter zu widersetzen!
Marsch, auf dein Zimmer, mach deine Schularbeiten für morgen!«

Schlieben sagte es barsch. Es hatte ihn empört, zu sehen, wie der Junge
sich mit Händen und Füßen der zarten Frau widersetzte.

»Du Rüpel, ich will dich lehren, wie man mit seiner Mutter umgeht! Hier«
– er packte ihn ins Genick und schleifte ihn wieder näher heran –
»hier, bitt ab, küsse der guten Mutter die Hand! Und versprich, daß du
nicht mehr so wildern wirst, wie ein Straßenjunge! Voran – nun, wird’s
bald?!«

Die Zornesader auf des Mannes Stirn fing an zu schwellen. War das ein
bockiger Bengel! Da stand er, die Bluse vorn auseinander gerissen, daß
man das Fliegen der verschwitzten Brust sah – noch hatte er nicht
ruhigen Atem gefunden, er keuchte noch vom wilden Lauf – und sah so
verwildert aus, so verwüstet, so gar nicht wie guter Leute Kind! Das
ging nicht länger so!

»Du wirst nicht mehr so toben – nie mehr – hörst du?« sprach der Vater
streng. »Ich verbiete es; spiele andre Spiele! Du hast einen Garten,
Turngeräte, hundert Sachen, um die dich andere beneiden würden. Und
jetzt voran, bitte ab!«

Der Knabe ging zur Mutter. Sie kam ihm auf halbem Wege entgegen, sie
hielt ihm schon die Hand hin. Er küßte diese, er murmelte auch: »Ich
will es nicht wieder tun,« aber Schlieben hörte keine Reue heraus. Es
war etwas in dieser verdrossenen Art, das ihn reizte. Und er ließ sich
hinreißen.

»Das war keine Abbitte! Wiederhole die Bitte um Verzeihung – und
deutlich!«

Der Knabe wiederholte sie.

»Und nun versprich, daß du nicht mehr so toben wirst! ›Liebe Mutter, ich
verspreche‹ – nun?!«

Kein Wort, kein Versprechen.

»Was soll das heißen?« Außer sich schüttelte Schlieben den Jungen. Der
aber preßte die Lippen aufeinander. Von unten herauf traf ein Blick
seiner dunklen Augen den Vater.

Frau Käte fing den Blick auf – o Gott, das war der Blick – jener Blick
– der Blick des Weibes!

Schützend hielt sie beide Arme über den Knaben: nicht, nicht, o, nicht
ihn reizen! Sie zog ihn näher zu sich und legte ihre Hände über seine
Augen, daß er sie schließen mußte, und flehte dabei mit den Blicken
ihren Mann an: Geh, geh du!

Schlieben ging, aber er schüttelte unwillig den Kopf. »Du wirst sehen,
was du aus dem Jungen erziehst!« Drohend hob er noch einmal die Hand:
»Junge, ich sage dir, du wirst parieren!« Und dann machte er die Tür
hinter sich zu – nicht einmal seine Mittagsruhe konnte man mehr
ungestört halten!

Vom Nebenzimmer aus hörte er die Stimme seines Weibes. Die klang so
weich und dabei zitternd, wie in geheimer Angst: »Wölfchen, Wölfchen,
bist du nicht mein gutes Kind?«

Keine Antwort. Herr des Himmels, dieser fühllose Rüpel, hatte er auf
diese Frage, in diesem Ton, keine Antwort?!

Nun wieder die weiche, zitternde Stimme: »Willst du denn nicht mein
gutes Kind sein?«

Wenn der Bengel jetzt nicht antwortete, dann –! Dem wider Willen
Zuhörenden stieg das Blut zu Kopf, es zuckte in seinen Fingern, er
wollte aufspringen, wieder hineineilen und – aha, jetzt mußte er
geantwortet haben! Freilich wohl nur durch ein stummes Nicken, aber
Kätes Stimme klang innig erfreut: »Siehst du, ich wußte es ja, du bist
mein gutes Kind, mein geliebtes Kind, mein – mein –!«

Nun, das war wahrhaftig auch nicht vonnöten, daß, nachdem der Junge eben
noch so ungezogen gewesen war, Käte jetzt solche Liebestöne an ihn
verschwendete! Und geküßt mußte sie ihn haben, umarmt! Ihre Stimme war
erstorben wie in einem zärtlichen Hauch.

Nun hörte Schlieben gar nichts mehr; kein Rauschen ihres Kleides, keinen
Laut – aha, jetzt flüsterte sie wohl in ihn hinein?! Wie sie den Bengel
verwöhnte!

Doch jetzt – ein leises Weinen! War das noch Wolfs etwas harte,
trotzige Knabenstimme? Wirklich, er weinte jetzt laut, und unterm
Schluchzen stieß er kläglich hervor, kaum, daß man’s verstehen konnte:
»Ich mußte ihn – aber doch erschießen – er ist doch der Gendarm!«

Und nun war alles wieder still. Schlieben nahm die Zeitung auf, die er
vorhin weggeworfen hatte, und begann zu lesen. Aber er war nicht recht
bei der Sache, hartnäckig wanderten seine Gedanken immer wieder ins
Nebenzimmer. War der Bengel nun vernünftig, sah er seine Ungezogenheit
ein? Und war Käte nicht gar zu schwach?! Es war nichts, gar nichts mehr
zu hören. Oder doch – knarrte jetzt drinnen nicht die Tür? Nein,
Täuschung, alles still!

Nachdem Schlieben noch eine Weile gewartet hatte, ging er hinüber. Da
war es in der Tat sehr still, denn Käte war ganz allein. Sie saß am
Fenster auf dem erhöhten Tritt, hatte die Hände in den Schoß gelegt und
sann vor sich hin. Sie schien ganz abwesend.

»Wo ist der Junge?«

Erschrocken fuhr sie zusammen und hob wie abwehrend beide Hände.

Nun sah er, daß sie blaß war. Der Ärger mit dem Jungen hatte sie doch
wohl sehr angegriffen – wart, das sollte er büßen, doppelt so viel
Exempel rechnete er heute zur Strafe!

»Ist der Junge bei der Arbeit?«

Sie schüttelte den Kopf und errötete. »Nein!«

»Nein –?! Warum denn nicht?« Er sah sie sehr erstaunt an. »Habe ich ihm
denn nicht gesagt: sofort an die Arbeit?!«

»Das hast du gesagt. Aber ich habe ihm gesagt: lauf! – Paul, sei nicht
böse!« Sie sah, daß er auffahren wollte und legte beschwichtigend die
Hand auf seinen Arm. »Wenn du mich lieb hast, laß ihn! Ach, Paul, glaube
mir, glaube mir doch: er kann ja nicht dafür, er muß sich ausrennen,
austoben, draußen sein – er muß!«

»Du hast immer Entschuldigungen! Denke doch nur an die Geschichte mit
dem Tornister, aus seiner ersten Schulzeit – oben in die Kiefer hatte
der Bengel den geworfen. Hätte nicht zufällig ein Arbeiter den Ranzen
entdeckt und zu uns gebracht, weil er den Namen auf der Fibel las,
hätten wir lange suchen können. Du hast es entschuldigt – nun, das war
auch weiter nichts Schlimmes – ein Übermut – jetzt entschuldigst du
aber ganz anderes! Und alles!« Der seiner Frau sonst so nachgiebige Mann
erzürnte sich in seiner ernstlichen Besorgnis. »Ich bitte dich, Käte,
sei nicht so unglaublich schwach mit dem Jungen! Wo soll das hin mit
ihm?«

»Dahin!« Ernst zeigte sie auf ihn und sich. Und dann, mit einem Ausdruck
tief-innerster Empfindung legte sie die Hand auf ihr Herz.

»Wieso? Ich verstehe dich nicht! Bitte, habe die Güte, dich etwas
deutlicher auszudrücken, zum Rätselraten bin ich nicht gelaunt!«

»Wenn du’s nicht errätst, wirst du’s auch nicht verstehen, wenn ich es
deutlicher sage!« Sie senkte den Kopf, und dann nahm sie wieder ihren
früheren Platz ein; aber sie sann nicht mehr vor sich hin, sondern es
schien ihm, als lausche sie mit geneigtem Ohr dem gellenden
Triumphgeschrei, das hinterm Haus von dem wüsten Feld her bis übers Dach
stieg.

»Du wirst nie mit dem Jungen fertig werden!«

»O, ich werde schon!«

»Natürlich, wenn du ihm allen Willen läßt!« Mit eiligem Schritt ging
Schlieben aus dem Zimmer; der Unwille wollte ihn übermannen.

Vielleicht zum ersten Mal in seiner Ehe war Schlieben ernstlich böse auf
seine Frau. Wie konnte Käte so unvernünftig sein?! Seinen Befehl so
wenig beachten, als wäre der gar nicht gegeben – ja, sich in direkten
Gegensatz zu ihm stellen?! O, der Bengel war schlau genug, der zog schon
seine Schlüsse daraus! Und tat er’s noch nicht, so fühlte er doch
instinktiv, welchen Rückhalt er an der Mutter hatte. Es war geradezu
unglaublich, wie schwach Käte war!

Die weiche, sensitive Art, die den Mann zuerst an seiner Frau entzückt
hatte, die den gleichen Zauber für ihn behalten hatte alle die Jahre
hindurch, dünkte ihn jetzt auf einmal übertrieben – kindisch. Ja,
kindisch war diese Ängstlichtuerei, diese ewige Angst vor dem, was
vorbei und vergessen war! Von der Mutter hatten sie doch nie mehr etwas
gehört, warum deren Schatten denn bei jeder Gelegenheit wieder
heraufbeschwören? Geburtsschein und Taufattest des Jungen hatte man doch
sicher in Händen, und das Venn war weit – er würde es nie sehen –
warum denn nur immer das zitternde Bangen? Es lag gar kein Grund dazu
vor. Sie lebten in so angenehmer Umgebung, Wolf wuchs in so geordneten
Verhältnissen auf, besaß alles, was ein Kindergemüt ausfüllt und
beglückt, daß es eine wahr Manie von Käte war, bei ihm eine Art von
Heimatsehnsucht vorauszusetzen. Wie sollte er überhaupt dazu kommen? Er
hatte ja gar keine Ahnung, daß hier eigentlich nicht seine Heimat war.
Es war traurig mit Kätes Überempfindlichkeit – wahrhaftig, die Frau
konnte einen mit nervös machen!

Und Schlieben fuhr sich über die Stirn, wie um unliebsame Gedanken mit
einer Handbewegung fortzuscheuchen. Er zündete sich eine Zigarre an;
heute eine extra feine, die er sonst seinen Gästen überließ, er hatte
das Gefühl, sich über eine unangenehme Stunde forthelfen zu sollen. Denn
unangenehm, wirklich unangenehm und schwierig blieb die Sache doch, wenn
er auch hoffte, schon auf die richtige Lösung der Frage zu kommen: wie
erzieht man solch ein Kind? Jedenfalls nicht so, wie Käte es tat! Das
war ihm schon jetzt klar.

Blaue Rauchkringel in die Luft blasend, saß Schlieben in der Sofaecke
seines Arbeitszimmers. Seine Stirn blieb gerunzelt. Da war er heute
recht abgespannt aus dem Kontor gekommen, hatte allerlei Verwicklungen
gehabt – Ärger genug – hatte eilige Briefe diktieren müssen, sich
keine Pause gegönnt, und hatte nun zu Hause ein angenehmes Ausruhen
erhofft – vergebens! Merkwürdig, wie ein einziges Kind den ganzen
Haushalt, das ganze Leben verändert! Wenn der Junge nun nicht da wäre –
– –?! Ja, dann hätte er jetzt eine friedliche kleine Mittagsruhe –
ausgestreckt auf dem Diwan, die Zeitung vorm Gesicht – hinter sich und
ginge nun zu Käte hinüber, um bei ihr in höchst gemütlichem Tête-à-tête
den Kaffee zu trinken, den sie mit so viel Anmut in der summenden Wiener
Maschine selber bereitete. Er hatte immer so gern still zugesehen, wie
ihre schlanken, gepflegten Hände sich geräuschlos dabei bewegten.
Schade!

Er seufzte. Aber dann bezwang er sich: nein, einer augenblicklichen
Verdrießlichkeit wegen durfte man ihn nicht wegwünschen! Wie viel frohe
Stunden hatte ihnen das kleine Wölfchen doch bereitet! Es war reizend
gewesen, seine ersten Schritte zu beobachten, seine ersten
zusammenhängenden Worte zu belauschen. Und war nicht Käte in seinem
Besitz so glücklich – oho, wer sagte da: glücklich =gewesen=?! – sie
war es ja noch! Es ging ihr nichts über den Jungen. Und daß der Stunden
des ungetrübten Beglücktseins durch ihn jetzt nicht mehr ganz so viele
waren als vormals, das war ja nur natürlich. Er war eben nicht mehr das
Bübchen, das dort, dort drüben aus jener Ecke bis hierher zum Sofa den
ersten kühnen Lauf gewagt und, jauchzend über den eignen Wagemut, des
Vaters Bein umklammert hatte. Er fing jetzt an, ein selbständiger Mensch
zu werden, einer mit eignen Wünschen, nicht mehr mit solchen, die in ihn
hineingetragen worden waren; ureigne Willensäußerungen gaben sich kund.
Jetzt wollte er dies und wollte jenes und nicht nur mehr das, was die
Erzieher wollten. War das aber nicht natürlich? Überhaupt, wenn ein Kind
erst in die Schule geht, was stellt sich da nicht alles ein?! Man mußte
Nachsicht haben, wenn man sich nicht auch gleich die ganze Lebensführung
beeinflussen lassen wollte – erst die Eltern, dann das Kind!

Schlieben fühlte, wie er sich nach und nach beruhigte. Ein Junge –
welche Unsumme von Wildheit, Rüpligkeit, Ungebundenheit, ja
Ungebärdigkeit ist nicht in =dem= Wort mit einbegriffen! Und alle, alle,
die jetzt Männer waren, waren einst doch auch Jungen!

Die Zigarre ging ihm aus; er hatte vergessen, daran zu ziehen. Mit einem
eigentümlich milden Gefühl, das nicht frei von einer leisen Sehnsucht
war, gedachte Schlieben der eignen Knabenzeit. Nur ehrlich: hatte er
nicht auch getobt und gelärmt, sich beschmutzt, erhitzt und Hosen
zerrissen und dumme Streiche gemacht, mehr als genug?!

Wunderbar, wie genau er sich jetzt auf einmal einzelner Strafpredigten
erinnerte und der Tränen, die er der Mutter ausgepreßt hatte; auch noch
sehr deutlich der Tracht Prügel, die er einmal für eine Lüge erhalten
hatte. Sein Vater hatte dazumal gesagt – plötzlich war’s ihm, als hörte
er die Stimme, die sonst gar nicht sonderlich feierlich, sondern recht
alltäglich geklungen hatte, jetzt aber durch den Ernst geadelt wurde,
hier in der Stube widerhallen –: ›Junge, alles kann ich dir verzeihen,
nur das Lügen nicht!‹ Ah, es war damals recht unerquicklich gewesen in
dem engen Kontor, wo der Vater am hölzernen Stehpult lehnte und den
Stock auf dem Rücken hielt. Das Käppchen, das er seiner Glatze wegen
trug, hatte er in der Erregung schief geschoben, seine blauen
freundlichen Augen blickten scharfspähend und zugleich betrübt.

›Alles kann man verzeihen, nur das Lügen nicht‹ – ei, hatte der Junge,
der Wolfgang, denn gelogen?! Bewahre! Einfach ungezogen war er gewesen,
wie es auch die besten Kinder einmal sind!

Schlieben fühlte eine Beschämung: und er, er wollte dem Jungen diese
einfache Ungezogenheit so übel nehmen?!

Er stand vom Sofa auf, stieß den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher
und ging hinaus, um sich nach Wolfgang umzusehen.

Er traf die vier im vollen Glück des Spiels. Sie hatten sich ein
Feuerchen angezündet auf dem unbebauten Land dicht hinterm Gartengitter,
so daß die überhängenden Büsche des Gartens sie wie ein Dach
beschützten.

Eng hockten sie zusammen; sie waren jetzt im Lager. Frida hielt
Kartoffeln in der Schürze, die in der Asche gebraten werden sollten;
aber das Feuerchen wollte nicht brennen, das Reisig schwelte nur.
Wolfgang lag bäuchlings auf der Erde und blies, auf die Ellenbogen
gestützt, mit aller Kraft seiner Lungen. Aber die reichte doch nicht
aus, das Feuer wollte und wollte nicht brennen.

Leise war Schlieben herangekommen, in ihrem Eifer hatten die Kinder ihn
gar nicht bemerkt. »Will’s nicht brennen?« fragte er.

In einem heftigen Emporschnellen war Wolfgang sofort auf den Füßen. Er
war rot und frisch gewesen, nun wurde er blaß, sein offener Blick senkte
sich scheu, ein trübseliger Ausdruck verlängerte sein rundes
Kindergesicht und ließ ihn älter erscheinen.

»Muß ich ’reinkommen?« Es klang kläglich.

Schlieben überhörte die Frage mit Absicht; er hatte ihn eigentlich
hereinholen wollen, aber nun zögerte er plötzlich zu sagen: ja. Es war
doch hart für den Jungen, nun fortzumüssen, ehe das Feuerchen brannte,
ehe die Kartoffeln gebraten waren! So sagte er nichts, sondern bückte
sich, und als er doch noch nicht tief genug herabkam, kniete er nieder
und blies mit dem vollen Odem seiner breiten Brust in das
schwach-knisternde Gezweig. Sofort sprühten Funken, und ein
aufzüngelndes Flämmchen wurde rasch zur Flamme.

Ein Jauchzen stieg auf. Frida hüpfte im Kreis, ihre Zöpfe flogen: »Et
brennt, et brennt!« In ihren Jubel stimmten Artur und Hans mit ein; auch
sie hüpften von einem Fuß auf den andern, klatschten in die beschmutzten
Hände und schrieen gellend: »Et brennt, et brennt!«

»Kinder, Ruhe!« Schlieben war amüsiert durch diese Seligkeit. Er
kommandierte: »Reisig her, aber recht trockenes,« selber von einem Eifer
erfaßt, diese noch unsichere, bald sich duckende, bald hoch
aufflackernde Flamme zu erhalten. Er blies und stocherte und feuerte
nach; der Wind trieb ihm den Rauch ins Gesicht, daß er husten mußte,
aber er wischte sich die tränenden Augen und hatte auch nicht acht, daß
sein Beinkleid vom Knieen auf dem Grund grünlich-nasse Flecke bekam und
etwaige Vorübergehende sich sehr wundern würden, Herrn Paul Schlieben
bei solcher Beschäftigung zu sehen. Es machte ihm jetzt selber Spaß,
unterm blaßblauen Herbsthimmel, an dem die weißen Wolken flogen und die
Schwalben zwitschernd dahinschossen, ein Kartoffelfeuerchen zu
unterhalten. Er hatte so etwas nie gekannt – war er doch ein Stadtkind
– aber es war schön, wirklich schön!

Die Kinder trugen Reisig zu, Wolfgang nahm’s und brach es überm Knie –
knack – die Stecken sprangen wie Glas. Wie der Junge das im Griff
hatte!

Hoch loderte die Flamme, eine behagliche Wärme strömte vom Feuerchen
aus: da mußte man sich die Hände dran wärmen können – wahrhaftig, es
tat gut!

Und dann folgte des Mannes Auge dem Rauch, den der Wind vom Acker
aufhob, einem leichten Wölkchen gleich. Grau erschien erst das Wölkchen,
doch je höher es flog, desto lichter wurde es, freundlicher Sonnenschein
durchschimmerte es verklärend. Es schwebte hinauf, immer hinauf, immer
körperloser, ungreifbarer, bis es ganz verflog – ein Ahnen, ein
Hauch.

Es war nun an der Zeit, die Kartoffeln einzubuddeln; Wolfgang war
geschäftig dabei. Man hatte nicht mehr geschürt, die Flamme war
zusammengesunken, aber die Asche barg die ganze Glut. Mit großen Augen
standen die Kinder herum, ganz still, fast den Atem anhaltend, und doch
zitternd vor Erwartung: wann würde die erste Kartoffel gar sein?! Ah,
roch es nicht schon so gut?! Witternd blähten sie die Näschen. Aber
Schlieben klopfte jetzt seine Beinkleider ab und schickte sich zum Gehen
an – es würde doch zu lange dauern, bis die Kartoffeln fertig waren!
Fast empfand er etwas wie Bedauern. Aber es ging wirklich nicht, daß er
noch länger hier umherstand, was sollten die Leute eigentlich von ihm
denken?!

Schlieben hatte sich jetzt selber wiedergefunden. »Genug jetzt,« sagte
er, und dann ging er, sorgsam die aufgebuddelten, unwegsamen Stellen des
Feldes vermeidend. Da hörte er Tritte dicht hinter sich. Er drehte sich
um: »Wolf?! Nun, was willst du?«

Die dunklen Augen des Knaben sahen ihn traurig an.

»Gehst du auch nach Hause?« Ein Erstaunen lag in Schliebens Frage – er
hatte doch gar nicht gesagt, daß der Junge mitkommen sollte?!

Ein herrlicher Duft kam von den Kiefern her, die Luft atmete sich so
frei, so leicht, und dieser blaßblaue Himmel mit den gewischten weißen
Wolken, hatte etwas so ungemein Klares, den Blick Erhellendes. Weiße
Fäden flogen über Land, vom reinen Ost getrieben, hingen sich an
grünbenadelte Äste und schimmerten da wie Elfengespinst. Und die Sonne
war noch angenehm warm, ohne zu brennen, und ein kräftigender,
bitterlich-herber Geruch strömte von den goldfarbenen Blättern der
Büsche, die die Rückseiten der Gärten abschlossen.

Der Mann holte tief Atem; ihm war, als sei er plötzlich um zehn, um
zwanzig – nein, um dreißig Jahre jünger. Um mehr noch!

»Na, lauf nur,« sagte er.

Der Knabe sah ihn an, als habe er ihn nicht recht verstanden.

»Lauf,« sagte er noch einmal kurz und bündig und lächelte dabei.

Da stieß der Junge einen Schrei aus, einen so gellend-jauchzenden
Schrei, daß die Kameraden, die auf den Hacken ums Kartoffelfeuerchen
kauerten, sofort mit einstimmten, ohne zu wissen warum.

Im dunklen Auge des Knaben, der die Freiheit liebte, die freie Luft, den
freien Lauf, flammte es auf. Er sagte es nicht, daß er beglückt war,
aber er schöpfte so tief Atem, als fiele ihm eine Last von der Brust.
Und Schlieben sah auf dem Gesicht, das jetzt anfing sich zu vergröbern,
die weiche Rundung der Kindlichkeit im Mager-Jungenhaften zu verlieren,
einen Zug, der es fein und schön machte.

Blitzschnell, wie aus straffem Bogen geschnellt, flog Wolfgang zurück
übers Feld.

Schlieben ging in seinen Garten zurück; vorsichtig, damit sie nicht
knarrte, öffnete er die Gittertür und schloß sie ebenso leise wieder –
Käte brauchte es nicht zu wissen, wo er gewesen war! Aber da stand sie
schon am Fenster.

Es war etwas rührend Ratloses in ihrer Haltung, ein bängliches Forschen
in ihrem Blick – nein, sie brauchte ihn so nicht anzusehen, er war ihr
nicht böse!

Und er nickte ihr zu.

Als das Hausmädchen fragte, ob der Herr nicht wisse, wo der Junge sei,
schon dreimal habe sie nun die Milch warm machen lassen und auf- und
abgetragen, sagte er fast kleinlaut, mit einer Entschuldigung im Ton:
»Na, das ist ja nicht so schlimm, Lisbeth! Wärmen Sie sie nachher zum
vierten Mal – es ist ihm so gesund draußen!«




Zweites Buch




1


Frida Lämke feierte ihren zehnten Geburtstag. »Därfst du kommen, kriegen
wer Kuchenschnecken mit Rosinen, aber därfst du nich kommen, jibt’s nur
Schrippen wie alle Tage,« sagte sie zu ihrem Freund Wolfgang. »Sieh man
zu, det se dir lassen!« Es lag ihr am meisten daran, daß Wolfgang kam;
wegen Flebbe wurden keine Unterschiede gemacht, obgleich der immer
sagte, sie wäre seine Braut.

Und Wolfgang quälte seine Mutter. »Laß mich doch hingehen – warum denn
nicht? Ich möchte doch so gern – warum denn nicht?!«

Ja, warum denn nicht?! Mit diesem Warum lag er ihr seit vierundzwanzig
Stunden in den Ohren; es zermürbte sie ganz. Was sollte sie ihm sagen –
daß ihr Frida mißfiel? Aber was hatte das Mädchen denn eigentlich getan,
daß es ihr mißfiel? Nichts! Es knickste immer höflich, war stets
ordentlich gekleidet, hatte sogar das blaue Band mit einer gewissen
Anmut in den blonden Zopf geflochten. Die Eltern waren auch ganz
respektable Leute, und doch – immer trieben sich diese Kinder auf der
Straße herum, jederzeit, sommers und winters! Man mochte vorbeikommen,
wann man wollte, immer waren die Lämkes vor der Tür! War es die Straße
selber, die sie aus diesem stupsnasigen, für sein Alter sehr
entwickelten Mädchen ansah? Nein, zu diesen Leuten hingehen, ins Haus,
hinuntersteigen in diese Atmosphäre der Portierstube, nein, das durfte
er nicht!

»Ich möchte nicht, daß du hingehst,« sagte sie. Sie hatte doch nicht das
Herz, diesen bittenden Augen gegenüber zu sagen: ›Ich will es nicht!‹

Und das Kind ersah seinen Vorteil. Es fühlte deutlich: ›sie kämpft mit
sich‹, und mit einer grausamen Hartnäckigkeit verfolgte es seinen
Wunsch.

»Laß mich doch – ach, laß mich doch! Ich bin aber sehr traurig, wenn
ich nicht darf. Dann hab ich zu nichts mehr Lust. Warum soll ich denn
nicht? Mutti, ich will dich auch so liebhaben, wenn du mich gehen läßt
– laß mich – ja? Ich will aber doch!«

Sie konnte sich nicht mehr retten vor ihm, er ging ihr nach auf Schritt
und Tritt, er faßte ihr Kleid, und – wenn sie’s ihm auch verwies, die
Bitte noch öfter zu wiederholen –, sie fühlte es, er dachte doch
unablässig das eine. So zwang er sie.

Schlieben verhielt sich weit weniger ablehnend gegen diese Einladung von
Lämkes. »Warum nicht? Es sind ja ganz anständige Leute. Das schadet dem
Jungen nichts, wenn er auch mal in =die= Kreise hineinguckt. Ich bin
auch als Junge zu unsern Leuten in die Wohnung gekommen. Und warum denn
nicht?!«

Sie wollte sagen, ›Das war auch etwas ganz andres, bei dir hatte es
keine Gefahr‹ – aber dann besann sie sich und sagte es nicht. Sie
wollte ihm nicht schon wieder mit ihren Befürchtungen, ihren Zweifeln,
ihrer geheimen nagenden Angst kommen, die keinen greifbaren Grund hatte,
sich nicht deutlich machen ließ, wie man am Ende jede andre Empfindung
erklären kann. Wie ein sinkender Nebel schwebte stets etwas über ihr.
Aber warum es ihm sagen?! Sie wollte sich weder darüber schelten noch
darüber auslachen lassen; beides würde ihr gleich empfindlich sein. Er
war ja nicht mehr so wie früher! O – sie empfand es mit einer leisen
Bitterkeit – hatte er sie doch vormals verstanden! Jede Regung, jede
Schwingung ihrer Seele hatte er mitgefühlt. Dieses ahnende Verstehen war
ihm abhanden gekommen – oder verstand =sie= ihn vielleicht nicht
mehr?!

Aber er war doch noch ihr lieber Mann, ihr guter, getreuer, den sie
liebte wie sonst auf der Welt nichts mehr – nein, den sie so liebte,
wie sie Wölfchen liebte! Das Kind, ach, das Kind, das war die Sonne, um
die sich ihr Leben drehte!

Wenn Paul doch noch so wäre, wie er früher gewesen war! Sie mußte ihn
jetzt so oft heimlich ansehen und sich mit einer gewissen Verwunderung
auch in seine äußere Persönlichkeit hineinfinden. Nicht daß ihm das
Breiterwerden schlecht stand; die Fülle, die seine schlanke Gestalt mit
der einst etwas steifen, immer korrekten Haltung angenommen hatte, paßte
zu seinen Jahren, zu den silbrigen Fäden, die im Bart und an den
Schläfen zu schimmern begannen. Paßte zu der bequemen Samtjoppe, die er
jetzt immer anzog, sowie er nach Hause kam, paßte zu seinem ganzen
Wesen. Merkwürdig, daß jemand ein so praktischer Mensch werden konnte,
dem früher alles Geschäftliche lästig, ja, höchst zuwider war! Jetzt
würde er nicht mehr das fremde Kind aus dem Venn auflesen, und – einen
langen Blick heftete Käte auf den Gatten –, jetzt würde er’s nicht mehr
bei sich aufnehmen wie eine Gabe aus Märchenland!

Ob die Jahre auch sie so verändert hatten?! Ihr Spiegel zeigte ihr keine
zu große Veränderung. Da war noch ganz dieselbe mädchenhafte Figur, die
doppelt zart erschien neben der Behäbigkeit des Gatten. Noch war ihr
Haar blond, und sie errötete noch wie ein junges Mädchen, dem schon ein
streifender Blick das leicht bewegliche Blut unter die zarte Haut
treibt. Ja, äußerlich war sie noch jung geblieben! Aber innerlich
überkam sie doch oft eine Müdigkeit. Wolf machte ihr den Kopf gar so
warm. Eine Mutter, die zehn, fünfzehn Jahre jünger war als sie, die
würde es vielleicht nicht gleich ihr empfinden, wieviel Kräfte solch ein
Kind kostet! Würde die nicht noch lachen, wenn es =ihr= schon zum Weinen
war?

O Gott, welch ungestüme, unerschöpfliche Lebenskraft war in diesem
Jungen! Sie war erstaunt, verwirrt, erschöpft davon. Wurde er denn nicht
müde? Immer auf den Beinen, um sechs schon auf, immer heraus, heraus!
Schon um Tagesgrauen hörte sie ihn sich rastlos werfen. Er schlief neben
ihnen, die Verbindungstür nach seinem Zimmer blieb immer auf, obgleich
ihr Mann darüber schalt: der Junge wäre groß genug, brauchte die
Aufsicht nicht. Nachts wenigstens könnte man sich die Störung ersparen!

Aber sie wollte, sie mußte auch seinen Schlaf bewachen. Oft hörte sie
ihn sprechen im Traum, so tief Atem holen, als beenge ihn etwas. Dann
schlüpfte sie aus dem Bett, leise, leise, damit ihr Mann sie nicht
hörte, zündete kein Licht an, suchte sich tastend, auf bloßen Füßen, den
Weg ins Nebenzimmer. Und dann stand sie an seinem Bett. Noch hatte er
das hübsche Gitterbett seiner ersten Knabenjahre – aber wie lange noch,
und dies Bett war zu klein?! Wie er wuchs, so unheimlich schnell!
Vorsichtig, mit leichter Hand, fuhr sie über seine Decke und fühlte
darunter den langgestreckten Knabenleib. Jetzt warf er sich, stöhnte,
bäumte sich auf wie einer, der gegen etwas anringt. Was hatte er nur?
Jetzt sprach er undeutlich. Von was träumte er denn so lebendig? Er
schwitzte über und über.

Wenn sie ihn nur sehen könnte! Aber sie traute sich nicht, Licht zu
machen. Was sollte sie ihrem Mann sagen, wenn er, vom Lichtschein
geweckt, sie fragen würde: ›Was machst du denn da –?‹ Und Wölfchen
würde auch aufwachen und fragen: ›Was willst du denn?‹

Ja, was wollte sie denn eigentlich?! Darauf wußte sie sich keine
bestimmte Antwort. Wissen hätte sie nur mögen, was seine Seele im Traum
so beschäftigte, daß er seufzte und rang. Von was träumte er? Von wem?!
Wo war er im Traum?!

Zitternd stand sie auf ihren bloßen Füßen an seinem Bett und lauschte.
Und dann beugte sie sich über ihn, so dicht, daß sein Atem, unruhig und
heiß, ihr Gesicht anwehte, und hauchte wiederum ihn an – mengten sie
nicht so ihre Atemzüge, gab sie ihm nicht so Odem von ihrem Odem? – und
flüsterte leise und doch so eindringlich, bittend und beschwörend
zugleich: »Die Mutter ist hier, die Mutter ist bei dir!«

Aber mit einem Ruck warf er sich auf die andre Seite, drehte ihr den
Rücken zu und murmelte. Lauter Unverständliches, selten ward ein Wort
deutlich, aber es war genug auch so; sie fühlte: er war nicht hier,
nicht bei ihr – weit fort! Suchte seine Seele im Traum die Heimat, die
er nicht kannte, die er nicht einmal ahnen konnte und die doch so
mächtig war, daß sie ihn, auch unbewußt, an sich zog?!

Von einer Unruhe ohnegleichen gepeinigt, stand Käte an Wolfgangs Bett:
eine Mutter und doch keine Mutter! Ach, sie war ja nur eine fremde Frau
am Bett eines fremden Kindes!

Und sie schlich sich zurück auf ihr Lager und vergrub ihre hämmernde
Stirn tief in die Kissen. Heftig fühlte sie ihr Herz pochen, und sie
schalt sich selber darüber, daß sie sich so unnütze Gedanken machte. Sie
änderte ja nichts dadurch, ward nur müde und traurig.

Wenn Käte nach solchen Nächten aufstand, fühlte sie den besorgten Blick
ihres Mannes, und ihre Hände, die das reiche Haar aufsteckten,
zitterten. Gut, daß ihr eine Nadel entfiel, da konnte sie sich doch
rasch bücken und ihr überwachtes Gesicht mit den umschatteten Augen
seinen forschenden Augen entziehen. –

»Ich bin wieder gar nicht mit dem Befinden meiner Frau zufrieden,«
klagte Schlieben dem Arzt. »Sie ist wieder schrecklich nervös!«

»So?!« Geheimrat Hofmanns freundliches Gesicht wurde energisch. »Ich
will Ihnen was sagen, lieber Freund, da gehn Sie nur gleich dagegen
an!«

»Das nützt nichts!« Schlieben schüttelte den Kopf. »Ich kenne doch meine
Frau. Der Junge macht’s, der verdammte Junge!«

Und er nahm sich Wolfgang vor. »Hör mal, du mußt die Mutter nicht immer
so quälen! Merke ich noch einmal, daß sie sich über dich kränkt, weil du
ungezogen bist, so sollst du mich kennen lernen!«

Quälte er denn die Mutter?! Wolfgang machte ein verdutztes Gesicht. Und
ungezogen war’s doch auch nicht, wenn er gern zu Lämkes wollte! Das
quält, wenn man innen sitzen muß, während draußen der Wind pfeift und
einem so lustig das Haar zerwühlt! Und das quälte ihn auch, daß er heute
nicht zu Lämkes sollte.

»So geh nur hin,« sagte Käte. Sie fuhr sogar noch vor Tisch nach Berlin
hinein und kaufte eine Puppe, eine hübsche Puppe mit blonden Locken, mit
Augen, die sich schlossen und öffneten, und mit einem rosa Kleid. »Die
bringe Frida zum Geburtstag mit,« sagte sie am Nachmittag und händigte
sie dem Knaben ein. »Halt! Vorsicht!«

Er hatte ungestüm zugepackt, es freute ihn doch zu sehr, daß er der
Frida was bringen konnte. Und in einer seltenen Regung – er war kein
Freund von Zärtlichkeiten – reckte er der Mutter das Gesicht hin und
empfing, in einer Aufwallung von Dankbarkeit, ihren Kuß. Er ließ ihn
sich mehr gefallen, als daß er nach ihm verlangte, sie fühlte das wohl,
aber sie war doch froh darüber, und mit einem Lächeln, das ihr ganzes
Gesicht erhellte, sah sie ihm dann nach.

»Aber vor Dunkelwerden bist du wieder zu Hause,« hatte sie ihm noch
zugerufen. Ob er sie gehört hatte?

Wie er lief, davonjagte, leichtfüßig wie ein Hirsch! Noch nie hatte sie
ein Kind so rasch laufen sehen. Er warf die strammen Beine, daß die
Hacken hinten gegen die Schenkel schlugen; der Wind blies ihm den
breitkrempigen Matrosenhut in den Nacken, da riß er ihn ganz ab und
rannte barhäuptig weiter, so eilig hatte er’s.

Was zog ihn nur so mächtig zu diesen Leuten?!

Von Kätes Gesicht verschwand das Lächeln, sie trat vom Fenster zurück.
–

Wolfgang war glücklich. Er saß bei Lämkes in der Stube, in der zur
kälteren Jahreszeit auch gekocht wurde. Die Schlafstätte der Eltern war
durch einen Vorhang abgegrenzt; Frida schlief auf dem Sofa und Artur
nebenan in dem Kämmerchen, das auch die Schippen und Besen, die Vater
Lämke zur Haus- und Straßenreinigung brauchte, beherbergte.

Noch war es nicht Winter, noch freundlicher Herbst, aber doch roch es
schon in der Stube hübsch warm und mollig. Mit dem zarten Duft der
blassen Monatsrose und des Nelkenstocks, der Myrte und des Geraniums,
die, dicht an das fast ebenerdige Fenster gerückt, alle blühten, mischte
sich der strengere Geruch des Kaffees, den Frau Lämke in der großen
Emaillekanne brühte. Zu Hause bekam Wolfgang nie Kaffee, hier bekam er
welchen; und er schlürfte ihn, wie er die andern ihn schlürfen sah, nur
empfand er ein noch größeres Behagen dabei. Und nie hatte ihm ein Stück
Torte so gut geschmeckt wie diese einfache Schnecke, die eher Semmel als
Kuchen war; er kaute mit offenem Mund, und als Frau Lämke ihm, dem
geehrtesten Gast, noch eine zweite Schnecke zuschob, nahm er sie mit
strahlendem Gesicht.

Frau Lämke fühlte sich sehr geschmeichelt durch seinen Besuch. Aus der
Puppe aber hatte sie sich nicht viel gemacht; die hatte sie Frida gleich
weggenommen und in den Schrank geschlossen: »Det de ihr nich jleich
verknutschst! Un iebrigens biste doch keen Herrschaftskind, det uff alle
Dage mit Puppens spielt. Schade um det Jeld!« Aber nachher, als Vater
Lämke aus der Portierloge, wo er in seinen Mußestunden saß und Stiefel
flickte, herunterkam, um auch eine Tasse Geburtstagskaffee zu trinken
und eine Schnecke zu essen, wurde die Puppe doch wieder vorgeholt und
ihm gezeigt.

»Fein, was? Hat sie von Wolfjangen seine Mama. Sieh mal, Lämke« – die
Frau hob der Puppe das rosa Kleidchen auf und zeigte darunter das weiße,
mit einer kleinen Spitze besetzte Volantröckchen – »so ’ne Frisur, janz
jenau so ’ne hatte ik Frida’n um ’t Taufkleidchen jenäht. Jotte doch,
sie war doch det erste, da denkt man, et is noch wat Besondret! Ach ja,«
– sie seufzte und legte die Puppe wieder in den Schrank zurück, in dem
allerlei Krimskram, die reinen Bettbezüge und ihr und Fridas Sonntagshut
lagen – »wie de Zeit verjeht! Nu is se schonst neune!«

»Zehne,« verbesserte Frida. »Ich bin doch heute zehne jeworden, Mutter!«

»Richtig – nee, schonst zehne!« Die Frau lachte und schüttelte den
Kopf, über diese Vergeßlichkeit verwundert. Und dann nickte sie ihrem
Manne zu: »Weeßte noch, Lämke, wie se jeboren wurde?«

»Un ob,« sagte er und schenkte sich nochmals aus der unerschöpflichen
Kanne ein. »Det war ’ne schöne Tur, wie se jeboren wurde – na, ich
danke! Die Jöhre hat dir scheene zujesetzt! Un mir mit, ich kriegte
ordentlich Manschetten. Aber nu, Alte – ä, zehn Jahre her, nu is et ja
bald nich mehr wahr!«

»Un wenn et hundert her wäre, det verjäße ik nich, o nee!« Die Frau hob
abwehrend die Hand. »Ik wollte mir jrade wie heute, so um viere ’rum,
Kaffee kochen, ik hatte so ’n Jieper drauf, da jing ’t los. Jrade noch,
daß ik bis iebern Flur kam – weeßte, du warst damals noch in de
Werkstelle bei Stiller, un wir wohnten in de Alte-Jakob, fünf Treppen
links – un ik kloppte bei den Krawattenfritze drieben an un sagte:
›Ach, sein Se doch so jut,‹ sagte ik, ›schicken Se man fix Ihre Kleene
bei die Wadlern, Spittelmarcht zehne, die weeß schon‹ – au weih, war
mich schlecht! Un ik fiel uf’n nächsten Stuhl; se hatten alle Mühe, det
se mir noch ’rieber kriegten. Un nu jing det los, ik konnte nich an mir
halten, bei’n besten Willen nich; ik jloobe, se haben mir drei Häuser
weit schreien jehört. Un det dauerte, det dauerte – et wurde Abend –
du kamst zu Hause – et wurde Mitternacht – morjens fünfe, sechse,
sieben – da endlich um neune sagte de Wadlern: ›det Kind, det is an’n
Ende –‹«

»Mutter,« unterbrach sie der Mann und zwinkerte nach den Kindern hin,
die ganz still am Tisch saßen und mit weitgeöffneten, neugierigen Augen
lauschten, »nu laß’t man jut sind! Det is ja nu allens lange vorbei, de
Jöhre is da, un is dich ja soweit janz jut jeraten!«

»Punkt elfe wurde se jeboren,« sagte Frau Lämke träumerisch und nickte
ernsthaft dabei und atmete dann so tief auf, als hätte sie einen hohen
Berg überklettert. Und dann rief sie ihre Tochter zu sich heran, heute,
am zehnten Geburtstag ihrer Erstgeborenen, von Leid und Freude einer
nach zehn Jahren noch so unendlich lebendigen Erinnerung überflutet.

»Komm man, Frida!« Und sie gab ihr einen Kuß.

Frida, ganz verdutzt durch diese unvermittelte Zärtlichkeit, lachte
ihren Bruder Artur und die beiden andern Knaben dumm an, und dann
entschlüpfte sie zur Türe: »Können wer jetzt spielen jehn?«

»Macht, det ihr ’rauskommt!«

Da stürzten sie voller Fröhlichkeit aus der dunklen Portierwohnung, die
unten im Souterrain lag, hinauf.

So hell war’s auf der Straße, so heiter schien die Sonne, Wind wehte
frisch, fern flog ein Drache übers Feld. Wenige Fußgänger, keine Wagen.
Die Straße gehörte ihnen, und mit Hallo stürmten sie dahin: wer zuerst
am Laternenpfahl an der Ecke war, der war Hauptmann!

Wolfgang hätte sich diese Ehre sonst nie nehmen lassen, aber heute mußte
er Gendarm sein, er war der letzte gewesen. Langsam und stumm war er den
andern gefolgt. Etwas saß ihm im Kopfe fest, das machte ihn schwerfällig
und hemmte seinen Lauf; er mußte darüber denken, denken. Das wurde er
nicht los, selbst als er mitten drin war im Lieblingsspiel; erst dann
vergaß er’s, als er mit Hans Flebbe eine große Balgerei hatte. Dieser
hatte ihn ins Gesicht gekratzt, darum riß er ihm jetzt ein Büschel Haare
aus. Am nächsten Gartengitter hielten sie sich gepackt.

Artur, ein kleiner Schwächling, hatte sich nicht am Streite beteiligt,
aber er schrie, die Hände in den Hosentaschen, mit kreischender Stimme
hinein in den Kampf, den die beiden wortlos miteinander ausfochten.

»Flebbe, hau ihm! Mit de Faust unter de Neese – tüchtig!«

»Wolfjang, man zu! Zeig ihm, was ’ne Harke is, immer ruff uf ihn!«

Frida hüpfte lachend von einem Bein aufs andere, der blonde Zopf tanzte
auf ihrem Rücken. Aber dann wurde ihr Lachen auf einmal ein wenig
verlegen-bang: der mehrere Jahre ältere Hans hatte Wolfgang
untergekriegt und hämmerte ihm nun mit der Faust ins Gesicht.

»Flebbe, du!« Sie zerrte ihn an der Bluse, und als das nichts half,
stellte sie ihm flink ein Bein. Da stolperte er darüber, und Wolfgang,
gewandt den Augenblick nutzend, schwang sich nach oben und besorgte es
nun dem Feind grimmig.

Das war kein Spiel mehr, keine gewöhnliche Jungensbalgerei. Wolfgang
fühlte sein Gesicht wie Feuer brennen, ein Kratz lief ihm die Wange
herab bis zum Kinn, vor seinen Augen tanzten Funken. Jetzt hatte er
alles vergessen, was ihn vorher so stumm gemacht, er fühlte eine wilde
Lust, laut brüllte er auf.

»Du, Wolfjang! Wolfjang, nee, det jilt nich,« schrie der Unparteiische.
»Det is doch keen Spaß nich mehr!« Artur schickte sich an, Wolf, der auf
des Gegners Brust kniete, die Beine festzuhalten.

Ein Ruck, und er flog zur Seite. Zitternd vor Wut kehrte sich Wolf
nun auch gegen ihn; seine schwarzen Augen funkelten. Das war kein
wohlgezogenes, wohlgekleidetes, herrschaftliches Kind mehr, das war
eine ganz elementare, ungezügelte, unbezwungene Kraft. Er schnaufte,
er keuchte – da, ein Ruf!

»Wolfjang, Wolfjang!«

»Du,« mahnte Frida, »Mutter ruft! Un euer Mädchen steht bei un winkt!«

Von der Haustür her tönte wiederum Frau Lämkes Stimme: »Wolfjang,
Wolfjang!« Und nun ließ sich auch Lisbeth spitzen Tones vernehmen: »Na,
wird’s bald? Sollst zu Hause kommen!«

Frau Lämke lachte. »Na, lassen Se man, se waren so verjniegt!« Aber dann
bekam sie doch einen Schreck, als sie des Knaben beschmutzten Anzug sah,
und fing an, daran herumzuwischen. »Jotte, wie sieht de scheene Bluse
aus – un de Hosen!« Sie bekam einen roten Kopf und wurde noch röter,
als sie den feurigen Kratz bemerkte, der über des jungen Herrn Backe
lief. »Dir haben se ja scheene zujericht – Jöhren, verdammte! Na,
wartet ihr man!« Sie drohte Hans Flebbe und den eigenen Kindern, aber es
war doch kein wirklicher Ernst in ihrer Drohung. Halblaut, mit einem
schmunzelnden Zucken um die Mundwinkel, sagte sie zu Lisbeth, die in
starrer Entrüstung dastand: »Dolle Jöhren, was? Na, det is nu ebent nich
anders, so waren wer alle auch, als wer noch jung waren!« Und sich
wieder zu Wolfgang wendend, fuhr sie ihm gutmütig mit der arbeitsrauhen
Hand über den feurigen Kratz: »Det war doch ’n Hauptspaß, was,
Wolfjang?«

»Ja,« sagte er aus tiefster Seele. Und dann, als er ihr Auge so
freundlich-verständnisvoll auf sich gerichtet sah, war es ihm, als wäre
er dieser Frau sehr gut. –

Es war ein herrlicher Nachmittag gewesen. Aber als er nun neben Lisbeth
nach Hause ging, sprach er nicht davon; sie hätte ja doch die Nase
gerümpft.

»Na, gnäd’ge Frau is schön böse,« sagte Lisbeth – sie sprach mit dem
Knaben nie anders als von der ›gnädigen Frau‹ – »was bleibste denn auch
so ewig lange?! Hast du nicht gehört, daß gnäd’ge Frau gesagt hat, du
sollst vor Dunkelwerden zu Hause kommen?«

Er blieb stumm. Mochte die nur schwatzen, das war ja gar nicht wahr!
An ihr vorbeisehend, starrte er in die Dämmerung. Aber als er zu
Hause ins Zimmer trat, merkte er doch, daß die Mutter auf ihn gewartet
hatte. Böse war sie freilich nicht, aber sein Abendbrot: ein Ei, ein
Schinkenbrötchen, die Milch im silbernen Becher, alles zierlich
zurechtgemacht, stand schon da, und sie saß gegenüber seinem Platz,
hatte die gefalteten Hände auf das weiße Tischtuch gelegt und die Brauen
ungeduldig-finster zusammengezogen.

Die große Hängelampe, deren Gaslicht hell über den Tisch leuchtete und
den gesenkten Frauenscheitel goldig flimmern ließ, machte das Gesicht
nicht heller.

Die Mutter war in Seide, in heller Seide, in einem Kleid mit Spitzen,
das über Hals und Arme nur etwas wie einen ganz dünnen Schleier hatte.
Aha – nun fiel’s ihm ein – sie sollte ja um acht Uhr den Vater, der
heute zu Mittag gar nicht nach Hause gekommen war, in der Stadt treffen
und mit ihm in eine Gesellschaft gehen! Aha, darum hatte er so früh nach
Hause kommen müssen?! Als ob er nicht allein ins Bett finden könnte!

»Du kommst ja so spät,« sagte sie.

»Du hättst ja schon gehen können,« sagte er.

»Du weißt, mein Kind, daß ich nicht ruhig bin, wenn ich dich nicht hier
zu Hause weiß!« Sie seufzte: »Wie könnte ich das auch!«

Erstaunt sah er sie an: warum sagte sie das? Hatte ihn etwa wieder
jemand verpetzt? Warum war sie so komisch?!

Mit großen Blicken, als sei sie ihm ganz fremd in diesem Kleide, das so
nackt an Hals und Armen ließ, betrachtete er sie. Nachdenklich schob er
die Bissen seines Abendbrotes in den Mund und kaute langsam. Er mußte
auf einmal wieder so sehr an das denken, was er Frau Lämke hatte
erzählen hören. Wie er geboren wurde, davon hatten sich Vater und Mutter
nie etwas erzählt!

Und er hielt plötzlich inne mit Kauen und fragte in die Stille des
Zimmers, in die Stille, die zwischen ihm und ihr war, ganz unvermittelt
hinein: »Wie ich geboren wurde, hat’s da auch so sehr lange gedauert?«

»Wie – was – wer – du?!« Sie sah ihn starr an.

Sie schien ihn nicht verstanden zu haben! Darum schluckte er rasch den
Bissen, den er noch im Munde hatte, herunter und sagte recht laut und
deutlich: »Ob’s auch so lange gedauert hat, wie ich geboren wurde? Bei
Frida hat’s sehr lange gedauert. Hast du auch so geschrieen wie Frau
Lämke?«

»Ich–?! Wer –ich?!« Sie wurde glühend rot und dann sehr blaß. Für
einen Moment schloß sie die Augen, ihr schwindelte; es sauste ihr vor
den Ohren, sie sprang vom Stuhl auf, hatte das Gefühl, fortlaufen zu
müssen und konnte doch nicht. Mit bebenden Händen hielt sie sich am
Tisch, aber die feste Eichenplatte war etwas Unsicher-wackelndes,
Wogendes, Gleitendes geworden. Was – was sprach der Junge da? O
Gott!

Sie biß sich auf die Lippen, holte tief Atem, wollte sagen: ›Laß doch
solch dumme Fragen,‹ und konnte das doch nicht. Sie rang mit sich.
Endlich stieß sie heraus: »Unsinn! Mach rasch, iß auf! Dann gleich zu
Bett!« Ihre Stimme klang ganz rauh.

Wieder traf sie des Knaben verwunderter Blick. »Warum bist du auf einmal
so – so – so eklig? Wenn man nicht mal was fragen darf!« Und
verdrossen schob er den Teller zurück und hörte auf zu essen.

Warum antwortete sie ihm nicht? Warum erzählte sie ihm nicht so etwas,
wie Frau Lämke ihrer Frida erzählt hatte? War er denn nicht auch
geboren? Und hatte sich denn die Mutter nicht auch gefreut, wie er dann
geboren war? Es war recht häßlich von ihr, daß sie ihm nichts davon
sagte! Merkte sie denn nicht, wie gern, wie schrecklich gern er etwas
davon wissen wollte?!

Eine brennende Neugier war auf einmal in dem Kinde erwacht. Die quälte
ihn, fraß förmlich an ihm. Die ganze Nacht würde er nicht schlafen
können, immer, immerfort darüber denken müssen! Und er wollte doch gern
schlafen, es war langweilig, wach zu liegen – er wollte, er mußte es
wissen!

Käte sah, wie sich des Knaben Antlitz verfinsterte. Ach, der arme, arme
Junge! Hätte sie ihn doch nur nicht zu jenen Leuten gehen lassen! Was
hatte er dort erfahren, was wußte er? Hatten sie ihn mißtrauisch
gemacht? Was wußten diese Leute? O, die hatten ihm Mißtrauen eingeflößt,
wie würde er sie denn sonst mit solchen Fragen quälen?!

Heiße Angst schoß in ihr auf, und doch fühlte sie ihre Hände und Füße
kalt werden wie Eis. Aber stärker noch als ihre Angst war ihr Mitleid –
da saß er, ach, so traurig, und hatte Tränen in den Augen! Das arme
Kind, das von seiner Geburt zu wissen verlangte und dem sie nichts sagen
konnte, sagen wollte, sagen durfte! O, jetzt nur einen guten Gedanken,
das richtige Wort!

»Wölfchen,« sagte sie sanft, »du bist noch zu jung dazu – jetzt noch
nicht! Ein andermal! Du verstehst das ja noch gar nicht! Wenn du erst
älter bist – ein andermal erzähle ich dir!«

»Nein, jetzt!« Sie hatte sich ihm genähert, er faßte sie am Kleid, hielt
sie fest; mit der ihm eigenen, etwas schwerfälligen Hartnäckigkeit
beharrte er: »Jetzt! Ich will es wissen – ich muß es wissen!«

»Aber, Wölfchen, ich – ich habe jetzt keine Zeit! Ich muß fort – ja,
ich muß wirklich fort, es ist höchste Zeit!« Sie blickte im Zimmer herum
und war ganz verwirrt: »Ich – nein, ich kann dir nichts erzählen!«

»Du willst nicht,« sagte er. »Und Frau Lämke hat es doch ihrer Frida
erzählt!« Der Ausdruck mauliger Verdrossenheit schwand aus dem dunklen
Knabengesicht und machte dem einer wirklichen Betrübnis Platz: »Du hast
mich lange nicht so lieb, gar nicht so richtig lieb, wie Frau Lämke ihre
Frida hat!«

Sie ihn nicht lieb haben –?! Sie ihn nicht lieb haben –?! Und das
glaubte er?! Käte hätte aufschreien mögen. Wenn eine ihr Kind lieb
hatte, so war sie’s gewiß, und doch fühlte dieses Kind instinktiv: hier
fehlt etwas! Fehlte dann nicht jenes rätselhafte Band, das eine
wirkliche Mutter und ihr wirkliches Kind so unlösbar-geheimnisvoll, so
tief innen verbindet?

»Wölfchen,« sagte sie zitternd-weich, »mein liebes Wölfchen,« und strich
ihm mit der eiskalten Hand über die heiße Stirn. »Das glaubst du doch
selber nicht, was du da sagst! Wir haben uns doch so lieb, nicht wahr?!
Mein Kind – mein geliebtes Kind, sag?!«

Sie suchte seinen Blick, sie klammerte sich an seine Antwort.

Aber die Antwort, die sie ersehnte, kam nicht. Er sah an ihr vorbei. »Du
erzählst mir ja doch nichts!«

Das kam nicht aus ihm! Jetzt auf einmal dies brennende Verlangen! Das
hatte ihm jemand eingeflößt, es konnte nicht anders sein! »Wer –«
fragte sie stockend – »wer hat dir gesagt – du sollst mich so fragen?
Wer?!«

Sie hatte ihn bei den Schultern gefaßt, er machte sich frei. »Och, was
bist du so komisch! Nee – niemand! Aber ich möcht’s doch wissen. Ich
sag dir doch, ich möcht’s wissen! Es quält mich so – ich weiß nicht
warum – es quält mich eben!«

Es quälte ihn – jetzt schon, so früh?! O, dann war’s eine Ahnung, eine
Ahnung – wer wußte woher? – eine unbewußte Ahnung aus allerersten
Kindheitstagen! – Wie sollte das werden?! ›Gott, Gott, hilf mir!‹
schrieen ihre Gedanken. Jetzt galt es zu erfinden, zu erdichten,
auszudenken! Diese quälenden Fragen durften niemals, nie mehr
wiederkommen!

Und sie zwang sich, zu lächeln, und als sie fühlte, daß dies Lächeln
kein Lächeln war, legte sie, hinter seinen Stuhl tretend, ihre Wange auf
seinen Scheitel und ihre beiden Hände um seinen Hals. So konnte er nicht
nach ihr umblicken. Und mit gedämpfter Stimme, wie man Kindern ein
Märchen erzählt, sprach sie:

»Väterchen und ich waren schon lange verheiratet – denk mal an, fast
fünfzehn Jahre schon! – und Väterchen und ich wünschten uns so sehr
einen lieben Jungen oder ein liebes Mädchen, damit wir nicht so allein
wären. Mal war ich eines Tages sehr traurig, denn alle andern Frauen
hatten schon ein liebes Kind, nur ich nicht, und ich ging draußen umher
und weinte, da hörte ich auf einmal eine Stimme – vom Himmel kam die –
nein, ein Stimmchen – ein Stimmchen, das – und – und –« Sie
verwirrte sich, stotterte und stockte: was sollte sie jetzt weiter
sagen?!

»Hm,« machte er ungeduldig. »Und –?! Erzähl doch weiter! Und –?!«

»Und am andern Tag lagst du in unsrer Wiege,« schloß sie,
ungeschickt-hastig, mit fast ersticktem Ton.

»Und –« er hatte sich von ihren Händen befreit, sich umgedreht und sah
ihr nun ins Gesicht – »das ist alles?!«

»Nun – und wir – wir freuten uns sehr!«

»Wie dumm!« sagte er gekränkt. »So ist doch nicht ›Geboren-werden‹?!
Frau Lämke erzählt es ganz anders. Du weißt es ja gar nicht!« Zweifelnd
sah er sie an.

Sie wich seinem Blick aus, aber der seine ließ sie nicht los. Ihr war,
als blickten diese forschenden Augen ihr bis auf den Grund der Seele. Da
stand sie wie eine Lügnerin und wußte nichts mehr zu sagen.

»Du weißt es ja gar nicht,« wiederholte er noch einmal bitter
enttäuscht. »Gute Nacht!« Und schlorrte zur Tür.

Sie ließ ihn gehen, rief ihn nicht zurück zum Gutenachtkuß. Starr blieb
sie sitzen.

Oben, im Zimmer über sich, hörte sie seine Tritte. Jetzt schleuderte er
seine Stiefelchen aus, jetzt polterten sie in die Ecke – jetzt ward es
still.

O, was sollte sie ihm dereinst sagen, wenn er mit vollem Bewußtsein
Fragen an sie richtete, ein zu Fragen berechtigter, Antwort heischender
Mensch?! Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er gesessen hatte,
und stützte den Kopf in beide Hände.




2


Die Freundschaft mit Lämkes wurde eingeschränkt. Nie mehr sollte ihr
Kind dorthin gehen! Eine Art von Eifersucht war in Käte aufgequollen
gegen diese gewöhnliche Frau, die so unpassende Sachen sprach, die vor
Kinderohren sich so gar keinen Zwang antat.

Frau Lämke konnte sich jetzt nicht mehr des freundlichen Grußes der
feinen Dame rühmen; diese ging jetzt am Hause vorüber und sah sie nicht
mehr an, schien es nicht zu hören, daß sie respektvoll grüßte: ›juden
Tag, jnäd’ge Frau!‹

»Du, wat habe ick denn eijentlich deine Mama jetan?« fragte sie eines
Tages Wolfgang, als sie, vom Einholen zurückkehrend, ihn nach langer
Zeit einmal wieder sah. Er lehnte am Gitter des schrägüberliegenden
Grundstücks und starrte sehnsüchtigen Blickes nach ihrer Haustür.

Er fuhr zusammen; er hatte sie gar nicht kommen hören. Und dann tat er,
als bemerke er sie nicht und schnippte mit der Gerte, die seine Hand
hielt, in die Luft.

»Kommste denn jar nich mehr bei uns?« fragte sie weiter. »Haste dir mit
Artur’n jehauen oder mit Frida’n jezankt? Nee, wat denn, det kann ja
nich sind, die hat ja schonst so sehr uf dir jelauert! Die Jnädige läßt
dir woll nich, was?! Nanu, wir sind woll nich mehr jut jenug? Nee
freilich, wir sind nur Portjehs und unsre Kinder Portjehskinder!«

In ihrem gutmütigen Ton mischte sich die Gereiztheit der Kränkung, und
der Knabe horchte auf. Er wurde glühend rot.

»Na ja, ick sehe schon, du därfst nich! Na meintwejen, denn nich!«
Erbittert wendete sie sich zum Gehen.

»Na, was ’s denn noch?!« Er hatte sie durch einen Laut zurückgehalten;
sie blieb stehen – wider Willen. Es war etwas in dem Blick der
Knabenaugen, die sie jetzt voll ansahen, das sie festhielt. »Nee, nee,
mein Sohn,« sagte sie gutmütig, »du kannst ja nich dafor, ick weeß
ja!«

»Sie läßt mich nicht,« murrte er zwischen den Zähnen und hieb mit der
Gerte durch die Luft, daß es sauste.

»Warum denn nich?« forschte die Frau. »Hat se nich jesagt, warum de nich
mit Artur’n und Frida’n mehr spielen sollst? Artur hat jetzt ’nen neuen
Triesel – ei weih, der tanzt! Un Frida von die Dame oben bei uns ’nen
wunderscheenen Ball!«

Des Knaben Augen flammten. Er holte mit dem Fuß aus und stieß ein
Steinchen, das vor ihm lag, so heftig von sich, daß es im Schwung
hinüberflog bis zur andern Seite der Straße. »Und ich spiele doch mit
ihnen!«

»Na, na, man nich so trotzig,« ermahnte jetzt die Frau. »Et kann ja
sind, vielleicht waren die Jöhren unjezogen – lieber Jott, man kann
doch nich for allens ufkommen, wat se treiben – weeßte, Wolfjangchen,
Mama’n mußte doch jehorchen, wenn se ’t nu mal durchaus nich will!« Sie
seufzte. »Wir haben dir sehr lieb jehabt, mein Sohn! Aber det is immer
so: erst is de Freundschaft jroß, aber denn besinnen sich die Reichen uf
eenmal? Du bist ja ooch jetzt eijentlich schonst zu jroß, um in’n Keller
bei uns zu sitzen –«

Sie wollte noch weiter schwatzen, da fühlte sie sich an der Hand gefaßt.
Es war ein sehr fester Griff, mit dem die Knabenhand die ihre hielt.
Sich zu ihm herunterneigend, denn sie war groß und hager und ihr Auge
vom ewigen Halbdunkel der Portierwohnung nicht mehr scharf, sah sie, daß
er Tränen in den Augen hatte. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen und
bekam förmlich einen Schrecken.

»Laß man jut sind, laß man, Wölfchen! Nee aber, so weene doch nich, um
Jottes willen nich, det wär’t noch jrade wert!« Den Zipfel ihrer groben
blauen Arbeitsschürze nehmend – sie war nur eben mal vom Waschfaß
fortgelaufen –, wischte sie ihm die Augen, und dann die Backen
herunter, und dann strich sie ihm übers Haar, das so straff und dicht
auf dem runden Kopfe lag.

Er stand still, wie angewurzelt, auf der schon frühlingslichten,
sonnenhellen Straße; er, der so scheu vor Zärtlichkeiten war, ließ sich
also streicheln und scheute es auf einmal nicht, wenn dies auch andre
Leute sahen.

»Ich komme doch wieder in den Keller, Frau Lämke! Da kann sie sagen, was
sie will. Ich komme doch zu Ihnen!«

Als er nun davonging, nicht trabend, wie es sonst seine Art war, sondern
langsam, mit einem bedächtigen Tritt, wunderte sich die Frau, die ihm
nachsah, wie groß er schon war. –

Frau Käte hatte einen schweren Stand. Wie sie sich auch wehrte, förmlich
dagegen stemmte, daß der Verkehr mit Lämkes wieder aufgenommen wurde,
der Knabe war stärker als sie. Er setzte es durch, daß die Kinder, wenn
er denn nicht zu ihnen hin sollte, wenigstens zu ihm kommen durften. In
den Garten wenigstens – das hatte er der Mutter abgerungen.

Es war wie ein Kampf gewesen zwischen ihm und ihr, zwar ohne laute Worte
und heftige Szenen, ohne direkte Verbote von ihrer Seite, ohne Bitten
von der seinen; es war ein weit ernsteres, stummes Ringen. Sie hatte den
Trotz in ihm gefühlt, der sich gegen sie bäumte, den Widerstand in ihm,
der immer weiter und weiter sich erhob bis zur Abneigung – ja,
Abneigung gegen sie! Oder bildete sie sich das etwa nur ein?!

Gern hätte sie sich mit ihrem Manne darüber ausgesprochen – ach, es war
ihr ein solches Bedürfnis! – aber sie fürchtete dessen Lächeln. Oder
dessen indirekten Vorwurf. Er hatte erst neulich einmal gesagt: ›Es ist
keine Kleinigkeit, ein Kind zu erziehen. Schon ein eignes ist schwer,
wie viel schwerer noch ein‹ – nein, ein ›fremdes‹ sollte er nicht
wieder sagen, nein, dies nicht noch einmal! Dieses Kind war ihr kein
fremdes, es war ihr eignes! Ihr geliebtes Kind!

Sie gab Wolfgang nach. Es war ja auch nicht gefährlich, wenn die Kinder
hierher zu ihm kamen in den Garten, da hatte sie sie ja immer unter den
Augen und Ohren. Und gut wollte sie zu ihnen sein, das nahm sie sich
vor, es die Kinder nicht entgelten lassen, daß sie ihrer Freundschaft
wegen schon manch heimliche Träne hatte am Abend in ihr Kissen weinen
müssen. Lieb wollte sie ihrem Knaben den Garten machen, so lieb, daß er
nie mehr hinaus verlangte auf die Straße!

Aber als sie am Ostertag, an dem sie Wolfgang erlaubt hatte, seine
Freunde, die Lämkes und auch den Kutschersohn, in den Garten zu laden,
die bunten Eier versteckte, die Nestchen und Häschen und Küken in den
treibenden Buchsbaum bettete und zwischen die ersten blühenden
Büschelchen der blauen Scylla, erhob sich in ihrem Herzen etwas wie
Zorn. Nun würden diese Kinder mit ihren schlechten Manieren und ihren
trappsigen Schuhen kommen und ihr die Beete vertreten, diese sorgsam
gepflegten Rabatten, auf denen unter deckendem Reisig schon die
Hyazinthen Knospen trieben und die Tulpen sich reckten. Schade darum!
Und daß man diesen ersten wirklichen Frühlingstag nicht still genießen
konnte, ungestört dem flötenden Amsellied lauschen! Und gesperrt hatten
sie sich noch! Hans Flebbe freilich hatte ohne Empfindlichkeit zugesagt
– der Kutscher wenigstens wußte, was sich schickte –, aber die Lämkes
hatten durchaus nicht kommen wollen; das heißt, ihre Mutter hatte es
nicht gewollt. Zweimal hatte man Lisbeth hinschicken müssen; das zweite
Mal war die ganz empört zurückgekommen: ›ne, was solch ein Volk sich
einbildet!‹ »Lieber Junge, ich kann dir nicht helfen, sie wollen doch
nicht,« hatte Käte sagen müssen, aber da hatte sie’s ihm angemerkt, wie
niedergeschlagen er war, und in der Nacht hörte sie ihn seufzen und sich
rastlos werfen. Nein, das durfte nicht sein! Seinen Arm, der sich so
stürmisch um ihre Taille geschlungen hatte, als sie ihm die Erlaubnis
gegeben hatte, die Kinder zu laden, wollte sie auch um ihren Nacken
fühlen. Und so hatte sie sich denn hingesetzt und geschrieben – an
diese ungebildete Frau geschrieben: ›Geehrte Frau Lämke,‹ und sie
gebeten, den Kindern doch das Eiersuchen zu erlauben, Wolfgang zur
Freude.

Nun waren sie da. Angetan mit ihren besten Sachen, standen sie steif und
still auf dem Gartenweg und sahen nicht einmal nach den Rabatten hin.
Käte hatte sich immer eingebildet, es besonders gut zu verstehen, Kinder
aus sich herauszulocken. Hier verstand sie es nicht. Sie hatte Fridas
ganz neues, buntkariertes Kleid gelobt und ihr den blonden Zopf, an dem
die blaue Schleife baumelte, in die Höhe gehoben: »Ei, wie dick!« –
auch Arturs blanke Stiefel hatte sie beachtet und Flebbes pomadisiertes
Haar, das er, mit einem Scheitel in der Mitte, wie angeklebt über seinem
blühenden Lakaiengesicht trug. Auch nach den Osterzensuren hatte sie
gefragt, ohne doch längere Antworten herauszubekommen, als ›ja‹ und
›nein‹.

Die Kinder waren befangen. Besonders Frida; sie war die Älteste, und sie
fühlte heraus, was da Gezwungenes in den freundlichen Fragen war. Sie
machte ihren Knicks wie immer, schnell und schnippisch wie eine
Bachstelze, die eilig auf und nieder wippt, aber ihre hohe Mädchenstimme
klang heute nicht so hell; sie sprach gedämpfter, fast bedrückt. Und sie
lachte nicht. Artur richtete sich nach der Schwester, und auch Hans
Flebbe nach dem Mädchen, an dem er ohnehin alles nachahmenswert fand.
Wie die armen Schlucker standen die beiden Jungen da, guckten unverwandt
auf ihre Stiefelspitzen und schnüffelten, da sie es nicht wagten, ihre
Taschentücher herauszuziehen und zu benutzen.

Käte verzweifelte. Sie konnte es nicht begreifen, daß ihr Wolfgang an
solchen Gespielen ein Gefallen fand; heute war er übrigens genau so wie
die andern, wortkarg und ungeschickt. Selbst als das Eiersuchen anhub,
stellten sich die Kinder dumm an; man mußte sie förmlich auf den
Versteck stoßen.

Müde, fast gereizt wandte sich Käte endlich dem Hause zu; nur ein
Weilchen wollte sie drinnen bleiben. Nein, das hier war auf die Dauer
nicht auszuhalten, immer in die Kinder hineinzureden und ihnen doch
keine Gegenäußerung zu entlocken!

Aber sie hatte kaum ihr Zimmer betreten, so horchte sie auf: von außen
drang ein Schrei zu ihr, so hell, so jauchzend-schrill, wie segelnder
Schwalben Schrei. So schrieen Kinder in höchster Lust – o, sie kannte
das von früher her, von ganz früher, ehe noch Wölfchen gekommen war! Da
hatte sie solchen Schreien oft sehnsüchtig gelauscht. Aha – ein
bitteres Gefühl regte sich in ihr –, nur =sie= mußte gehen, dann waren
die Kinder lustig, dann war Wolfgang lustig!

Sie trat ans Fenster und sah, die Stirn an die Scheibe gelehnt, hinaus
in den Garten. Wie sie rannten, sprangen, hüpften, lachten! Wie
losgelassen! Sie spielten Nachlaufen. Gleich einem Wiesel schoß Frida
hinter die Büsche, um dann mit spitzem, durchdringendem Gelächter wieder
aufzutauchen und, kreischend, aufs neue zu verschwinden. Wild setzte
Wolfgang hinter ihr drein. Er achtete nicht auf die Rabatten mit den
treibenden Blumen, der Mutter Freude; mitten hinein tappte er,
unbekümmert, ob er die Hyazinthen knickte oder die Tulpen, einzig nur
bedacht, der flinken Frida den Weg abzuschneiden.

Und die beiden andern machten es ihm nach. O, wie wurden jetzt die Beete
zertrampelt! Alle drei Jungen waren hinter dem Mädchen her. Der blonde
Zopf flog wie eine goldene Schnur im Sonnenschein – jetzt flog er hier,
jetzt flog er da – nun hatte Wolfgang ihn erhascht und stieß ein
Triumphgeschrei aus. Frida versuchte ihn loszureißen, der Knabe hielt
fest. Da drehte sie sich blitzgeschwind um, und, übers ganze Gesicht
lachend, faßte sie ihn mit beiden Armen um den Leib.

Es war eine harmlos lustige Umschlingung, ein Trick des Spiels – nicht
zur Gefangenen wollte das Mädchen gemacht sein, es wollte so tun, als
sei es selber die Fangende –, es war eine ganz kindlich-unbefangene
Berührung, aber Käte wurde rot. Ihre Stirn zog sich in Falten: aha, das
Mädchen von der Straße zeigte sich! Kaum daß man den Rücken gewendet
hatte!

Und mit einem Gefühl des Hasses gegen dieses Mädchen, das, so jung es
auch noch war, doch schon versuchte, ihren Knaben an sich zu locken,
ging die Mutter wieder in den Garten. –

Wenn Käte gedacht hatte, heute abend, nachdem die Kinder, beladen mit
Ostereiern und vollgesättigt, nach Hause gegangen waren, einen
stürmischen Dank von ihrem Jungen zu ernten, so hatte sie sich
getäuscht. Wolfgang sagte kein Wort.

Sie mußte ihn fragen: »Nun, war’s denn schön?«

»Hm!«

Das konnte ebensogut ›ja‹ als ›nein‹ bedeuten. Aber daß es ›nein‹
bedeutet hatte, erfuhr sie, als er ihr gute Nacht sagte. Auf Wunsch des
Vaters mußte er ihr immer die Hand küssen; er tat das auch heute mit der
unfreien, schon so echt jungenhaften, etwas täppischen Bewegung. Sein
dunkler glatter Kopf bückte sich einen Augenblick vor ihr – nur einen
kurzen Augenblick – seine Lippen streiften flüchtig ihre Hand. Es war
kein Druck in diesem Kuß, keine Wärme.

»Hast du dich denn gar nicht amüsiert?« Sie konnte es nicht unterlassen,
sie mußte doch noch einmal fragen. Und er, der aufrichtig war, sagte
geradezu:

»Immer, wenn’s gerade hübsch wurde, kamst du!«

»Nun, dann werde ich euch künftig nicht mehr stören!« Sie versuchte zu
lächeln. »Schlaf wohl, mein Sohn!« Sie küßte ihn, aber als er gegangen,
war neben dem Gefühl einer gewissen Eifersucht, überflüssig zu sein, von
andern völlig ersetzt zu werden, eine große Angst in ihr: wenn er jetzt
schon so war, o, wie würde er erst später sein?! –

Wolfgang konnte sich nicht beklagen, die Mutter ließ die Kinder so oft
zu ihm in den Garten kommen, wie er sie haben wollte – und er wollte
sie fast alle Tage. Die Freundschaft, die im Winter brach gelegen hatte,
blühte im Sommer doppelt auf.

»Laß sie doch nur,« hatte Paul zu seiner Frau gesagt, als sie ihn mit
gespannt gehobenen Augenbrauen ansah: was würde er sagen, würde er’s
wirklich gern sehen, daß Wolfgang mit diesen Kindern in seinem Garten
tobte?! »Ich finde es nett, wie der Junge mit den Kindern ist,« sagte
er. »Ich hätte nie gedacht, daß er sich so anschließen könnte!«

»Du findest es nicht nachteilig, daß er immer nur mit diesen – diesen
– nun, mit diesen Kindern umgeht, die doch einer ganz andern Sphäre
angehören?«

»Ach was! Nachteilig?!« Er lachte. »Das hört später schon ganz von
selber auf. Es ist mir bedeutend lieber, er hält sich an solcher Leute
Kinder als an die von Protzen. Er bleibt so eben viel länger ein
einfaches Kind!«

»Meinst du?!« Nun ja, in gewisser Beziehung mochte Paul recht haben!
Wölfchen war anspruchslos, ein Apfel, eine einfache Brotschnitte waren
ihm ebenso lieb wie Torte. Aber es wäre doch besser und ihr lieber
gewesen, er hätte sich wählerischer gezeigt – hierin wie auch in
anderm. Sie gab sich alle Mühe, ihm eine feinere Zunge anzuerziehen.

Als die Köchin eines Tages ganz empört kam: »Gnädige Frau, nu will der
Wolfgang schon nich mehr von der guten Zervelatwurst, un Braten von
Mittag will er auch nich mehr auf die Stulle – ›immer dasselbe‹,
räsoniert er – was denn nu?« – da freute sie sich. Endlich war es ihr
gelungen, ihm beizubringen, daß man nicht sinnlos in sich hinein ißt,
ohne jede Wahl, nur um des Essens willen!

Hätte sie gesehen, wie er bei Frau Lämke Schmalzbrot mit
Zwiebelleberwurststopfte, oder Kartoffelkuchen in Öl gebacken heiß
aus der Pfanne hinunterschlang, sie hätte sich nicht mehr gefreut.
Aber so war sie dankbar für jede noch so kleine, feinere Regung, die
sie an ihm zu beobachten glaubte. Sie merkte gar nicht, wie sehr sie
sich selber quälte.

Ach, warum unterstützte sie ihr Mann nicht in der Erziehung?! Wenn er’s
doch täte! Aber er verstand sie eben nicht mehr!

Schlieben hatte es aufgegeben, seiner Frau hineinzureden. Ein paar Mal
hatte er’s versucht, aber seine Einwendungen waren gescheitert an der
Hartnäckigkeit, mit der sie an ihren Prinzipien festhielt. Warum sollte
er sich mit ihr entzweien?! So viele Jahre hatten sie glücklich
miteinander gelebt – bald waren sie ein Silberpaar –, und nun sollte
dieses Kind, dieses Bürschchen, das noch kaum orthographisch schreiben
konnte, dem der Lehrer eben die ersten lateinischen Regeln eindrillte –
dieses Kind, das im Grunde weder sie noch ihn etwas anging – dieses
fremde Wesen sollte sie beiden alten Eheleute auseinander bringen?! Da
ließ man eben viel lieber manches geschehen, was Käte vielleicht besser
anders gemacht hätte. Mochte sie sehen, wie sie auf ihre Weise mit dem
Jungen fertig wurde – sie hatte ihn ja so unendlich lieb! Und wenn er
dann einst, nicht mehr das Spielzeug, ihren zarten Händen entwachsen
war, dann war er, der Mann, ja noch immer da, um ihn die kräftigere Hand
fühlen zu lassen. In dem Jungen war ja zum Glück kein Falsch!

Schlieben war nicht unzufrieden mit Wolfgang. Ein Überflieger war der
freilich nicht in der Schule, gehörte durchaus nicht zu den ersten,
hielt sich aber immerhin doch noch in einer anständigen Mitte. Nun, ein
Gelehrter brauchte er ja auch nicht zu werden!

Von all dem, was Paul Schlieben einst in jüngeren Jahren nur einzig
erwägenswert gefunden hatte – Wissenschaft, Kunst und deren Studium –,
hielt er jetzt nicht mehr das gleiche wie früher. Jetzt war er zufrieden
in seinem Kaufmannsberuf. Und da dieses Kind nun einmal in sein Leben
hineingeraten war, ohne eignes Zutun in solche Verhältnisse gekommen
war, war es auch die Pflicht dessen, der sich ›Vater‹ von ihm nennen
ließ, ihm eine Zukunft zu gestalten. Und so machte sich Schlieben einen
festen Plan. Wenn der Junge so weit war, daß er das Einjährigenzeugnis
hatte, nahm er ihn aus der Schule, schickte ihn ein Jahr nach
Frankreich, nach England, eventuell nach Amerika, immer in große Häuser,
und wenn er dann vom untersten Lehrling angefangen und was gelernt
hatte, dann nahm er ihn zu sich in die Firma. Er dachte es sich schön,
manches dann auf jüngere Schultern wälzen zu können. Und verläßlich
würde der Junge wohl sein, das merkte man ihm ja jetzt schon an!

Wenn Käte nur nicht so übertriebene Anforderungen stellen wollte! Immer
war sie hinter dem Jungen her – wenn nicht in Person, so doch in ihren
Gedanken. Sie quälte ihn – er war eben nun mal kein anschmiegendes Kind
– und machte es sie denn selber glücklich?!

Manchmal, wenn des Knaben Blick, so über den Tisch weg, wie hilfesuchend
zu dem Manne flog, nickte ihm dieser unmerklich, besänftigend zu. Ja,
mit Käte war es wirklich je länger, desto weniger leicht auszukommen!

       *       *       *       *       *

Schliebens verreisten. Der Gatte hatte seiner Frau wegen den Sanitätsrat
konsultiert, und dieser hatte Franzensbad verordnet. Nun, dahin konnte
er sie beim besten Willen nicht begleiten! Er würde die Zeit benutzen,
und, da er auch lange nicht ausgespannt hatte, einige Fußwanderungen in
Tirol unternehmen. Ein paar Pfund Gewichtsabnahme konnten nicht schaden.

Aber wo sollte währenddessen Wolfgang bleiben?!

»Nun, zu Hause,« sagte der Vater. »Er ist ja alt genug; elf Jahre. Die
Vormittage ist er in der Schule, die Nachmittage im Garten, und alle
paar Tage mag Hofmann nach ihm sehen – dir zur Beruhigung!«

Es war der Mutter ein unerträglicher Gedanke, das Kind allein
zurückzulassen. Am liebsten hätte sie es mit sich genommen. Aber Paul
war ärgerlich geworden: »Das fehlte noch!« Und der Arzt hatte gesagt:
»Durchaus nicht!«

Käte hatte dann ihren Mann veranlassen wollen, den Knaben mitzunehmen:
»Wie gesund würde es ihm sein, sich mal so recht auszulaufen!«

»Nun, ich denke, das besorgt er schon gründlich hier. Ich bitte dich,
Käte, der Junge ist kerngesund, gib doch nicht immer so an mit ihm!
Und ich werde ihn doch auch nicht ganz unnützerweise aus der Schule
nehmen!«

Freilich, zurückkommen, womöglich zu den Letzten gehören, durfte er
nicht! Käte war ja so ehrgeizig für ihren Sohn. So würde sie eben, da
die Juliferien schon beinahe verstrichen waren und sie in dieser
passenderen Zeit nicht mit ihm gereist waren, nun auch zu Hause bleiben!
Sie erklärte, nicht fort zu können.

Aber Arzt und Mann bestimmten über sie weg; je nervös-ängstlicher sie
sich weigerte, desto dringender erschien ihnen eine ernstliche Kur. Der
Tag der Abreise wurde schon in Aussicht genommen.

Vorher kündigte aber noch Lisbeth: nein, wenn die gnädige Frau auf so
lange fortging und der Herr auch, nein, dann ging sie auch! Mit
Wolfgang, mit =dem= Jungen allein bleiben?! Nein, das tat sie nicht!

Sie mußte sich in den nahezu zehn Jahren, die sie im Hause gewesen war,
ganz gut gespart haben, denn auch die Versicherung einer Lohnzulage
konnte sie nicht halten. Sie beharrte bei ihrer Kündigung und warf einen
bösen Blick nach dem Knaben, der eben von draußen übers Fensterbrett
sein lachendes Gesicht hereinhob.

Käte war außer sich. Nicht nur, weil sie ungern die langbewährte
Dienerin entbehrte, sie hatte auch so bestimmt darauf gerechnet, Lisbeth
würde während ihrer Abwesenheit ein wachsames Auge auf den Knaben haben.
Und es schmerzte sie, daß diese in einem so gehässigen Tone von Wolfgang
sprach. Was hatte ihr das Kind denn getan?!

Aber Lisbeth zuckte nur wortlos die Achseln und setzte eine
verdrossen-beleidigte Miene auf.

Der Hausherr nahm sich den Knaben vor: »Sage mal, Junge, was hast du
eigentlich mit der Lisbeth gehabt? Sie hat gekündigt, und, wie mir
scheint, geht sie deinetwegen. Hör mal« – er sah ihn scharf an – »du
bist wohl frech gegen das Mädchen gewesen?«

Des Knaben Gesicht wurde ganz hell: »O, das ist gut, das ist gut, daß
die geht!« Er beantwortete gar nicht die an ihn gestellte Frage.

Schlieben zog ihn am Ohrläppchen: »Antworte, bist du frech gegen sie
gewesen?«

»Hm!« Wolfgang nickte und lachte den Vater an. Und dann sagte er, noch
triumphierend in der Erinnerung: »Gestern erst! Da hab ich ihr eine ins
Gesicht gegeben. Warum sagt sie denn immer, ich hätte hier nichts zu
suchen?!«

Schlieben erzählte seiner Frau nichts hiervon; sie würde sich ja nur
wieder neue grüblerische Gedanken machen. Dem Jungen hatte er auch
keinen Klaps gegeben, ihm nur ein wenig mit dem Finger gedroht. –

Lisbeth zog ab. Wie eine beleidigte Königin verließ sie das Haus, dem
sie so lange treu gedient hatte und in dem sie sich so viel hatte
gefallen lassen müssen, wie sie beim Abschied weinend ihrer ebenfalls
ergriffenen Herrin versicherte.

Ein andres Mädchen war gemietet worden, freilich eins, auf das Käte von
vornherein keine besondere Zuversicht setzte – Lisbeth hatte gleich
einen ganz anders intelligenten Eindruck gemacht –, aber es blieb keine
Wahl, da keine Ziehzeit war; und sie sollte doch so rasch als möglich
ins Bad.

So kam Cilla Pioschek aus der Warthegegend in die Villa Schlieben.

Sie war ein großes, starkes Mädchen mit einem Gesicht, rund und gesund,
weiß und rot. Sie war erst achtzehn, aber sie hatte schon lange gedient,
schon als sie noch in die Schule ging drei Jahre als Kindermädchen beim
Gutsinspektor. Der Hausherr amüsierte sich über sie – sie verstand
keinen Witz, nahm alles für wahr und sagte alles grade heraus, wie sie’s
dachte –, aber die Hausfrau nannte das ›dummdreist‹. Mit der alten
Köchin und dem Diener stand die Neue dagegen auf besserem Fuß als
Lisbeth, denn sie ließ sich vieles gefallen.

»Du kannst ganz beruhigt abreisen,« sagte Paul. »Tu mir den Gefallen,
Käte, sperre dich nicht länger. In sechs Wochen, so Gott will, bist du
mir ganz gesund wieder da, und ich sehe hier« – leicht tupfte sein
Finger – »hier nicht mehr die kleinen Fältchen an den Augenwinkeln!« Er
küßte sie.

Und sie erwiderte seinen Kuß, nun, da sie sich von ihm trennen sollte,
zum ersten Mal in ihrer Ehe auf so lange Zeit; denn früher waren sie
immer, immer zusammengereist, und seit Wölfchen ins Haus gekommen war,
hatte er auch nur auf höchstens vierzehn Tage einmal Urlaub von ihr
erbeten. Sie hatte das Kind nie allein gelassen. Und nun sollte sie auf
ganze sechs Wochen von den Ihren gehen?! Sie hing sich an ihn. Es
drängte sich ihr förmlich auf die Lippen, zu fragen: ›Warum gehst du
nicht mit mir wie früher? Franzensbad und Spaa – das ist ein so großer
Unterschied nicht!‹ Aber wozu das sagen, wenn er nicht einmal mit dem
leisesten Gedanken daran gedacht hatte?! Jahre waren hingegangen, von
der Innigkeit, die sie einstmals so verbunden hatte, daß sie nur
gemeinsam genießen konnten und sich nie getrennt hatten, war eben doch
manches abgebröckelt unterm Flügelschlag der Zeit!

Sie seufzte und entzog sich sacht seinem Arm, der sie umschlang. »Wenn
jemand hereinkommt, uns so miteinander sieht! So alte Eheleute!« sagte
sie mit dem Versuch zu scherzen. Und er lachte, wie es sie dünkte, ein
bißchen verlegen und machte nicht den Versuch, sie zu halten.

Aber als nun eines frühen Morgens der Wagen vor der Türe stand, der sie
nach dem Berliner Abfahrtsbahnhof bringen sollte, als die zwei großen
Koffer aufgeladen waren und das Handgepäck, als er ihr jetzt die Hand
reichte zum Einsteigen und dann neben ihr Platz nahm, konnte sie doch
nicht an sich halten: »Ach, wenn du doch mitführest! Ich mag nicht
allein reisen!«

»Hättest du mir’s doch ein bißchen eher gesagt!« Er war ganz betroffen;
es tat ihm aufrichtig leid. »Wie gut hätte ich dich den einen Tag
hinbringen, dort installieren, und den andern Tag wieder zurück sein
können!«

O, er verstand es eben nicht, dieses: ›wenn du doch mitführest‹! Mit ihr
auch dableiben – das hatte sie gemeint.

Schmerzlich suchte ihr Blick das Fenster oben im Hause, hinter dem
Wölfchen noch schlief. Schon gestern abend hatte sie ihm Adieu sagen
müssen, da die Abreise so sehr früh war. Vorhin hatte sie nur noch
einmal mit einem stummen Lebewohl an seinem Bett gestanden, und
vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, war ihr Handschuh über seinen schwer
auf dem Kissen ruhenden Kopf gefahren. Ach, wie gerne hätte sie jetzt
noch ein liebes Wort mit ihm gesprochen!

»Grüßen Sie den Jungen, grüßen Sie den Jungen,« sagte sie ganz rasch,
hastig mehrmals hintereinander zu der Köchin und zu Friedrich, die am
Wagen standen. »Und sorgen Sie gut für ihn! Hören Sie?! Grüßen Sie den
Jungen, grüßen Sie den Jungen!« Andres konnte sie nicht mehr sagen, auch
nichts andres mehr denken. »Grüßen Sie den –«

Da klirrte oben das Fenster! Beide Arme ausstreckend hob sie sich halb
vom Sitz.

Oben reckte der Junge den dunklen Kopf heraus. Seine Wangen blühten,
heiß vom Schlaf, über dem weißen Nachthemd.

»Adieu! Adieu! Komm gesund wieder! Und schreib mir auch mal!«

Er rief es sehr vergnügt und nickte herunter; und hinter ihm hob sich,
freundlich lachend, das runde, gesund-weiß und rote Gesicht der Cilla.




3


Käte wußte selber nicht, wie sie so über die Wochen der Trennung
hinwegkommen konnte. So schlimm, wie sie sich’s vorgestellt hatte, war
es nicht. Sie fühlte, daß eine größere Ruhe über sie kam, eine Ruhe, die
sie zu Hause nie finden konnte; und diese Ruhe tat ihr wohl. Sie schrieb
ganz zufriedene Briefe, und die heiteren Berichte ihres Mannes von
›herrlichen Bergen‹ und ›herrlichem Wetter‹ freuten sie. Auch von
Hofmann, der ihr, wie er’s versprochen hatte, treulich Kunde gab, hörte
sie Gutes.

›Der Junge ist prächtig auf dem Zeuge,‹ schrieb er, ›um den brauchen Sie
sich keine Sorge zu machen, liebe Frau! Er muß jetzt freilich seine
Gespielen entbehren – ein Junge und ein Mädel sind krank –, denn mit
dem dicken Stöpsel, der noch übrig ist, langweilt er sich allein. Er ist
meist für sich im Garten; Friedrich hat ihm Salatpflanzen gegeben, auch
Radieschen hat er sich gesät. Bei der Schularbeit habe ich ihn übrigens
auch schon getroffen.‹

Gott sei Dank! Es war der Frau, als könne sie nun, wie einer Last ledig,
frei atmen. Den Brief des alten Freundes trug sie lange in der Tasche
mit sich herum, las ihn beim Spazierengehen, im Sitzen auf einer Bank
und abends, wenn sie im Bette lag. ›Ein Junge und ein Mädchen sind krank
–‹ o, die armen Kinder! Was mochte ihnen fehlen? Aber, Gott sei Dank,
er war nur meist für sich im Garten allein! Das war das Beste!

Sie schrieb an ihren Jungen einen Brief, so recht vergnügt, und er
antwortete ihr, und auch vergnügt. Der Brief an sich war freilich ein
wenig drollig. ›Teure Mutter –‹ wie komisch! Und der ganze Stil – wie
aus einem Briefsteller abgeschrieben! Sie nahm sich vor, diesen Brief in
ihren nächsten an Paul einzulegen – was der wohl dazu sagen würde?!
›Teure Mutter!‹ – aber das freute sie doch, und auch das ›Dein
gehorsamer Sohn‹, das darunter stand. Sonst enthielt der Brief
eigentlich nichts, nichts von dem, was er trieb, nicht einmal etwas von
den Lämkes, auch kein sehnsüchtiges ›Komm bald wieder‹; aber er war doch
mit Sorgfalt geschrieben, sauber und deutlich, nicht so hingekritzelt,
wie er sonst zu kritzeln pflegte. Und daraus ersah sie seine Liebe.

Auch ein Bildchen hatte er ihr beigelegt: ein kleines Viereck mit
Spitzenpapierrand, darauf ein schneeweißes Lämmchen ein rosenrotes
Fähnchen hielt; darunter stand in goldiger Schrift: »_Agnus Dei,
miserere nobis._«

Wo hatte er nur das her?! Gleichviel woher, er hatte ihr etwas schenken
wollen! Und das kleine geschmacklose Bildchen rührte sie tief. Der gute
Junge!

Sie legte das Bildchen mit dem Gotteslamm sorgfältig zu ihren
Wertsachen; da sollte es immer bleiben. Eine zärtliche Sehnsucht überkam
sie nach dem Knaben, und sie begriff nicht, wie sie so lange schon hatte
ohne ihn aushalten können.

       *       *       *       *       *

Der August war vorüber, der September schon fast halb vergangen, als
Käte nach Hause zurückkehrte. Ihr Mann, der vor ihr eingetroffen war,
kam ihr entgegengereist; in Dresden trafen sie sich, und ihr Wiedersehen
war ein sehr herzliches. Er konnte sich gar nicht genug freuen über ihre
klaren Farben, ihren klaren Blick; und sie wiederum fand ihn prächtig
gebräunt, jugendlicher, fast so schlank wie einst.

Hand in Hand saßen sie in dem Coupé, das er sich hatte reservieren
lassen; ganz allein, wie junge Liebesleute. Sie hatten sich unendlich
vieles zu sagen – da war nichts, gar nichts, was sie störte. Mit großer
Innigkeit sahen sie sich in die Augen.

»Wie freu ich mich, dich wiederzuhaben,« sagte sie, als er lange und
lebhaft von seiner Reise erzählt hatte.

»Und ich erst dich!« Er nickte ihr zu und drückte ihre Hand. Ja, es war
ihnen wirklich beiden, als wären sie eine Ewigkeit getrennt gewesen! Er
zog sie noch näher an sich, hielt sie so fest, als wäre sie ein ihm
schon halb entrissen gewesenes, teures Gut, und sie schmiegte sich an
ihn, lehnte den Kopf an seine Schulter und lächelte verträumt.

Vor ihren halb geschlossenen Augen tanzten auf einem schwertbreiten,
schrägen Sonnenstrahl unzählige goldne Stäubchen; das gleichmäßige
Rasseln der Fahrt und das stille Gefühl Deiner großen Freude im Herzen
lullte sie ein.

Plötzlich fuhr sie auf – war’s ein Ruck, ein Stoß?! Wie ein Schreck
hatte sie’s durchfahren: sie hatte ja noch gar nicht nach dem Kinde
gefragt!

»Wölfchen – was macht Wölfchen?!«

»O, dem geht’s sehr gut! Aber nun erzähle du mal, mein Herz, wie hast du
denn die langen Tage dort hingebracht? Wie war der Tag eingeteilt? Also
morgens zum Brunnen – erst mal einen Becher, dann den zweiten – und
dann? Nun?!«

Sie erzählte nicht. »Wölfchen ist doch gesund?« fragte sie hastig. »Es
stimmt gewiß nicht ganz – du erzählst ja so wenig von ihm?! Ich habe
immer schon solche Ahnung gehabt! Ach Gott, so sage doch!« Fast gereizt
klang ihr Ton – wie konnte Paul nur so gleichgültig sein! »Was fehlt
Wölfchen?«

»Fehlt?!« Er sah sie ganz verwundert an. »Aber ich bitte dich, Käte,
warum soll ihm denn durchaus etwas fehlen?! Er ist kerngesund!«

»Wirklich –?! Aber so erzähle doch, erzähle!«

Er lachte über ihre Ungeduld. »Was läßt sich von so einem Jungen
erzählen?! Er schläft, ißt, trinkt, geht in die Schule, kommt nach
Hause, läuft in den Garten, schläft, ißt, trinkt wieder und so fort,
vegetiert wie die Pflanze im Sonnenschein. Erzähle du lieber, wie’s dir
geht!«

»O, mir – mir« – das kam ihr auf einmal so überflüssig vor – »mir,
ganz gut, du siehst es ja!« Welch eine Gleichgültigkeit hatte er gegen
das Kind! Und sie – die Mutter –, hatte es auch so lange vergessen
können?! Eine solche Beschämung kam über sie, daß sie hastig den Kopf
von ihres Mannes Schulter hob und sich gerade aufsetzte. Nun waren sie
keine Liebesleute mehr, nur Eltern, die sich um ihr Kind zu kümmern
hatten!

Und sie sprach nur von ihm.

Paul fühlte den plötzlichen Umschwung in der Stimmung seiner Frau. Eine
Verstimmung beschlich ihn: waren sie doch wieder auf dem alten Fleck?!
Hatte sie schon wieder für nichts andres Interesse mehr als für den
Jungen?! Er empfand keine Neigung weiter, von seiner Reise zu erzählen.

Immer einsilbiger wurde die Unterhaltung; an der nächsten Station kaufte
er sich eine Zeitung, und sie lehnte sich in die Ecke und versuchte zu
schlafen. Aber so abgespannt sie auch war, es gelang ihr nicht; ihre
Gedanken streiften unruhig in allen möglichen Wendungen immer um den
einen Punkt: also ihm fehlte nichts! Gott sei Dank! – Wie gleichgültig
Paul doch war –, aber ob Wölfchen sich sehr freuen würde, daß sie
wieder kam? Der liebe Junge – der geliebte Junge!

Zuletzt mußte sie doch ein wenig geschlummert haben, denn auf einmal
hörte sie, wie von ganz weit her, die Stimme ihres Mannes: »Mach dich
fertig, mein Herz! Berlin!« – und fuhr auf.

Schon waren sie im Gewirr zahllos sich kreuzender Gleise. Jetzt rauschte
der Zug unter die Glashalle.

»So weit wären wir!« Er half ihr hinaus, und sie fing an vor Ungeduld zu
zittern. Das war ja endlos, dieses Treppab- und Treppauflaufen, dieses
Hinübergehen auf den andern Bahnsteig und dann das Warten und Lauern auf
den Vorortzug! Ob Wölfchen auch noch nicht schlief? Es würde dunkel
sein, bis sie draußen waren!

»Kommt der Zug bald? Wieviel Uhr ist es? Mein Gott, wie lange das
dauert!«

»Beruhige dich, der Junge wartet auf dich! Was denkst du wohl, der sitzt
jetzt abends noch immer lange bei der Cilla; am Tage hat sie nicht so
viel Zeit für ihn. Ein nettes Mädchen! Du hast einen guten Griff
getan!«

Sie überhörte das ganz, dachte sie doch immerwährend daran, wie sie ihn
finden würde. Ob er sehr gewachsen war?! Sich verändert hatte?! Kinder
in seinem Alter sollen sich ja immerfort ändern – ob er sich
verhäßlicht hatte oder ob er noch so hübsch war? Gleichviel – früher
hatte sie mehr auf das Äußere gegeben – wenn er jetzt nur lieb, recht
lieb war! Schon hörte sie seinen Jubelschrei, schon fühlte sie seine
Arme um ihren Nacken, seinen Kuß auf ihrem Mund.

Der Wind, der angenehm abendlich geworden war, nach dem immerhin noch
heißen Herbsttag, fächelte ihr Gesicht, ohne die von innen heraus
glühenden Wangen kühler machen zu können. Als sie vorm Hause anhielten,
das, anmutig versteckt, mit seinen Balkonen voll leuchtend roter
Geranien hinter den immergrünen Kiefern unterm reichgestirnten
Septemberhimmel lag, klopfte ihr das Herz, als wäre sie viel zu weit und
zu rasch gelaufen. Endlich! Sie atmete tief auf: nun war sie wieder bei
ihm!

Aber er kam ihr nicht entgegengelaufen. Daß er auch gar nicht aufgepaßt
hatte!

»Sie werden auf der Veranda, hinten heraus, sitzen,« sagte Schlieben.
»Da sitzen sie immer des Abends!« Er blieb ein wenig zurück. Mochte Käte
den Jungen nur erst mal für sich allein begrüßen!

Und sie eilte durch die Halle, an dem freundlich strahlenden Gesicht der
Köchin vorüber, sah nicht den Friedrich, der jetzt die Dienerlivree
angelegt hatte, nachdem er vorher noch alles mit seinen selbstgezogenen
Blumen dekoriert hatte; sie bewunderte weder seine gärtnerischen
Erfolge, noch die selbstgebackene Torte, die die Köchin auf den
festlichen Tisch gestellt hatte. Aus der Halle war sie in ihren kleinen
Salon und von da durchs Eßzimmer gelaufen, dessen Tür auf die Veranda
führte. Die Tür war geöffnet – nun stand sie auf der Schwelle – die
draußen gewahrten sie nicht.

Von den Windlichtern auf dem Verandatisch brannte nur eins, leidlich
hell, um nahebei zu leuchten. Aber Cilla tat nichts. Den Strumpf, den
sie stopfen sollte, hatte sie im Schoß; ihre rechte Hand, in der sie die
lange Stopfnadel hielt, ruhte lässig auf dem Tischrand. Sie hatte sich
ein wenig hintenüber gelehnt; ihr Gesicht, in diesem Zwielicht feiner
und schöner, war emporgehoben; sie schien nachzudenken, den Mund
halbgeöffnet.

Von Wolfgang sah man nichts. Aber jetzt hörte die Mutter ihn sprechen im
Ton des Bedauerns: »Weißt du nicht weiter?! O!« Und dann drängend:
»Weiter, Cilla, weiter, es war ja so schön!«

Aha, nun sah sie auch ihn! Er saß dem Mädchen zu Füßen, auf einem ganz
niedrigen Schemel, dicht an dessen Knie gedrückt. Und er wendete das
Gesicht jetzt zu dem Mädchen auf – bittend, begehrend – sah es an mit
Augen, die wie polierter dunkler Achat glänzten, und sprach in einem
Tone, wie die Mutter noch nie von ihm gehört zu haben glaubte: »Singe,
Cillchen! Liebes Cillchen singe!«

Die Magd stimmte an:

  »›Bebe nicht, sprach sie mit leiser Stimme‹ –

Ach nee!

  ›Ich erscheine nicht vor dir im Grimme‹ –

Nee, auch nich!

  ›Warum glaubt’ ich Schwache deinen Schwüren,‹ –

Nee, ich weiß nich weiter. Nu sag einer! Un ich hab’s bei mir zu Hause
doch so ofte gesungen. Bei uns im Dorfe, wenn wer abends gingen, mein
Schatz un ich. I,« – sie stampfte ärgerlich auf – »daß mer so was auch
vergessen tut!«

»Ärger dich nicht, Cillchen! Du mußt dich nicht ärgern. Fang doch noch
mal von vorne an, das macht ja nichts. Ich, hör’s gern noch mal, immer
noch mal! Fein ist das!«

›Cillchen – Cillchen‹ – wie spielerig das klang, ordentlich zärtlich!
Und wie er an ihren Lippen hing!

Käte streckte den Kopf weit vor; sie stand schon auf der Veranda, und
die beiden bemerkten sie noch immer nicht.

Die Magd sang, leierig und zeternd, wie sie daheim auf der Dorfstraße
gesungen hatte, aber des Knaben Augen glitzerten und wurden groß dabei.
Seine Lippen bewegten sich, als ob er’s mitsänge:

  »Heinrich lag bei seiner Neuvermählten,
  Einer reichen Erbin von dem Rhein,
  Schlangenbisse, die den Falschen quälten,
  Ließen ihn nicht süßen Schlafs sich freun.

  Zwölfe schlug’s, es drang durch die Gardine
  Plötzlich eine kleine weiße Hand,
  Was erblickt er? Seine –«

Die Sängerin stockte – ein tiefer Atemzug zitterte plötzlich über die
Veranda. Der Knabe schrie erschrocken laut auf – da stand sie, da stand
sie!

»Aber Wolfgang – Wölfchen!« Die Mutter streckte ihm die Arme entgegen,
doch er verbarg den Kopf in dem Schoße der Magd.

Kätes finsterer Blick streifte das Mädchen: was war das für ein Unsinn,
ihm solche Lieder vorzusingen!

»Och, die Frau – die gnädige Frau!« Rot werdend schnellte Cilla auf und
ließ alles, was sie auf dem Schoß hatte – Strumpf, Stopfei, Wollknäuel
und Schere – zu Boden gleiten; auch den Jungen.

Warum waren die beiden so erschrocken?! Als sei sie ein Gespenst, so
starrte Wolfgang sie ja an!

Er war jetzt aufgestanden, hatte die Mutter begrüßt, mechanisch das
Gesicht zu ihr aufgehoben, um ihren Kuß zu empfangen; aber sie merkte
ihm keine Freude an. Oder war es Befangenheit, eine knabenhafte Scham,
weil sie ihn belauscht hatte? Seine Augen sahen sie gar nicht voll an,
streiften sie aber immerfort von der Seite. War sie ihm denn fremd
geworden – so fremd?!

Eine unsägliche Enttäuschung durchzog der Heimkehrenden Herz, und ohne
daß sie es beabsichtigte, klang der Ton schroff, in dem sie das Mädchen
jetzt hinausgehen hieß. Sie setzte sich auf den eben verlassenen Platz
am Tisch und zog ihren Knaben an sich.

»Wie ist dir’s denn gegangen, Wölfchen? Nun sage doch – gut?!«

Er nickte.

»Hast du denn auch Mutterchen ein bißchen vermißt?!«

Er nickte wieder.

»Ich habe dir auch so viele schöne Sachen mitgebracht!«

Da wurde er lebhaft. »Hast du auch für Cilla was mitgebracht? Einen
Nähkasten mit allerlei drin könnte die gut gebrauchen; weißt du, sie hat
nur so ’nen alten von der Schule her. Och, die kann mal fein erzählen –
so gruselig! Und singen! Laß dir das mal vorsingen:

  ›Ein niedliches Mädchen, ein junges Blut,
  Erkor sich ein Landmann zur Frau,
  Doch sie war einem Soldaten so gut
  Und bat ihren Alten ganz schlau –‹

Ich sag dir, zum Schießen ist das!«

Und lachend begann er weiterzuträllern:

  »Er möchte doch fahren ins Heu, juchhei,
  Ins Heu, juchhei –«

»St – – –!« Sie legte ihm die Hand auf den Mund.

»Das ist gar kein schönes Lied – ein garstiges Lied! Das wirst du nie
mehr singen!«

»Aber warum denn nicht?« Er sah sie mit runden Augen erstaunt an.

»Weil ich es nicht wünsche,« sagte sie kurz. Sie war empört: morgen, ja
morgen, da würde sie dem Mädchen aber ihre Meinung nicht vorenthalten!

Jetzt waren ihre Wangen nicht mehr heiß; eine empfindliche Kühle
schauerte über die Veranda, die ihr eisig bis ans Herz griff. Als Paul
rief: »Aber, Käte, wo steckst du denn? Lege doch erst ab!« folgte sie
rasch seinem Ruf.

Der Knabe blieb allein stehen und sah mit blinzelnden, träumerischen
Augen in die milde, jetzt ganz dunkle Nacht. Ha, das war doch so schön,
wie die Cilla gesungen hatte! Morgen mußte Cilla wieder singen und
erzählen! Wenn =sie= nun auch wieder da war! Ein ungestörtes Plätzchen
würde doch noch zu finden sein! –

Käte schlief gar nicht in dieser ersten Nacht, obgleich sie todmüde war.
Vielleicht zu müde. Sie hatte noch eine lange Auseinandersetzung mit
Paul gehabt, als sie schon zu Bette lagen. Er hatte ihr recht gegeben,
daß weder das eine noch das andre Lied sehr passend war, aber – »Du
lieber Gott,« hatte er gesagt, »was hört man als Kind nicht alles, und
es geht spurlos an einem vorbei!«

»An =dem= nicht!« Und dann klagte sie: »Ich habe so oft versucht, ihm
wirklich Schönes vorzulesen, das Beste unserer Dichter – aber gar kein
Interesse, noch gar kein Verständnis! Und für solche – solche« – sie
suchte einen Ausdruck und fand ihn nicht – »für so etwas begeistert er
sich! Aber ich leide es nicht, ich dulde es nicht! Dergleichen darf
nicht in seine Nähe!«

»Dann entlasse die Dienstboten,« hatte er ärgerlich gesagt. Er war eben
im Einschlafen und wollte nicht mehr gestört sein. »Gute Nacht, mein
Herz, schlaf dich aus! Übrigens bist du ja nun wieder da und wirst schon
das Deine tun!«

Ja, das würde sie auch! –

Sie ließ den Knaben von nun ab nicht mehr aus den Augen. Und ihre Ohren
waren überall. Es lag kein Grund vor, das Mädchen zu entlassen – es war
ehrlich und sauber, tat seine Schuldigkeit – nur mit Wölfchen durfte es
nicht mehr allein sein. Wolfgang ging ins zwölfte Jahr, eine Überwachung
durch eine Dienerin war überhaupt nicht mehr möglich.

Aber es war schwer für Käte, ihren Vorsätzen treu zu bleiben. Ihr Mann
machte doch auch seine Ansprüche, und ihr Haus, ihre Geselligkeit; es
war nicht möglich, alles andre abzuschütteln, aufzugeben, zu
verabsäumen, nur um des einen: um des Kindes willen. Und sie durfte Paul
doch auch nicht anhaltend verstimmen, ihn womöglich ernstlich gegen das
Kind erzürnen; davor zitterte sie. Sie mußte zuweilen mit ihrem Mann in
Gesellschaft gehen, er freute sich, wenn sie – gut angezogen – als
liebenswürdige Frau gesucht ward. Er ging gerne – ach, und viel, viel
zu oft! Gerade diesen Winter hatte sie geglaubt, doppelt auf der Hut
sein zu müssen. Und sie instruierte die Köchin und den Diener, ersuchte
beide dringend, aufzupassen. Die waren ganz verwundert: wenn die gnädige
Frau so wenig zufrieden war, sollte die gnädige Frau doch der Cilla
kündigen, zum ersten Januar gab’s ja Mädchen genug!

Unwillig wendete sich Käte ab: wie häßlich von den Dienstboten, die
andre herausbeißen zu wollen! Ungerecht durfte sie gegen das Mädchen
denn doch nicht handeln. Und wenn ein andres ins Haus kam, konnte es da
nicht ebenso sein?! Dienstboten sind immer eine Gefahr für Kinder. –

Wolfgang entwickelte sich sonst sehr gut, besonders körperlich. Nicht,
daß er gerade so sehr in die Höhe schoß; er ging mehr in die Breite,
wurde stämmig, mit einem festen Nacken. Wenn er mit den Lämkes vor der
Tür Schneeballen warf, sah er älter aus als der gleichaltrige Artur,
sogar älter als Frida. Er wurde eben anders genährt als diese Kinder.
Mit Wohlgefallen sah die Mutter seine reine, frische Haut, die gepflegt
war durch warme Bäder und die tägliche kalte Abreibung am Morgen. Und
zum Friseur mußte er alle vierzehn Tage, da wurde der dichte, glatte,
dunkle Haarschopf, der aber trotz aller Sorgfalt etwas Grobfädiges
behielt, verschnitten, gewaschen und mit stärkender Essenz eingerieben.
Beinahe verkümmert sahen die Lämkes aus gegen ihn; sie hatten ja auch
vor nicht zu langer Zeit erst die Nachwehen des Scharlach überstanden.
Wenn nur Wölfchen das nicht auch bekam. Käte hatte große Angst davor.
Bis vor kurzem hatte sie ihn von den Lämkes ferngehalten; aber freilich
in der Schule war stete Ansteckungsgefahr. Ach Gott, man kam wegen des
Kindes eben nie zur Ruhe! –

       *       *       *       *       *

Sie hatten sich recht munter draußen getummelt. Der See, der unterhalb
der Villen, wie ein stilles Auge zwischen den dunklen Waldrändern liegt,
war zugefroren; Wolfgang und die halbe Klasse liefen dort Schlittschuh.
Käte war nach Tisch auch eine Weile am Ufer auf und ab gewandert und
hatte ihren Jungen beobachtet. Wie nett er schon lief! Sicherer und
besser als mancher der Jünglinge, die da Achter zogen und Kreise
beschrieben, holländerten und mit ihren Damen tanzten. Er versuchte auch
schon allerlei Kunststücke, er hatte wirklich Courage. Daß er nur nicht
hinfiel oder einbrach! Und immer lief er der tiefen Mitte des Sees zu,
wo noch Strohwische steckten! Der Mutter war, als könnte ihm nichts
geschehen, wenn sie hier am Ufer stand und ihn unablässig mit den Augen
verfolgte. Endlich aber erstarrten ihre Füße gänzlich, und sie mußte
heimgehen.

Als er gegen Dunkelwerden nach Hause kam, war er unendlich frisch. Mit
Freudigkeit sprach er vom Eislauf. »Ha, das war mal fein! Ich möchte
immer so laufen – morgen, übermorgen – alle Tage – und immer weiter,
weiter! Der See ist viel zu klein!«

»Bist du denn gar nicht müde?« fragte die Mutter und lächelte ihn an;
sie konnte sich nicht satt an ihm sehen, er sah so strahlend aus.

»Müde?« Ein fast geringschätziges Lächeln zog seine Mundwinkel herab.
»Ich werde nie müde. Von so was nicht! Die Cilla hat gesagt, sie möchte
auch gern mal mit mir laufen!«

»Ach, warum nicht gar?!« Schlieben, der mit beim Kaffeetisch saß,
lächelte gutgelaunt; es machte ihm Spaß, den frischen Jungen ein wenig
zu necken. »Dann wird sich die Mutter eben während der Eiszeit ein
zweites Hausmädchen engagieren müssen!«

Wolfgang verstand den leisen Spott nicht. Ganz glücklich rief er: »Ja,
das soll sie tun!« Aber dann wurde sein Gesicht lang: »Aber sie hätte
keine Schlittschuhe, sagt sie. Vater, du mußt ihr welche kaufen!«

»Den Kuckuck werd ich – na, das fehlte noch!« Der Hausherr lachte laut
auf. »Nein, mein Junge, die Cilla in Ehren, aber sie Schlittschuh laufen
zu lassen, das wäre denn doch ein bißchen übertrieben! Nicht wahr?«

Er sah zu seiner Frau hin, die ganz gegen ihre Gewohnheit laut mit den
Tassen klapperte. Sie sagte nichts, sie nickte nur stumm mit gänzlich
veränderter, kühler Miene.

Der Knabe begriff das nicht: warum sollte die Cilla nicht Schlittschuh
laufen?! Hatte die Mutter was gegen sie? Komisch! Immer, wenn ihm was so
recht, recht gefiel, gefiel’s ihr nicht!

Er stützte, an seinem Arbeitspult sitzend, den Kopf in beide Hände; der
war ihm schwer. Die Augen brannten ihm und tränten, wenn er sie fest
aufs Heft richtete – er mußte doch wohl müde geworden sein. Das wurde
keine gute lateinische Arbeit! Im Geist sah er schon, wie der Lehrer die
Achseln zuckte und ihm, über so und so viel Köpfe weg, das Heft auf die
Bank feuerte: ›Schlieben, zehn Fehler! Junge, Mensch, zehn Fehler! Wenn
du dich nicht zusammennimmst, kommst du Ostern nicht mit nach Quarta
herüber?!‹

Pah, das war ihm ja ziemlich egal – nein, eigentlich ganz egal. Es war
ihm überhaupt jetzt alles egal, schrecklich egal. Er fühlte sich auf
einmal todmüde. Warum sie nur der Cilla nichts gönnen wollte? Die
erzählte doch so fein! Was hatte die doch gestern abend, als die Eltern
aus waren und sie sich an sein Bett geschlichen hatte, erzählt? Von –
von –?! Er konnte nichts mehr zusammenbringen, seine Gedanken
verwirrten sich.

Der Kopf sank vornüber aufs Pult; die Arme lang vor sich über seine
Bücher gestreckt, schlief er ein.

Als er erwachte, mochte wohl eine Stunde vergangen sein, aber er fühlte
sich doch nicht ausgeruht. Fröstelnd, mit starren Augen sah er sich im
Zimmer um. Alle Glieder taten ihm weh.

Und sie taten ihm auch die Nacht durch noch weh, er konnte nicht
schlafen; mit schweren Füßen schleppte er sich am anderen Nachmittag auf
die Eisbahn.

Viel früher als sonst kam er vom Schlittschuhlaufen wieder nach Hause.
Er mochte nichts essen und nichts trinken, immer kam ihn eine Übelkeit
an. »Sieht der Junge heute grün aus,« sagte der Vater. Die Mutter strich
ihm besorgt die Haare aus der Stirn: »Fehlt dir was, Wölfchen?« Er
verneinte.

Aber als wieder der Abend gekommen war und der Wind draußen in den
Kiefern flüsterte und eine gespenstische Hand an die Fenster rührte –
huh, eine kleine weiße Hand wie in Cillas Lied –, lag er im Bett,
schüttelte sich vor Frost, trotz der weichen warmen Decke, fühlte, daß
ihm der Hals weh tat und daß es in seinen Ohren stach und brannte.

»Er ist krank,« sagte Käte sehr besorgt am Morgen. »Wir wollen doch
gleich Hofmann kommen lassen!«

»Ach, es wird schon nicht so schlimm sein,« beruhigte der Mann. »Laß ihn
im Bette, gib ihm Zitronenlimonade zum Schwitzen und auch was zum
Abführen. Er hat sich den Magen verdorben oder ist erkältet!«

Aber schon am Mittag mußte der Arzt herbeitelephoniert werden. Der Knabe
lag, nicht mehr klar, in hohem Fieber.

»Scharlach!« Prüfend besah der Sanitätsrat die entblößte Brust und zog
dann sorgfältig die Decke wieder höher. »Aber der Ausschlag ist noch
nicht recht heraus!«

»Scharlach –?!« Käte glaubte in die Knie sinken zu müssen – o, davor
hatte sie sich immer so sehr gefürchtet!

       *       *       *       *       *

Das frische Frostwetter mit dem blanken Sonnenschein und dem fast
sommerblauen Himmel hatte aufgehört. Graue Tage mit schwerer Luft hingen
über dem Villendach; Käte, die am Fenster des Krankenzimmers stand und
mit überwachten Augen hinausstarrte in die schwarzen Kiefernwipfel, die
da trauerten in der Nebeltrübe, glaubte nie grauere gesehen zu haben.

Die Krankheit hatte den Knaben mit Macht gepackt; als sei sein
vollsaftiger, wohlgenährter Körper so recht ein Herd, in dem die Flammen
des Fiebers wüteten. Hofmann schüttelte den Kopf: überall war der
Scharlach so gutartig aufgetreten, nur hier nicht! Und er warnte vor
Erkältung, verordnete dies und das, tat sein Bestes – nicht bloß aus
Pflicht, nein, aus tiefstem, herzlichstem Anteilgefühl heraus – er war
dem strammen Jungen immer so gut gewesen. Sie taten alle ihr Bestes.
Jede Vorsicht wurde angewendet, jede Rücksicht – es sollte ja alles,
alles für ihn geschehen!

Käte war unermüdlich. Die Hilfe einer Krankenschwester hatte sie
abgelehnt; mit Heftigkeit wehrte sie sich gegen ihren Mann, gegen den
alten Freund: nein, sie wollte ihr Kind allein pflegen! Eine Mutter wird
nicht müde, o nein!

Paul hatte nie geglaubt, daß seine Frau so viel leisten und dabei so
geduldig sein könnte – sie, die Nervöse, so unermüdlich, so unverzagt!
Wohl hatte sie immer einen leisen Tritt gehabt, nun hörte man ihn gar
nicht mehr, wenn sie durch die Krankenstube glitt; bald war sie an der
linken Seite des Bettes, bald an der rechten. Sie, deren Kräfte so
leicht versagten, wenn auch der Wille gut war, war immer, immer auf dem
Platz. Es gab viele Nächte, in denen sie keine Stunde Schlaf fand; wie
ein Schatten saß sie dann am Morgen in dem großen Lehnstuhl am Bett,
aber sie war doch voller Freudigkeit: Wölfchen hatte ja fast zwei
Stunden geschlafen!

»Tu dir nicht zu viel, tu dir nicht zu viel,« bat der Mann.

Sie wies ihn ab: »Ich fühl’s nicht! Ich tu es ja so gerne!«

Wie lange sollte das so gehen? Würden, konnten diese Kräfte anhalten?!
»Laß doch wenigstens das Mädchen eine Nacht bei dem Jungen wachen! Sie
will dich ja so gerne ablösen!«

»Die Cilla–?! Nein!«

Cilla hatte sich immer und immer wieder angeboten: o, sie wollte wohl
gut aufpassen, sie verstand’s, war doch auch ein kleiner Bruder von ihr
am Scharlach gestorben! »Lassen Sie mir,« bat sie, »ich schlafe nich,
ich passe so gut auf!«

Aber Käte wies sie zurück. Es war ihr jedesmal wie ein Stich, wenn sie
in den Nächten, die so schwarz und lang waren, ihren Knaben im
Fiebertraum sprechen hörte: »Cillchen – wir wollen doch fahren ins Heu
– juchhei – Cillchen!«

O, wie sie dieses rundwangige Mädchen mit den hellen Augen haßte! Aber
mehr als sie es haßte, fürchtete sie es. In den Stunden der Finsternis,
in jenen Stunden, in denen sie nichts hörte als das Stöhnen des Kranken
und das rastlose Pochen des eignen Herzens, wandelte sich ihr das
Mädchen in eine andre Gewalt. Groß und breit tauchte die auf aus der
Nacht, stellte sich dreist ans Bett des Kindes, und in ihrem Blick, der
stumpf war und ohne Intelligenz, flammte doch etwas auf vom Triumph der
Macht.

Dann faßte die überwachte Frau sich wohl an die Schläfen, in denen es
hämmerte, und streckte die Arme aus, wie abwehrend: nein, nein, du da,
geh fort! Aber das Phantom blieb stehen am Bett des Kindes. Wer war es:
die Mutter – das Venn – die Dienstmagd – Frau Lämke?! Ach, alle waren
eins!

Über Kätes Gesicht liefen qualvolle Tränen. Wie der Junge jetzt lachte!
Sie beugte sich über ihn, so dicht, daß ihrer beider Atemzüge sich
mengten und, wie sie es früher schon getan hatte, flüsterte sie ihm auch
jetzt zu: »Mutterchen ist hier, Mutterchen ist bei dir!«

Aber er gab kein Zeichen des Erkennens. – – – – –

Cilla hatte ein dick verweintes Gesicht, als sie die Küchentür im
Souterrain, an der leise geklopft wurde, öffnete. Flüsternd sagte Frau
Lämke guten Tag; sie hatte bis jetzt immer die Kinder herangeschickt,
aber gestern waren die mit einem so verwirrenden Bericht nach Hause
gekommen, daß die Unruhe sie nun selber hertrieb. Sie wollte sich
erkundigen. Draußen vor dem Gitter hielten zwei Doktorwagen, das hatte
sie aufs neue erschreckt.

»Wie jeht’s denn, wie jeht’s denn heute?«

Das Mädchen brach in Tränen aus. Es zog stumm die Frau in die Küche, wo
die Köchin, ohne in irgend einer Kasserolle zu rühren, am Herd lehnte,
während Friedrich eben, auf einen Druck der elektrischen Klingel von
oben, wie ein Gehetzter hinausschoß.

»Nee, ich sage schon!« Die Lämke schlug die Hände zusammen. »Is ’s denn
schlimm, wirklich so schlimm mit den Jungen?«

Cilla nickte nur, ihre überströmenden Augen in der Schürze verbergend,
aber die Köchin sagte dumpf: »Es jeht zu Ende!«

»Zu Ende – stirbt er wirklich – der Wolfjang, =der= Junge?!« Die Frau
starrte ungläubig: das konnte ja nicht sein! Aber sie war
schreckensbleich geworden.

Die Köchin lenkte ein: »Nu, schlimm jenug is ’s! Unser Doktor hat noch
’nen andern Professor zugezogen, ’nen janz berühmten – jestern war der
schonst hier – aber sie jlauben nich, daß se noch was machen können.
Die Krankheit is auf die Nieren jeschlagen und aufs Herz. Er kennt einen
ja jar nich mehr! Heut morgen war ich drinne, ich wollt ihn doch jerne
noch mal sehn – da lag er janz steif und still, wie aus Wachs. Ich
jlaube, das wird nischt mehr!« Die gutmütige Person weinte.

Sie weinten alle drei, um den Küchentisch sitzend. Frau Lämke vergaß
ganz, daß sie diese Küche nie mehr hatte betreten wollen, und daß ihr
Kohl, den sie daheim zum Mittagessen aufgesetzt hatte, nun wohl
verbrannte. »Jotte doch, Jotte doch,« sagte sie ein über das andre Mal,
»wie wird sie da über wegkommen, so ’n Kind – so ’n einzig liebet
Kind!«

Oben standen die Ärzte am Krankenbett, der alte Hausarzt und die noch
junge Autorität. Sie standen zur Rechten und zur Linken.

Der Ausschlag war ganz zurückgetreten; keine Spur von Röte war mehr auf
dem Gesicht des Knaben, der die Augen mit den erschreckend dunklen
Wimpern beharrlich geschlossen hielt. Die Lippen waren blau. Die breite,
aber jetzt förmlich eingesunkene Brust zitterte und arbeitete.

Bei jedem mühsamen Atemzug atmete Käte mühsam mit. Sie saß im Sessel zu
Füßen des Bettes, steil aufrecht; so hatte sie die ganze Nacht gesessen.
Ihr angstvoll-bohrender Blick flog über die bedenklichen Gesichter der
Ärzte und stierte dann an ihnen vorbei ins Leere. Da standen sie, zur
Rechten und zur Linken – aber da, da – sahen sie’s denn nicht?! – da
zu Häupten stand der Tod!

Mit einem unartikulierten Laut bäumte sie sich auf, dann sank sie, wie
geknickt, in sich zusammen.

Die Ärzte hatten dem todkranken Kinde eine Injektion gemacht; die
Herzschwäche war sehr groß und ließ das Schlimmste befürchten. Dann
empfahl sich die Autorität: »Auf morgen!« – aber es lag ein
Achselzucken und ein ›Wer weiß?!‹ in diesem ›Auf morgen‹.

Der Hausarzt war noch geblieben; er konnte als Freund nicht gehen. Käte
hatte sich an ihn geklammert: »Helfen Sie! Helfen Sie doch meinem
Kinde!« Nun saß er mit Schlieben unten in dessen Arbeitszimmer; Käte
hatte allein bei dem Kranken bleiben wollen, nur in der Nähe wissen
wollte sie ihn.

Stumm saßen die beiden Männer bei einem starken Wein. »Trinken Sie,
trinken Sie doch, lieber Freund,« sagte wohl der Hausherr; aber er
selber trank auch nicht. Wie wird sie’s ertragen, wie wird sie’s
ertragen?! Das surrte beständig durch seinen Kopf. Die Stirn in tiefe
Falten gezogen, versank er in ein Brüten. Und der Arzt störte ihn
nicht.

Droben lag Käte auf den Knieen. Vor dem Sessel, im dem sie all die
bangen Nächte durchwacht hatte, war sie niedergesunken und hielt die
Hände gegen ihre emporgehobene Stirn gedrückt. Jetzt suchte sie da oben,
jetzt suchte sie den Gott, der ihr das Kind, das er ihr einst gütig in
den Weg gelegt hatte, nun wieder grausam entreißen wollte. Sie schrie zu
Gott in ihrem Herzen:

›Gott, Gott! Nimm ihn mir nicht! Du darfst ihn mir nicht nehmen! Ich
habe sonst nichts mehr auf der Welt! Gott, Gott!‹

Alles, was sie um sich hatte, was sie sonst noch besaß, – auch ihr Mann
– war vergessen. Sie hatte jetzt nur dieses Kind. Dieses einzige Kind,
das so lieb, so gut, so klug, so brav, so folgsam, so schön, so
reizvoll, so über alle Maßen liebenswert war, das ihr Leben so hoch
beglückt, so reich gemacht hatte, daß sie arm, bettelarm wurde, wenn es
von ihr ging.

»Wölfchen, mein Wölfchen!«

Wie war er immer, immer lieb gewesen, so ganz ihr Kind. Jetzt wußte sie
nichts mehr von Tränen, die sie seinetwegen vergossen hatte; hatte sie
je welche geweint, so waren es Freudentränen, ja, nur Freudentränen
gewesen. Nein, sie konnte ihn nicht missen!

Aus ihrer betenden Stellung auffahrend, rutschte sie näher an sein Bett.
Seinen erkaltenden Körper nahm sie in ihre Arme, bettete ihn in
Verzweiflung an ihre Brust und hauchte ihren glühenden Atem über ihn
hin. All ihre Wärme wollte sie ausströmen lassen in ihn, mit der Kraft
ihres Wollens ihn festhalten auf dieser Erde. Wenn seine Brust nach Luft
rang, so rang auch ihre Brust, wenn sein Herzschlag stockte, stockte
auch der ihre. Sie fühlte sich kalt werden durch seine Kälte, ihre Arme
erlahmen. Aber sie ließ ihn nicht. Sie rang mit dem Tode, der zu Häupten
stand – wer war stärker, der Tod oder ihre, der Mutter, Liebe?!

Niemand konnte sie von des Knaben Bette verdrängen, auch nicht die
Krankenschwester, die Hofmann, als er endlich am Nachmittag in die Stadt
zurück mußte, herausgesandt hatte. Mit sanfter Gewalt versuchten die
Pflegerin und Schlieben sie emporzuziehen: »Nur eine Stunde Ruhe, nur
eine halbe! Nebenan oder auch hier auf dem Sofa!«

Aber sie schüttelte den Kopf und blieb auf den Knieen: »Ich halte ihn,
ich halte ihn!« –

Es wurde Abend. Es wurde Mitternacht. Es hatte vordem stark geweht
draußen, nun war es sehr still geworden. Totenstill. Kein Wind rüttelte
mehr an den Kiefern, die ums Haus standen; kerzengerade gereckt standen
sie gegen den hellen Frosthimmel, ihre Kronen waren steif wie aus
unbiegsamer Pappe geschnitten. Unbarmherzig flinzelten die Sterne; in
der schimmernden Silberplatte des gefrorenen Sees, den das starke Wehen
reingefegt hatte vom feuchten Schnee der vorhergehenden Tage, spiegelte
sich der Vollmond. Eine grimmige Kälte war urplötzlich gekommen, die
alles einzufangen schien mit ihrem Todeshauch.

Fröstelnd schauerten die Wachenden zusammen. Als Schlieben auf den
Thermometer sah, war er erschrocken, wie wenig der selbst hier im Zimmer
zeigte. Versagte die Heizung? Man sah ja den eignen Atem. Hatten die
Leute nicht neue Kohlen aufgeschippt?

Er ging selber hinab ins Souterrain, er hätte klingeln können, aber es
war ihm ein Bedürfnis, etwas zu tun. O, wie war man doch so schrecklich
tatenlos! Stumm kauerte seine Frau jetzt im Lehnstuhl, mit großen
starren Augen; die Pflegerin schlief halb, nichts regte sich im Zimmer.
Auch das Kind lag so still, als wäre es schon tot.

Eine große Bangigkeit befiel den Mann, der jetzt durch das nächtliche
Haus tappte. Es war etwas so Lähmendes in dieser Stille; alles – die
Zimmer, die Treppe, die Halle – alles kam ihm auf einmal so fremd vor.
Fremd und leer. Wie waren sie doch vordem belebt gewesen vom Hauch der
Jugend, erfüllt von der ganzen unbändigen Unbekümmertheit eines wilden
Knaben!

Schwer stützte er sich aufs Treppengeländer, unsicher tastete er sich
hinab. Ob die Leute unten noch auf waren?!

Er fand sie noch alle. Um den Tisch in der Küche, die jetzt so kalt war,
als hätte nicht den ganzen Tag ein hellloderndes Feuer im Herd gebrannt,
saßen sie frierend beisammen. Die Köchin hatte einen starken Kaffee
gekocht, aber auch der hatte ihnen nicht wärmer gemacht. Durchs ganze
Haus schlich eine Todeskälte; es war, als seien Eis und Schnee von
draußen hereingekommen, als fege der Todeshauch der erstarrten Natur
auch hierinnen vom Giebel bis zum Keller.

Es nützte nichts, daß noch mehr Kohlen dem großen Ofen in den Rachen
geschüttet wurden, nichts, daß das Wasser heißer durch alle Röhren
strömte. Kein Mensch bekam wärmere Füße, wärmere Hände.

»Wir wollen es bei dem Patienten mit einem sehr heißen Bad versuchen,«
sagte die Pflegerin. Sie hatte schon oft in ähnlichen Fällen dieses
letzte Mittel von Erfolg gekrönt gesehen.

Alle Hände rührten sich. Die Köchin feuerte, die beiden andern
schleppten das kochende Wasser hinauf; aber Cilla trug mehr und rascher
als der Friedrich. Sie fühlte ihre ganze unerschöpfliche,
schaffensfreudige Jugendkraft. Wie gern tat sie das für den guten
Jungen! Und bei jedem Eimer, den sie in die vors Bett gestellte Wanne
schüttete, murmelte sie leise ein Stoßgebet; sie konnte sich nicht
bekreuzen, sie hatte keine Hand frei, konnte auch nicht niederknieen,
aber sie war gewiß, die Heiligen würden sie doch erhören.

»Heilige Maria! Heiliger Joseph! Heilige Barbara! Heiliger Schutzengel!
Heiliger Michael, streite für ihn!«

Unten hatte sich die Köchin ihr Gesangbuch vorgesucht; sie war eine
Protestantin und brauchte es nicht alle Tage. Nun schlug sie es auf,
aufs Geratewohl: wie es traf, so traf’s! O weh! Zitternd zeigte sie es
dem Friedrich. Da stand:

  ›Wenn ich einmal soll scheiden,
  So scheide nicht von mir –‹

O weh, der Junge muß sterben! Sie waren beide wie gelähmt vor Schreck.

Derweilen flog die flinke Cilla treppauf, treppab. Ihr war nicht mehr so
bange. Er würde nicht sterben, des war sie jetzt sicher.

Als sie ihn drinnen in die Wanne hoben, Schlieben und die Pflegerin, und
die Mutter die schwachen Hände unterhielt wie zur Unterstützung, stand
Cilla draußen vor der Tür und rief wieder ihre Heiligen an. Gern hätte
sie ihr Andachtsbüchlein, ihr ›Brot der Engel‹, zur Hand gehabt, aber es
fehlte an Zeit, es zu holen. So sammelte sie nur ihr ›Hilf‹ und ›Erbarme
dich‹, ihr ›Gegrüßet‹ und ›Streite für ihn‹ mit der ganzen Hingabe ihrer
Gläubigkeit.

Und drinnen begannen sich die Wangen des todbleichen Knaben zu röten.
Die Lippen, die sich so lange zu keinem Laut geöffnet hatten, stießen
jetzt einen Seufzer aus. Er war warm, als sie ihn ins Bett zurücklegten.
Bald war er heiß;, das Fieber setzte wieder ein.

Die Schwester blickte besorgt: »Jetzt Eis! Wir müßten es mit Eisblasen
versuchen!«

Eis! Eis!

»Ist Eis im Hause?« Hastig kam Schlieben aus der Krankenstube heraus, er
stieß fast die Tür gegen die Stirn des betenden Mädchens.

Eis! Eis! Sie waren beide miteinander hinuntergelaufen. Aber auch die
Köchin wußte keinen Rat: nein, Eis war nicht da, man hatte nicht
geglaubt, welches nötig zu haben.

»Schnell, zur Apotheke!«

Der Diener stob davon, aber – großer Gott – ehe der zur Apotheke
gelangte, jemanden weckte und wieder zurück war, konnte die Flamme da
oben so hoch aufgeflammt sein, daß die arme kleine Kerze schon
aufgezehrt war! Ganz wirr vor Angst blickte der Mann umher, da sah er,
wie Cilla mit Fleischbeil und Wassereimer zur Hintertür lief.

»Ich hole Eis!«

»Wo denn?!«

»Da!« Sie lachte und hob den bewehrten Arm, daß das Beil blitzte. »Unten
im See ist ja Eis genug. Ich geh, welches hacken!«

Schon war sie hinaus; er lief hinter ihr drein, ohne Hut, ohne Mütze,
nur mit dem leichten Hausrock bekleidet, den er im Zimmer trug.

Vor der aufglimmenden Hoffnung wichen die Schrecken der Nacht, er fühlte
augenblicklich die Kälte nicht. Aber als nun die Villen so ganz
verschwunden waren hinter den Kiefern, als er nun so einsam am Rande der
eisigen Seefläche stand, die wie ein hartes Metallschild glänzte, von
schwarzen, schweigsamen Riesen drohend umgeben, da fror ihn doch, daß er
glaubte, erfrieren zu müssen. Und er fühlte eine Bangigkeit, wie er sie
noch nie gefühlt hatte. Eine tödliche Angst.

Kam nicht eine Stimme zu ihm? He! Dort aus dem Walde, der wie ein
Dickicht erschien im blauen, verwirrenden Schimmer des Mondlichts?! Und
höhnte und foppte, lachte halb, klagte halb! Schrecklich – wer schrie
so?!

»Der Kauz schreit,« sagte Cilla jetzt, hob mit beiden Händen das Beil
rücklings über die Schulter und ließ es niedersausen mit Kraft. Das Eis
am Rande splitterte. Es knackte und krachte; bis weit in den See hinaus
ging der Ton: ein Murren, ein Grollen, eine Stimme aus der Tiefe.

Würde der Knabe sterben – würde er leben?!

Verstört sah Schlieben sich um. O Gott ja, auch das war umsonst! Würde
umsonst sein! Trotz all seiner Mannhaftigkeit empfand er eine Schwäche
– heute, hier war er schwach. Hier war die Nacht und die Einsamkeit und
der Wald und das Wasser – all das hatte er schon oft gesehen, es war
ihm vertraut gewesen –, aber so war es noch nie gewesen, so still und
doch so schreckhaft belebt. So hoch waren die Bäume noch nie gewesen, so
groß noch nie der See, so fern noch nie die bewohnte Welt!

Es schien ihm etwas zu lauern hinter jener dicken Kiefer – stand da
nicht ein Jäger und legte an, bereit, ihm einen Pfeil durchs Herz zu
schießen?! Das Schweigen beängstigte ihn. Dieses große Schweigen war
furchtbar. Dröhnend zwar hallten die Hiebe der Axt und lockten drüben
über dem See ein Echo, unbeirrt zwar tat Cilla ihr Werk – er bewunderte
die Kaltblütigkeit des Mädchens –, aber die Drohung, die in diesem
Schweigen lag, minderte sich nicht.

Schauer auf Schauer durchrann den verstörten Mann: nein, jetzt wußte
er’s, – ach, wie fühlte er’s deutlich – gegen diese unsichtbare Gewalt
kam niemand an. Hier war alles vergebens!

Ein großer Schmerz überkam ihn. Mit beiden Händen packte er in die
eiskalten Schollen, die das Mädchen losgehackt hatte, und sammelte sie
in den Eimer; er riß sich, er schnitt sich an den zackigen Rändern, die
scharf waren wie Glas, aber er fühlte den körperlichen Schmerz nicht.
Das Blut rann ihm in Tropfen über die Finger.

Und aus seinen Augen begann jetzt auch etwas zu rinnen, schwer und zäh
tropfte es über seine Wangen – langsame, fast widerwillige Tränen. Aber
doch heiße Tränen eines Vaters, der um sein Kind weint.




4


»Jotte, nee, was biste jroß jeworden,« sagte Frau Lämke, »nu wird man
woll bald ›Sie‹ zu dich sagen müssen und ›junger Herr‹?!«

»Nie!« Wolfgang fiel ihr um den Hals.

Die Frau war ganz verdutzt: war das denn noch der Wolfgang? Der war ja
kaum wiederzuerkennen seit der Krankheit – so umgänglich! Und war er
auch immer ein guter Junge gewesen, so zärtlich war er früher doch nie
gewesen?! Und wie lustig er war, er lachte, seine Augen blinkerten
ordentlich wie geputzt!

Wolfgang war voll Lebenslust und einer immerwährenden unbändigen Freude.
Er wußte gar nicht wohin damit. Keinen Augenblick konnte er stille
sitzen, in seinen Armen zuckte es, seine Füße scharrten den Boden.

Er war der Schrecken des Lehrers. Die ganze, sonst immer so musterhafte
Quarta brachte der Junge aus Rand und Band, der eine Junge! Und dabei
konnte man ihm eigentlich nicht einmal so recht von Herzen böse sein. In
die Rügen des müden Mannes, der alle Tage dieselben Stunden, jahraus
jahrein, auf demselben Katheder sitzen, dieselben Diktate diktieren,
dieselben Aufgaben aufgeben, dieselben Lesestücke lesen lassen,
dieselben Wiederholungen wiederholen mußte, mischte sich etwas wie eine
leise Wehmut, die den Tadel milderte: ja, das war Daseinsfreudigkeit,
Gesundheit, Frische, unverbrauchte Kraft – das war Jugend!

Wolfgang kehrte sich nicht an die Vorwürfe, die man ihm machte, er hatte
nicht den Ehrgeiz, unter den Ersten der Klasse zu sein. Er lachte den
Lehrer aus und konnte sich nicht einmal zwingen, betrübt den Kopf zu
senken, als ihm die Mutter, in nervöser Erregtheit, eine schlechte
Zensur vorm Gesicht hin und her schwenkte: »Also dafür quält man sich so
mit dir?!«

Wie ehrgeizig die Frauen sind! Schlieben lächelte; er nahm’s ruhiger.
Nun, er hatte ja auch nicht die Plage davon gehabt wie Käte. Sie hatte
sich, seitdem der Junge so viel durch seine Krankheit versäumt hatte,
jeden Tag mit ihm hingesetzt und geschrieben und gelesen und gerechnet
und Vokabeln gelernt und Regeln und unermüdlich wiederholt und, neben
den Schulaufgaben, selber noch Übungsaufgaben gestellt, und es so fertig
gebracht, daß Wolfgang, trotz der wochen- und wochenlangen
Schulversäumnis, doch Ostern mit nach Quarta versetzt wurde. Erleichtert
hatte sie aufgeatmet: ah, ein Berg war erklommen! Aber der Weg ging
trotzdem jetzt nicht eben fort. Als die ersten Amseln im Garten sangen,
war er als fünfzehnter versetzt worden – also ein Durchschnittsschüler
–, als die erste Nachtigall schlug, war er nicht mehr in diesem
Durchschnitt, und als der Sommer kam, gehörte er zu den Letzten der
Klasse.

Es war zu verlockend, im Garten zu säen, zu pflanzen, zu gießen, auf dem
Rasen zu liegen und sich den warmen Sonnenflimmer über den Leib rinnen
zu lassen; besser noch, draußen umherzuschwärmen an den Waldrändern,
oder im See zu baden, weit hinauszuschwimmen, so weit, daß ihm die
andern Jungen zuschrieen: ›Komm zurück, Schlieben, du versäufst!‹

»Freu dich doch, daß er so munter ist,« sagte Paul zu Käte. »Denke doch
dran, wer hätte, vor einem halben Jahr noch, gedacht, daß er sich so
erholen würde?! Es ist ein Glück, daß er kein Stubenhocker ist. ›Viel
frische Luft‹ hat Hofmann gesagt, ›viel freie Bewegung. Ohne
Schädigungen der Konstitution geht eine so schwere Krankheit nicht ab!‹
Also wählen wir von zwei Übeln doch das kleinere – freilich, der Bengel
muß wissen, daß er nebenbei doch seine Schuldigkeit zu tun hat!«

Das ließ sich schwer vereinen. Käte fühlte sich machtlos werden. Wenn
des Knaben Augen, blank wie dunkle Beeren, begehrten: ›laß mich hinaus‹,
wagte sie ihn nicht zurückzuhalten. Sie wußte, er hatte seine Arbeiten
noch nicht fertig, vielleicht noch nicht einmal begonnen; aber hatte
Paul nicht gesagt: ›man muß von zwei Übeln das kleinere wählen‹, und der
Sanitätsrat: ›ohne Schädigungen geht eine so schwere Krankheit nicht ab;
viel Freiheit‹ –?!

Eine jähe Angst erfaßte sie um sein Leben; noch waren die Schrecken der
Krankheit nicht verwunden. Ach, diese Nächte! Diese letzten furchtbaren
Stunden, in denen nach dem heißen Bad das Fieber höher und höher
gestiegen war, der Puls gerast und das arme Herz gejagt hatte, bis
endlich, endlich das Eis aus dem See Kühlung gebracht und ein Schlaf
sich gesenkt hatte, der, als im Osten der Himmel rot zu werden begann
und ein neuer Tag durchs Fenster hereinschaute, sich in einen
wohltätigen, wunderwirkenden Schweiß löste.

Sie mußte den eben Genesenen laufen lassen.

Aber daß er sich Cilla an den Arm hing, wenn die abends noch einen Gang
zu machen hatte, daß er ihr schleunigst nachlief, wenn sie nur einen
Brief zum Kasten trug, oder daß er ihr einen Stuhl heranschleppte, wenn
sie sich mit ihrem Flickkorb unter den Fliederbusch an der Küchentür
setzen wollte, das war nicht zu dulden. Als Käte erfuhr, daß Cilla an
ihrem Ausgangssonntag nicht weiter gegangen war als bis zu den nächsten
Kiefern am Waldrand und dort mit dem Knaben stundenlang im Grase
gesessen hatte, gab es eine Szene.

Cilla weinte bittere Tränen. Was hatte sie denn getan?! Sie hatte
Wölfchen doch nur von ›zu Hause‹ erzählt!

»Was geht ihn Ihr ›zu Hause‹ an?! Er soll sich um seine Sachen kümmern,
und Sie kümmern sich um die Ihren!« Käte war im Zuge, noch mehr
herauszusprudeln, zu schreien: ›Lassen Sie solche Vertraulichkeiten, ich
dulde sie nicht‹, aber sie bezwang sich, wenn auch nur mit Mühe. Sie
hätte dieses rundwangige, helläugige Mädchen, das so dreist blickte, ins
Gesicht schlagen mögen. Da war selbst Frida Lämke noch vorzuziehen!

Aber Frida ließ sich jetzt nicht mehr so oft sehen. Sie trug schon den
Rock lang bis zum Knöchel und ging in den Freistunden, die ihr die
Schule ließ, zum Nähkursus, und wenn sie eingesegnet war, Ostern übers
Jahr, dann sollte sie, wie sie mit großer Wichtigkeit sagte, ›nach’s
Jeschäft‹.

»Ich kündige ihr,« sagte Käte eines Abends, als Cilla eben den Tisch
abgedeckt hatte und sie ganz allein mit ihrem Mann saß.

»So?« Er hatte gar nicht recht hingehört. »Warum denn?«

»Darum!« Ein unterdrückter Ärger vibrierte im Ton der Frau – mehr als
das, eine leidenschaftliche Erregung. Ihre sonst goldbraunen, milden
Augen wurden dunkel und blickten finster in sich hinein.

»Du zitterst ja förmlich! Was ist denn nun schon wieder?!« Verstimmt
legte er die Zeitung hin, die er eben hatte lesen wollen. Da war wieder
etwas mit dem Jungen los; nur dann erregte sie sich so!

»Es geht nicht länger!« Ihre Stimme war hart, hatte jeden Schmelz
verloren. »Und ich dulde es nicht! Denke dir, als ich heute nach Hause
komme – ich war gegen Abend eine Stunde fort, kaum eine Stunde –,
Gott, Gott, man kann sich doch nicht immer zur Aufpasserin machen, man
erniedrigt sich ja vor sich selber!« Leidenschaftlich verschlang sie die
Hände, preßte sie so heftig ineinander, daß die Knöchel ganz weiß
wurden. »Ich hatte ihn an seinem Pult gelassen, er hatte so viel auf,
und als ich wiederkomme, war kein Strich gemacht! Aber unten, hinten vor
der Küchentür, da – da höre ich sie!«

»Wen denn?«

»Nun, Wolfgang und die – die Cilla! Kaum bin ich fort!«

»Nun und?!«

Sie hatte geschwiegen, seufzend, in einem tiefen Kummergefühl, das den
Zorn aus ihren Augen verjagte.

»Er legte ihr von hinten den Arm um den Hals! Und hat sie geküßt!
›Liebes Cillchen!‹ Und sie zog ihn an sich, nahm ihn fast auf den Schoß
– dazu ist er viel, viel zu groß – – und redete immer in ihn
hinein!«

»Hast du verstanden, was sie sagte?«

»Nein. Aber sie lachten. Und dann gab sie ihm einen Klaps gegen die
Kehrseite – du hättest es nur sehen sollen! – und dann er ihr. Hin und
her ging das. Ist das passend?!«

»Das geht zu weit, da hast du recht! Aber schlimm ist es nicht. Sie ist
eine gute, noch ganz unverdorbene Person, er ein dummer Junge. Darum
wirst du das Mädchen doch nicht entlassen? Ich bitte dich, Käte! Haben
sie dich bemerkt?«

»Nein!«

»Nun, dann tu auch nicht desgleichen. Das ist viel klüger. Ich werde mir
den Jungen schon mal bei Gelegenheit vornehmen!«

»Und du meinst, ich könnte – ich kann – ich muß sie nicht entlassen?«
Käte war ganz kleinlaut geworden gegenüber seiner Ruhe.

»Dazu liegt gar kein Grund vor!« Er war völlig überzeugt von dem, was er
sagte, und wollte wieder zu seiner Zeitung greifen. Da fing er ihren
Blick auf und streckte ihr die Hand über den Tisch hin: »Liebes Herz,
nimm nicht alles so schwer! Du verkümmerst dir ja das Dasein – dir –
dem Jungen – und – ja, auch mir! Nimm’s leichter! – So, und nun will
ich endlich mal zu meiner Zeitung kommen!«

Käte stand leise auf – er las ja! Sie hatte ihm ihre Hand nicht
gelassen. Seine Ruhe verletzte sie. Das war schon mehr als Ruhe, das war
Gleichgültigkeit, Lässigkeit! Aber sie wollte nicht lässig sein, nein,
sie wollte nicht müde werden!

Und sie ging ihrem Knaben nach.

Wolfgang war schon oben in seinem Zimmer. Er war zwar noch an Cilla, die
unten in der Küche das Geschirr abtrocknete, leise von hinten
herangeschlichen, hatte sie gezwickt, sie dann mit beiden Armen umfangen
und um eine Geschichte gebettelt: »Erzähl mir was!« – aber sie hatte
nicht gewollt.

»Ich weiß nichts!«

»Och, erzähl mir doch! Von der Prozession! Oder wenn’s nur von eurer Sau
ist! Wieviel hatte die doch ’s letzte Mal geworfen?«

»Dreizehn!« =Der= Frage war zwar nicht zu widerstehen, aber doch blieb
Cilla wortkarg.

»Kalbt eure Kuh auch dieses Jahr? Wieviel Kühe hat denn der größte Bauer
bei euch? Weißt du, der unten an der Warthe, der Hauländer! Sag doch?!«
Er wußte ganz genau Bescheid, kannte alle Leute bei ihr zu Hause und
alles Vieh. Er konnte nie genug davon erzählen hören und von dem Land,
über das die Glöckchen bimmeln zur Frühmesse und zur Vesper oder tief
und feierlich rufen am Sonntage um die Hochamtszeit. Vom Lande hörte er
zu gern erzählen, von Ackerbreiten, auf denen blauer Flachs und goldner
Roggen steht, von blauenden Waldstrichen am Horizont, von weiten, weiten
Heidestrecken, auf denen die Bienen emsig über blühendem Kraut summen
und abends an stillen Wassern, wenn Himmel und Sonne sich rot darin
spiegeln, der Sumpfvogel schreit.

»Erzähl davon!« Er bettelte und drängte.

Aber sie blieb unlustig und schüttelte den Kopf: »Nee, geh schon, nee,
ich will nich! Die Frau hat mer heute abend wieder so angesehn – ach,
so – nee! Ich glaube, sie will mer wohl kündigen!«

Verdrießlich war er in sein Zimmer hinaufgeschlichen und hatte sich
ausgekleidet. Er war so daran gewöhnt, er konnte gar nicht gut schlafen,
wenn Cilla ihm nicht vorher etwas erzählt hatte. Dann schlief er so
sanft ein und träumte so wunderschön von weiten Heidestrecken, die rot
blühten, von stillen Wassern, an denen der Sumpfvogel schrie, den er
jagen ging.

Ach, die Cilla, was die nur heut hatte! Wie dumm! ›Die Frau wird mer
kündigen‹ – Unsinn, als ob er das litte! Und er ballte die Faust.

Da knarrte die Tür.

Er reckte den Hals: war sie’s, kam sie doch noch?! Die Mutter war’s.
Geschwind schlüpfte er ins Bett und zog die Decke bis an die Stirn.
Mochte sie denken, er schliefe schon!

Aber sie dachte das nicht, sondern sie sagte: »So, bist du noch wach?«
und setzte sich auf den Stuhl beim Bett, auf dem seine Sachen lagen. Da
saß auch sonst immer die Cilla. Er verglich im stillen die beiden
Gesichter. Ah, die Cilla war doch viel hübscher, so weiß und rot, und
hatte Grübchen in ihren dicken Backen, wenn sie lachte, und war so
vergnügt! Häßlich war die Mutter zwar auch nicht!

Er hatte sie aufmerksam betrachtet; und da überkam es ihn plötzlich mit
einem ihm sonst gänzlich unbekannten Gefühl: ach, sie hatte ja so
schmale Bäckchen! Und an den Schläfen herunter das weiche Haar – das
war ja – das –

»Du wirst ja grau,« sagte er auf einmal, förmlich erschrocken, und
streckte den Finger aus: »Da, ganz grau!«

Sie nickte. Ein Zug des Unbehagens verlängerte ihr Gesicht und ließ es
noch schmäler erscheinen.

»Du müßtest mehr lachen,« riet er. »Dann sähe man gar nicht, daß du
Falten hast!«

Falten – ach ja, Falten! Mit einer nervösen Bewegung fuhr sie über die
Stirn. Was Kinder für unbarmherzige Augen haben! Mit Jugend und
Schönheit war’s wohl endgültig vorbei – den letzten Rest aber, den
hatte der Knabe hier genommen! Und wie ein Vorwurf klang’s: »Das machen
die Sorgen. Deine schwere Krankheit und – und –« sie stockte, sollte
sie jetzt von dem anfangen, was sie so beunruhigte? »Und da ist noch
manches andre,« schloß sie mit einem Seufzer.

»Das glaub ich wohl,« sagte er unbefangen. »Du bist ja auch schon alt!«

Nun, ehrlich war er, das mußte man gestehen; aber ohne eine Spur von
Zartgefühl! Sie konnte eine leise Gereiztheit nicht unterdrücken; es war
nicht angenehm, sich von seinem Kinde an sein Alter erinnern zu lassen.
»So alt bin ich denn doch noch nicht,« sagte sie.

»Na, =so= alt meine ich ja auch gar nicht. Aber doch viel älter als ich
oder die Cilla zum Beispiel!«

Sie zuckte zusammen – immer kam er mit dieser Person!

»Die Cilla ist ein hübsches Mädchen, findest du nicht, Mutter?«

Der Ärger überkam sie so heftig, daß sie sich nicht mehr in der Gewalt
hatte. »So?« sagte sie kurz und stand auf. »Sie zieht zum ersten
Oktober!«

»Sie zieht?! Och nee!« Er starrte sie ungläubig an.

»Doch, doch!« Sie kam sich grausam vor, aber konnte sie denn anders
sein? Es lag ein so großes Erschrecken in seiner Ungläubigkeit. »Sie
zieht; ich kündige ihr!«

»Och nee, das tust du ja nicht!« Er lachte. »Das tust du ja doch
nicht!«

»Ja, das tue ich!« Auf jedes Wort legte sie einen besonderen Nachdruck;
es klang unumstößlich.

Er schüttelte noch immer ungläubig den Kopf: das konnte ja gar nicht
sein! Aber dann fiel ihm auf einmal Cillas gedrücktes Wesen wieder ein
und ihre Worte am heutigen Abend – ›Sie will mer wohl kündigen!‹ »Nein,
das tust du nicht!« Mit einem Ruck setzte er sich im Bette auf.

»Ich werde dich nicht fragen!«

»Nein, du tust es nicht, du tust es nicht,« schrie er. Cillas Gestalt
stand auf einmal vor ihm, ihre treuherzigen Augen sahen ihn traurig an
– sie gefiel ihm so wohl – und die sollte gehen?! Eine Wut kam über
ihn.

»Sie soll nicht gehen, sie soll nicht gehen,« heulte er auf und schrie
es laut und lauter: »Sie soll nicht gehen!« Er warf sich hintenüber,
reckte sich lang, stieß in einem sinnlosen, nicht zu bezeichnenden
Empfinden mit den Füßen gegen die Bettstatt, daß die in allen Fugen
krachte.

Käte war erschrocken; so heftig hatte sie ihn nie gesehen. Aber wie
recht hatte sie! Sein Benehmen zeigte ihr’s deutlich. Nein, sie durfte
sich nicht grausam schelten, wenn auch seine Tränen flossen; es war
notwendig, daß die Cilla ging! Aber er tat ihr leid.

»Wölfchen,« sagte sie überredend, »aber, Wölfchen!« Sie versuchte ihn zu
besänftigen und zog ihm mit liebevoller Hand die heruntergefallene Decke
wieder herauf. Aber sowie sie ihn berührte, stieß er sie von sich.

»Wölfchen – Wölfchen – du mit deinem Wölfchen! Als ob ich noch ein
kleines Kind wäre! Ich heiße Wolfgang. Und du bist ungerecht! Neidisch!
Du willst nur, daß sie geht, weil ich sie lieber habe, viel lieber als
dich!«

Er schrie es ihr ins Gesicht, das tief erblaßte. Sie hatte das Gefühl,
als müßte sie aufschreien vor Schmerz. Sie, die sie so viel um ihn
gelitten hatte, setzte er hintenan?! Jetzt fielen ihr auf einmal,
brennend und unaustilgbar, alle die Tränen ein, die sie schon um ihn
vergossen hatte. Und von all den schweren Stunden der Krankheit war
keine so schwer gewesen wie die jetzige.

Sie vergaß, daß er noch ein Kind war, ein ungezogener Junge. Hatte er es
denn nicht selber gesagt: ›Ich bin kein Kind mehr –?!‹ Unverzeihlich
erschien ihr sein Benehmen. Ohne Wort ging sie zur Tür hinaus.

Er sah ihr betroffen nach: hatte er sie gekränkt?! Plötzlich kam ihm das
Bewußtsein davon – o nein, das wollte er nicht! Schon hob er die Füße
aus dem Bett, um ihr auf sackten Sohlen nachzulaufen, sie am Kleide
festzuhalten, zu sagen: ›Du, bist du böse?!‹ – da fiel ihm die Cilla
wieder ein. Nein, das war doch zu schlecht von ihr, daß sie die gehen
hieß!

Sich weinend unter die Decke verkriechend, faltete er die Hände. Cilla
hatte ihm gesagt, daß man zur heiligen Jungfrau beten müsse, zu jener
lächelnden Frau im blauen Sternenmantel, die, mit der Krone auf dem
Haupt, über dem Altar thront. Die heilte alles. Und wenn die Gott im
Himmel um etwas bat, so tat der’s. Zu ihr wollte er jetzt beten.

Cilla hatte ihn damals, als die Mutter im Bade und der Vater in Tirol
war, einmal mitgenommen in ihre Kirche. Er hatte ihr versprechen müssen,
niemandem etwas davon zu sagen, und der Reiz des Geheimnisvollen hatte
den Reiz jener Kirche erhöht. Eine unbewußte Sehnsucht zog ihn nach
jenen Altären, wo die Heiligen prangten und wo man Gott, den man doch
bitten soll wie einen Vater, leibhaftig schauen konnte. In der Kirche,
die die Mutter zuweilen besuchte und in der er auch schon gewesen war,
hatte es ihm nie so gut gefallen.

Jene Sehnsucht, die ihm wie ein Märchen im Sinn schwebte, kam jetzt mit
Gewalt und lebendig über ihn. Ja, so hinknieen können vor der lieben
Frau, die reizender war als alle Frauen auf Erden sind, und kaum daß man
seine Bitte vortrug, auch schon der Erfüllung gewiß sein, das war schön!
Herrlich!

»Gegrüßet seist du, Maria!« So fing der Cilla Gebet an; weiter wußte er
es nicht, aber er wiederholte das, viele Male. Und nun roch er wieder
den Weihrauch, der die Kirche durchduftet hatte, hörte wieder das
Schellchen der Wandlung, sah den Geweihten des Herrn, dem die prächtige
Stola überm Meßgewand hing, sich verneigen, bald links am Altar, bald
rechts. O, wie er es den Knaben in den weißen Chorhemden neidete, die
neben ihm knieen durften! Seliger Wohlklang schwebte unterm
hochgewölbten Kuppeldach:

  ›_Procedenti ab utroque
  Compar sit laudatio_ –‹

so ähnlich hatten sie gesungen. Und dann hatte der Priester die
strahlende Monstranz hoch erhoben, und alle Leute hatten sich tief
gebeugt. ›_Qui vivis et regnas in saecula saeculorum!_‹ Ja, =das= Latein
hatte er gut behalten! Das würde er auch sein Leben nicht vergessen!

Anstoßen hatte ihn die Cilla müssen und flüstern: ›Komm, wer gehn
jetzt,‹ sonst wäre er damals noch lange knieen geblieben in der
prächtigen und doch so heimeligen Kirche, in der nichts kalt war und
fremd.

Wenn er doch wieder einmal hinkönnte! Cilla hatte es ihm freilich
versprochen zu gelegener Zeit – aber sie sollte ja jetzt weg, und die
gelegene Zeit würde nie kommen! Schade! Ein großes Bedauern erhob sich
in ihm und zugleich ein Trotz: nein, in die Kirche, wohin die Mutter
ging und wohin die aus seiner Schule gingen, dahin ging er nicht!

Und er flüsterte wieder: »Gegrüßet seist du, Maria,« und bei diesem
Flüstern fingen die Tränen, die heiß und zornig über sein Gesicht
gelaufen waren, an zu versiegen.

Er war aus dem Bett geklettert und hatte sich auf den Teppich davor
niedergekniet, die zusammengelegten Hände in Anbetung erhoben, so wie er
es bei den Engeln auf dem Altarbild gesehen hatte. Seine Augen waren
glänzend und weit aufgeschlagen, sein Trotz zerfloß in Hingabe.

Als er endlich ins Bett zurückstieg und die übergroße Müdigkeit seine
Aufregung niederschlug und er einschlief, träumte er von der reizenden
Jungfrau Maria, die wohlbekannte Züge trug, und fühlte sein Herz zu ihr
entbrennen.

       *       *       *       *       *

Es war vierzehn Tage später, am 1. Oktober, daß Cilla den Dienst
verließ. Frau Schlieben hatte ihr ein gutes Zeugnis geschrieben; warum
sie eigentlich entlassen war, das war dem Mädchen noch nicht recht klar,
selbst als es auf der Straße stand. Die Frau wollte ein älteres
erfahrenes Mädchen haben – so hatte sie gesagt –, aber das glaubte
Cilla doch nicht recht, sie fühlte unbestimmt einen andern Grund heraus:
die mochte sie eben nicht leiden. Nun wollte sie erst einmal nach Hause
fahren, ehe sie einen neuen Dienst annahm, sie fühlte Heimweh, und der
Abschied hier aus der Stelle war ihr schwer geworden – des Jungen
wegen. Wie hatte der geweint! Gestern abend noch. Er hatte sich an ihren
Hals gehängt und sie vielmals geküßt, der große Junge, wie ein kleines
Kind! Und so viel hatte er ihr noch sagen wollen. Oben auf dem dunklen
Flur hatten sie gestanden miteinander gestern abend, da scheuchte sie
der Tritt der Frau, die die Treppe heraufkam; gerade noch, daß er in
seine Stube hatte entwischen können.

Und nicht einmal Adieu hatte sie ihm heute sagen können, dem guten
Jungen! Denn als er kaum in der Schule war, hatte die Frau gesagt: »So,
nun können Sie gehen!« Ganz verdutzt war sie gewesen, hatte sie doch
darauf gerechnet, erst am Nachmittag fortzukommen. Aber nun war das neue
Hausmädchen, eine Ältliche mit spitzem Gesicht, auch schon eher
angezogen; was sollte sie da auch noch? So hatte sie nur noch rasch die
Heiligenbildchen aus ihrem Gebetbuch alle in ein Papier gewickelt und in
die Schublade von des Jungen Nachttisch gesteckt – da würde er sie
gewiß finden – und ›Gruß von Cilla‹ darauf geschrieben. Dann war sie
abgezogen.

Ihren Korb hatte Cilla als Frachtgut aufgegeben, nun hatte sie nichts zu
tragen als ein kleines Ledertäschchen und einen Pappkarton mit Stricken
verschnürt. So konnte sie rasch vorankommen. Aber als sie dem
Stadtbahnhof zuging, blieb sie auf einmal stehen: um ein Uhr war die
Schule aus, nun ging es gegen elf, es kam wirklich nicht darauf an, wenn
sie etwas später abfuhr. Wie würde er sich freuen, wenn sie ihm noch
Adieu sagte und: ›Vergiß mich auch nicht!‹

Sie drehte sich um. In der Nähe der Schule würde sich schon eine Bank
finden, da wollte sie auf ihn warten.

Die Vorüberkommenden schauten neugierig nach der jungen Person, die wie
ein Soldat, still und steif, in der Nähe des Gymnasiums auf Posten
stand. Eine Bank hatte Cilla nicht gefunden; sie traute sich nicht weit
vom Eingang fort, aus Angst, ihn zu verpassen. So stand sie denn, mit
ihrem kleinen Täschchen am Arm, den Karton hatte sie zur Erde gesetzt.
Ab und zu fragte sie jemanden, wieviel Uhr es sei. Die Zeit verging
langsam; endlich war es bald eins. Da fühlte sie ihr Herz klopfen: der
gute Junge! Schon sah sie seine dunklen Augen freundlich aufglänzen,
hörte ein erstauntes: ›Cillchen, du?!‹

Ihren Hut zurechtrückend auf dem schönen blonden Haar, ein höheres Rot
auf den roten Wangen, sah Cilla hin nach dem Schultor: gleich würde es
klingeln – dann kam er angestürmt – da – auf einmal sah sie die Frau.
Die –?! Mit schnellen Schritten kam Frau Schlieben aufs Schultor zu. O
weh!

Mit ein paar raschen Sätzen sprang das Mädchen hinter ein Gebüsch: die
holte heute selber ihren Wolfgang ab?! Ach, da mußte sie ja gehen! Und
sehr betrübt schlich sie zum Bahnhof. All die Freude, in der ihr Herz
geklopft hatte, war hin; aber einen Trost hatte sie doch: der Wolfgang
würde sie nicht vergessen. Nein, nie! –

Wolfgang war sehr erstaunt, als er seine Mutter sah. Er brauchte doch
nicht abgeholt zu werden?! Das hatte sie doch auch früher nicht selber
getan?! Er war unangenehm berührt. War er denn ein kleines Kind? Die
andern würden ihn auslachen! Ein Unmut brannte in ihm, aber der Mutter
Güte entwaffnete ihn.

Sie war heute besonders weich und sehr gesprächig. Sie fragte ihn nach
all dem, was sie heute in der Schule gehabt hatten, schalt auch nicht,
als er gestand, er habe zehn Fehler im lateinischen Extemporale gemacht,
im Gegenteil, sie verhieß ihm einen Ausflug nach Schildhorn am
Nachmittag. Es war ja ein so schöner, sonnenheller, fast sommerlicher
Herbsttag. Ganz vergnügt schlenderte der Knabe neben ihr her, seine
Bücher am langen Riemen schlenkernd. Daß Cilla heute abgehen sollte,
hatte er augenblicklich ganz vergessen.

Freilich, als sie nach Hause kamen und das fremde Mädchen ihnen öffnete,
machte er große Augen, und als sie zu Tisch gingen und die neue mit dem
spitzen Gesicht, die aussah wie ein Fräulein, die Speisen auftrug, hielt
er sich nicht länger.

»Wo ist Cilla?« fragte er.

»Die ist fort – du weißt doch,« sagte die Mutter so nebenhin.

»Fort –?!« Er wurde blaß und dann glühend rot. Also gegangen, ohne ihm
Adieu zu sagen?! Er hatte auf einmal keinen Appetit mehr, obgleich er
vorher solchen Hunger gehabt hatte. Jeder Bissen würgte ihn; starr sah
er auf seinen Teller, wagte nicht aufzublicken, denn er fürchtete, er
könnte weinen.

Die Eltern sprachen über dieses und jenes – allerlei Gleichgültiges –,
und in ihm schrie es: ›Warum ist sie gegangen, ohne mir Adieu zu
sagen?!‹ Das kränkte ihn zu tief. Er konnte es gar nicht fassen – sie
hatte ihn doch so lieb gehabt! Wie hatte sie’s nur übers Herz bringen
können, fortzugehen, ohne ihn wissen zu lassen, wo er sie finden
konnte?! Es konnte nicht sein, das hatte sie nicht aus freiem Willen
getan – sein Cillchen so von ihm gehen?! O nein, nein! Und gerade
während er in der Schule war?!

Ein plötzliches Mißtrauen befiel ihn: an so etwas hatte er bisher gar
nicht gedacht, aber nun war’s ihm auf einmal klar – oho, dumm war er
denn doch nicht! – eben weil er gerade in der Schule war, hatte sie
fortgemußt! Die Mutter hatte die Cilla immer nicht leiden können, die
hatte auch nicht gewollt, daß Cilla ihm Adieu sagte!

Unter gesenkten Wimpern hervor schoß der Knabe böse Blicke nach seiner
Mutter: das war eine Schändlichkeit von ihr!

In verhaltenem Ingrimm murmelte er: »Gesegnete Mahlzeit« und schlorrte
die Treppe hinauf in sein Zimmer. Im Schublädchen fand er sofort die
versteckten Heiligenbildchen – ›Gruß von Cilla‹ – da brach seine Wut
aus und sein Schmerz. Er stampfte mit den Füßen und küßte die bunten
Bildchen, und seine Tränen gaben lauter dunkle Flecke darauf. Dann
polterte er die Treppe hinab ins Eßzimmer, wo der Vater noch am Tische
saß und die Mutter am Büfett Obst und Kuchen in ihren Pompadour packte.
Aha, sie hatte ja mit ihm spazieren gehen wollen! Das sollte ihm gerade
einfallen!

»Wo ist die Cilla hin? Warum hast du sie mir nicht Adieu sagen
lassen?!«

Die Mutter sah ihn wie erstarrt an: woher erriet der Junge ihre
allergeheimsten Gedanken? Sie brachte kein Wort heraus. Aber er ließ sie
auch zu gar keiner Äußerung kommen, seine noch hohe Knabenstimme
überschlug sich in der Erregung und wurde dann tief und rauh: »Ja, du –
o, ich weiß es ganz genau – du wolltest es nicht haben, daß sie mir
Adieu sagte! Du hast sie fortgeschickt, damit ich sie nicht mehr sehen
sollte – du, du! Das ist schändlich von dir – das ist – das ist
gemein!« Er ging gegen sie an.

Langsam wich sie zurück – seine Hände hoben sich, wollte er sie
schlagen?!

»Bengel!« Des Vaters Faust packte ihn im Genick. »Was unterstehst du
dich? Die Hand gegen deine Mutter zu heben?! Du – du!« Der empörte Mann
rüttelte den Knaben, dem die Zähne zusammenschlugen, und schüttelte ihn
wieder und wieder. »Du – du Rüpel, du Nichtsnutz!«

»Sie hat sie mir nicht Adieu sagen lassen,« schrie der Knabe dagegen,
»sie hat sie weggeschickt, weil – weil –«

»Du willst dich noch erdreisten, ein Wort zu –«

»Doch! Warum hat sie die Cilla mir nicht Adieu sagen lassen, die hat ihr
gar nichts getan, die hab ich lieb gehabt, aber darum, gerade darum
–«

»Schweig!« Ein heftiger Schlag traf des Knaben Lippen. Schlieben kannte
sich selber nicht mehr; seine Ruhe hatte ihn verlassen, des Knaben
Widersetzlichkeit jagte ihn in die Hitze. Wie der sich gegen seine
haltende Hand sträubte, ihm mit dreisten Augen ins Gesicht sah! Wie der
es wagte, die Stimme gegen ihn zu erheben! »Du« – er schüttelte ihn –
»also so frech?! So undankbar?! Was wäre aus dir geworden – im Elend
wärst du verkommen – ja – sie hat dich erst zum Menschen gemacht –
dich aufgelesen aus dem –«

»Paul!« Der Schrei seiner Frau unterbrach Schlieben. Wie eine Sinnlose
fiel ihm Käte in den Arm: »Nein, nein, laß ihn! Du sollst nicht, –
nein!« Sie hielt ihm den Mund zu. Und als er sie im Ärger von sich schob
und den Knaben wieder fester packte, entriß sie diesen ihm und drückte
wie schützend seinen Kopf in ihr Kleid. Sie hielt seine Ohren zu. Und
angstvoll, die überweit geöffneten Augen im tief erbleichten Gesicht
nach ihrem Manne kehrend, flehte sie: »Kein Wort! Ich bitte, ich bitte
dich!«

Sein Zorn war noch nicht verraucht. Wahrhaftig, Käte mußte nicht ganz
bei sich sein! Was entzog sie denn den Knaben der wohlverdienten
Züchtigung?! Mit hartem: »Aber Käte – kein Pardon!« ging er von neuem
auf den Knaben zu.

Da flüchtete sie diesen zur Tür hinaus, riegelte ab und stellte sich vor
die Tür, wie um den Ausgang zu versperren.

Nun war Wolfgang fort. Nun waren sie beide allein, sie und ihr Mann, und
mit dem vorwurfsvollen Ruf: »Du hättest es ihm beinah verraten,« wankte
sie nach dem Sofa. Sie fiel mehr hin, als daß sie sich setzte, und brach
in fassungsloses Weinen aus.

Mit großen Schritten ging Schlieben im Zimmer auf und ab. In der Tat, da
hätte er sich von seiner Empörung beinahe hinreißen lassen! Aber wäre es
denn ein Unglück gewesen, wenn er dem Jungen ein Licht aufgesteckt
hätte?! Mochte der nur wissen, woher er stammte, und daß er nichts,
eigentlich gar nichts hier zu suchen hatte! Daß er alles aus Gnade
empfing! Es war durchaus nicht nötig, eher nachteilig als wünschenswert,
ihm das zu verheimlichen. Aber wenn sie es denn durchaus nicht haben
wollte!

Er unterbrach sein Hin- und Hergehen, blieb vor der in der Sofaecke
Weinenden stehen und sah auf sie nieder. Sie tat ihm so unendlich leid.
Das hatte sie nun für all ihre Güte, ihre Selbstlosigkeit, für all ihre
Aufopferung! Sachte legte er ihr, ohne Wort, die Hand auf den
tiefgesenkten Scheitel.

Da richtete sie sich jäh auf und haschte nach seiner Hand: »Und tu ihm
nichts, ich bitte dich! Schlage ihn nicht! Ich bin schuld – er hat’s
erraten. Ich konnte sie nicht leiden, ich habe ihr gekündigt, und dann
habe ich sie heimlich fortgeschickt – nur, weil er sie lieb hatte,
gerade darum! Ich fürchtete sie. Paul, Paul« – sie rang reuevoll die
Hände – »o, Paul, ich schäme mich vor dem Kinde, ich schäme mich vor
mir selber!« – –

Wolfgang hockte oben in seiner Stube und hielt die Heiligenbildchen in
der Hand. Die waren nun sein köstlichster, sein einziger Besitz; ein
teures Andenken. Wo sie jetzt wohl sein mochte? Noch hier im Grunewald?
Schon in Berlin? Oder noch viel weiter? Ach, wie er sich nach ihr
sehnte! Ihr freundliches, ihm heimlich-zulächelndes Gesicht fehlte ihm,
und dies Vermissen steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Hier war ja
keiner, der ihn so lieb hatte, wie sie ihn lieb gehabt – den er so lieb
hatte, wie er sie lieb gehabt hatte!

Nun Cilla fort war, vergaß er, daß er sie doch auch oft ausgelacht und
gehänselt, sich auch jungenhaft mit ihr gezankt hatte. Nun wuchs seine
Sehnsucht ins Unbegrenzte, und ihre Gestalt wuchs mit. Wurde so groß und
stark, so übermächtig, daß sie ihm den Blick benahm auf alles andre, was
noch um ihn war. Er warf sich auf den Teppich und krallte die Hände
hinein; so mußte er sich halten, sonst hätte er alles um sich
zerschlagen, alles, kurz und klein.

Das war der Tritt des Vaters auf der Treppe! Es rüttelte an seiner Tür.
Mochte er rütteln! Wolfgang hatte sich eingeschlossen.

»Mache sofort auf!«

Aha, nun gab’s Prügel! Hastig wischte sich Wolfgang die Tränen ab, biß
die Zähne zusammen und kniff die Lippen aufeinander.

»Nun, wird’s bald?!« Immer stärker wurde das Rütteln.

Da ging er und schloß auf. Der Vater trat ein; nicht mit dem Stock, den
der Knabe in seiner Hand vermutet hatte, aber mit Zorn und Kummer auf
der Stirn.

»Komm sofort herunter! Du hast deine arme, gute – nur zu gute Mutter
tief gekränkt. Komm jetzt zu ihr und bitte ab. Zeige ihr, daß dir’s leid
tut – hörst du?! Komm!«

Der Knabe rührte sich nicht. Mit einem namenlos unglücklichen, zugleich
aber auch verbissenen Ausdruck starrte er, am Vater vorbei, ins Leere.

»Du sollst kommen – hörst du nicht? Deine Mutter wartet!«

»Ich komm nicht!« Wolfgang murmelte es; kaum daß er die Zähne
voneinander brachte.

»Was –?!« Sprachlos, ganz benommen von so viel Frechheit, starrte der
Mann den Knaben an.

Dieser erwiderte seinen Blick, groß und starr. Das junge Gesicht war so
blaß, daß die dunklen Augen noch dunkler erschienen; abgrundschwarz.

›Böse Augen,‹ sagte sich Schlieben. Und von einem alten, längst
vergessenen, aber trotz allem und allem immer noch in der tiefsten Seele
schlummernden, jetzt plötzlich lebendig gewordenen Argwohn jäh
übermannt, faßte er den Knaben vorn bei der Brust und hielt ihn so
mächtig, daß es keinen Widerstand mehr gab.

»Bengel! Bursche! Hast du denn gar kein Herz? Sie, die dir so viel Gutes
getan hat, sie, sie wartet auf dich – und du, du willst nicht?! Auf die
Kniee, sag ich! Voran – bitte ab! Sofort!« Und er faßte den keine
Regung Zeigenden nun im Genick anstatt bei der Brust, und stieß ihn vor
sich her, die Treppe hinunter, hinein ins Zimmer, wo Käte saß, versunken
in ihren Kummer, die Augen rotgeweint.

»Hier kommt einer, der abbitten will,« sagte Schlieben und stieß ihr den
Knaben vor die Füße.

Wolfgang hatte schreien wollen: ›nein, ich bitte nicht ab, nun erst
recht nicht!‹ – da tat sie ihm auf einmal so leid. Ach, die war ja
ebenso unglücklich wie er – sie paßten nun einmal nicht zueinander! Das
war wie eine plötzliche Erkenntnis, die seinen Blick vertiefte, sein
Kindergesicht so verschärfte in allen Linien, daß es alt wurde über
seine Jahre.

Aufschluchzend stieß er heraus: »Verzeih!« Er hörte es selber nicht,
wieviel Qual in seinem Ton lag, er fühlte auch kaum, daß ihre Arme ihn
emporzogen, daß er für Augenblicke an ihrer Brust lag und sie ihm die
Haare aus der glühenden Stirn strich. Er war wie halb bewußtlos; nur
eine große Leere fühlte er und eine unklare Trostlosigkeit.

Wie im Traum hörte er den Vater sprechen: »So ist’s recht! So, nun geh
und arbeite! Und bessere dich!« Und der Mutter sanfte Stimme: »Ja, er
wird schon!« Wie ein Nachtwandelnder ging er die Treppe hinauf. Er
sollte jetzt arbeiten – wozu, warum?! Es war ja alles so gleichgültig.
Gleichgültig war es, ob die hier ihn lobten oder tadelten – was ging
ihn alles hier an?! Er mochte hier überhaupt nicht mehr sein, nicht
länger mehr bleiben – nein, nein! Wie im Abscheu schüttelte er sich.

Lange stand er dann auf einem Fleck, ins Leere stierend. Und vor seinen
starrenden Blicken erstand allmählich eine große, eine unermeßliche
Weite – Kornfelder und Heide, rote blühende Heide, in der die Sonne
versinkt, stille Wasser, an denen ein einsamer Vogel lockt und über all
dem feierlich-schönes Glockengeläut. Da mußte er hin! Verlangend
streckte er die Arme aus, seine verweinten Augen glänzten auf.

Wenn sie ihn hier hielten, festhielten – nein, sie konnten ihn nicht
halten! Dahin mußte er!

Wie gezogen näherte er sich dem Fenster. Tief war’s da hinunter, zu tief
für einen Sprung, aber er würde doch hinabkommen. Über die Treppe ging
es freilich nicht, da würden sie ihn hören, aber so – ja, so!

Sich auf das äußere Gesims des Fensters knieend, streckte er tastend die
Füße nach der Wasserrinne aus, die, zur Seite des Fensters, die ganze
Wand des Hauses hinablief. Ha, er fühlte sie! Da rutschte er vom Sims
herab, hing nur noch mit den Fingerspitzen daran, baumelte für ein paar
Momente in freier Luft, hatte dann die Wasserrinne zwischen den Knieen,
ließ die Finger vollends vom Sims, umklammerte das Blechrohr und fuhr
daran hinab, rasch und lautlos.

Scheu sah er sich um: es hatte ihn niemand gesehen! Niemand war auf der
Straße, fern wanderten nur ein paar Spaziergänger. Geduckt schlich er
unter den Parterrefenstern her – nun war er im Garten hinter den
Bosketts – nun über den Zaun – seine Hose schlitzte, das machte nichts
– nun sah er mit einem Gefühl wilden Triumphes nach dem Hause zurück.
Er stand drüben auf dem öden Feld, das noch immer unbebaut lag; stand,
gedeckt von einem wilden Holunderbusch, dessen ersten Sprößling er vor
Jahren, als Kind, hier eingesenkt hatte. Keine Empfindung des Bedauerns
regte sich in ihm. Flüchtig wie ein Wild, das Schüsse hört, jagte er
davon, dem deckenden Walde zu.

Er rannte und rannte, lief noch, als längst kein Laufen mehr not tat.
Erst eine völlige Erschöpfung zwang ihn, innezuhalten. Er war immer quer
durchgelaufen, ohne jeglichen Weg; nun wußte er nicht mehr, wo er war.
So viel war sicher, er war schon weit fort; so weit war er auf seinen
Räuberzügen mit den Spielgefährten nicht gekommen, so tief in den Wald
hinein nicht, auch nie auf Spaziergängen so gänzlich ins Pfadlose, ins
ganz Einsame. Hier konnte er ruhig eine Weile rasten.

Er warf sich auf den Boden, dessen Sand nur feinfädiges Gras und in
kleinen Senkungen einige Bestände von Adlerfarrn wies. Um ihn reckten
sich stille Bäume wie schlanke Säulen, die den Himmel zu tragen
schienen.

Hier lag er eine Weile auf dem Rücken und ließ das Blut ausrasen, das
ihm wie toll durch die Adern schoß. Er glaubte das unerklärlich heftige
Pochen seines Herzens laut zu hören – o, wie unangenehm es ihm da in
der Brust hämmerte und stach, so hatte er noch nie sein Herz gespürt!
Freilich, so war er auch noch nie gelaufen, wenigstens seit der
Krankheit nicht. Er mußte nach Luft ringen, er glaubte zu ersticken.
Endlich konnte er wieder bequemer atmen; jetzt brauchte er nicht mehr
die Nasenflügel zu blähen und mit offenem Munde zu schnappen. Jetzt
genoß er ein Wohlbehagen, das allmählich über ihn kam.

Es war noch nicht dämmerig, als er wieder weiterging, aber doch schon
begann der Spätnachmittag zu zeigen, daß es Oktober war. Der
Sonnenschein, der durch die roten Kiefernäste fiel, hatte etwas
unendlich Mildverklärtes, eine süße Sanftheit, die auch den wilden
Durchgänger sänftigte. Er ging in einem Traum – wohin? Das wußte er
nicht, daran dachte er auch nicht, er ging eben, ging. Ging einer
Sehnsucht nach, die ihn unwiderstehlich zog, die wie eine ihr Nest
suchende Taube vor ihm herflatterte, girrte und lockte. Und die
Taubenschwingen waren stärker denn Adlerfittiche.

Wo die Sehnsucht flog, da waren keine Menschen. Da war es so
friedlich-still. Nicht einmal der Fuß, der in Moos und kurzem Gras
versank, machte ein Geräusch. Dünnen Kerzen gleich, die oben brannten,
so standen die Kiefern in sonnigen Abendgluten. Kein herbstliches Blatt,
in dem ein Wind hätte rascheln können, lag am Boden; über die glatten
Nadeln und die farblosen Zäpfchen, die von den Kronen herabgesunken
waren, strich die Luft hin ohne Laut.

Daß es so schön hier war! Mit einem staunenden Entzücken sah Wolfgang
sich um. So schön hatte es ihn früher doch nie gedeucht! Freilich, da wo
die Villen stehen und die Wege führen, da war’s auch nicht so wie hier!
Sein Blick glitt bald nach rechts, bald nach links, und mit Neugier
voraus in den Dämmer des Waldes. Da, wo das letzte Sonnengold nicht wie
rotes Blut an den rissigen Borken klebte, da, wo das Licht nicht mehr
hin traf, war ein weiches, geheimnisvolles Dunkeln, in dem die moosigen
Stämme mit ihrem tiefen Grün trotzdem leuchteten. Und ein Duften war
hier, so feucht-kühl, herb und frisch, daß die Brust wie befreit
aufatmete und eine neue Kraft durch die Glieder rann.

Wolfgang begann jetzt, hier in der großen Ruhe die Aufregungen des Tages
zu empfinden. Er faßte sich nach der heißen Stirn – ah, jetzt merkte
er, daß er nicht einmal eine Mütze hatte! Aber was machte das? Er war
frei, frei! Mit einem Jauchzen schoß er dahin, und dann erschrak er über
die eigne laute Stimme: st, still! Nur nicht wieder eingesperrt werden,
frei sein, frei!

Nun fühlte er keine Sehnsucht mehr. Eine große Wonne durchrann ihn, eine
schrankenlose Seligkeit. Die Augen strahlten ihm – er riß sie weit auf
– er konnte gar nicht genug die Welt bestaunen, als sehe er sie heut
zum ersten Mal. Er rannte gegen die himmeltragenden Stämme und umfing
sie mit beiden Armen; er drückte sein Gesicht an die harzige Rinde. War
diese Rinde nicht weich, schmiegte sie sich nicht an seine glühende
Wange wie eine schmeichelnde Hand?!

Er warf sich aufs Moos und reckte sich lang und rekelte sich in höchstem
Behagen und sprang dann wieder auf – es litt ihn doch nicht – er mußte
sehen, genießen, seine Freiheit genießen.

Nur ein einziger roter Streif über dem blauenden Wald verriet noch, wo
die Sonne gestanden hatte, als er sich erst bewußt wurde, wo er
eigentlich war. Hier führte die ehemalige Heerstraße von Spandau nach
Potsdam; rostbraune und gelbe Kastanien zogen eine Allee durch ödes
Land. In selten mehr befahrenen Wegrinnen lag der Sand fußhoch. Aha,
hier kam man also nach Potsdam oder nach Spandau, je nachdem! Jedenfalls
zu Häusern und zu Menschen – o weh, hörte man da nicht schon
Hahnenkrähen und ein Rattern wie von langsamen Rädern?!

Kurz entschlossen bog der Knabe links ab von der alten Fahrstraße, kroch
durch einen verbogenen Stacheldrahtzaun, der ein Stück Rodung, das neu
angeschont war, schützen sollte, sprang wie ein Hirsch in weiten Sätzen
über die kaum handhohen Pflänzlinge dahin und suchte eine Deckung.

Er brauchte keine, hierher kam kein Mensch. Langsamer ging er zwischen
den kleinen Bäumchen; er hütete sich wohl, sie zu treten, bückte sich
und besah sie, schritt sie ab wie ein Ackerer seine Furchen.

Und auf einmal war es Abend. Über die Erde waren Nebel gekrochen, leicht
und klein, waren dann aufgestanden und größer geworden, waren
hingehuscht über die Rodung im sich erhebenden Nachtwind und hatten sich
dort den einzelnen, stehengebliebenen Knorren wie der Gespenster
winkende Schleier angehängt.

Aber Wolfgang fürchtete sich nicht; er empfand kein Grauen. Was konnte
ihm hier geschehen, hier, wohin nur ab und zu der ferne Pfiff einer
Eisenbahn tönte und der Wind ein wenig Rauch, der Lokomotive entrissen,
wie ein leichtes, rasch sich lösendes Wölkchen trug?!

Als wäre man in der Prärie, in den Steppen, dachte sich der Junge, da,
wo keine Hütten mehr sind, nur Lagerfeuer ihr bißchen Rauch zum Zeichen
senden. In die Seligkeit seiner Freiheit mischte sich eine gewisse
Abenteurerlust. Das hatte er sich immer einmal gewünscht, im Freien zu
kampieren. Ein Feuer würde er freilich nicht anzünden können und daran
kochen; er hatte nichts dazu. Aber Hunger empfand er auch nicht, nur
jetzt das einzige Bedürfnis, recht tief und lange zu schlafen.

Ohne Bedenken streckte er sich hin; der Boden war schon kühl, aber sein
Anzug war dick und ließ die Kälte nicht durch. Den Kopf ein wenig erhöht
bettend, reckte er das Gesicht gegen den Nachthimmel. An dem zogen milde
Sterne auf und lächelten zu ihm nieder.

Er hatte geglaubt, gleich einzuschlafen, überwältigt von Müdigkeit, aber
nun lag er doch noch lange mit offenen Augen. Ein unerklärliches
Empfinden hielt ihn wach: dies war zu schön, zu schön, dies war ja schon
ein herrlicher Traum! Goldene Augen behüteten ihn, ein samtiger Mantel
hüllte ihn ein, eine Mutter wiegte ihn weich.

Fort waren Sehnsucht, Trotz, Schmerz, Wut, alles, was weh tat. Nur ein
Glück war geblieben im unendlichen Frieden.




5


Frida Lämke war nun eingesegnet, sie trug den Rock fast bis zur Erde,
und als sie Wolfgang Schlieben nach langer Zeit wieder zum ersten Mal
begegnete, war ihr Gruß nicht mehr das vertraulich-bekannte Nicken der
Kindheit. Aber sie blieb bei dem früheren Spielgefährten stehen.

»Na, Wolfgang,« sagte sie lachend und zugleich ein bißchen von oben
herab – sie kam sich so unendlich überlegen vor –, »na, was machste
denn?«

»Gut!« Er setzte eine unternehmende Miene auf, die nicht ganz zu dem
Blick seiner Augen paßte.

Sie musterte ihn: war der Wolfgang ein Kerl geworden! Aber er hielt sich
so schlecht, so vornüber! »Halt dir doch jrade,« ermahnte sie und reckte
ihre eigne binsengleiche Schlankheit. »Warum machste denn so ’n Buckel?!
Und mit den Augen blinkerste, als wärste kurzsichtig. Na, warte man, du
solltest mal bei meine Prinzipalin kommen – au weih, die würde dir
schön zurechtstutzen!« Sie kicherte in sich hinein, ihre ganze schmale
Figur schüttelte sich vor heimlicher Lachlust.

»Du bist so vergnügt,« sagte er langsam.

»Na, warum denn nich? Meinste, so’n oller Drache kann mir die Laune
verderben? Na, so dumm! Wenn sie schimpft, duck ich mir, ich sage kein
Wort, aber innerlich amüsiere ich mir! Haha!« Ihre helle Stimme klang
unendlich heiter.

Wie hübsch sie war! Des Knaben dunkle Augen hefteten sich auf Frida
Lämke, als hätte er sie noch nie gesehn. Auf ihrem blonden Haar, das sie
nicht mehr in einem langen Zopf trug, sondern im Nacken in einem dicken
Knoten, schimmerte die Sonne. Ihr Gesicht war so rund, so blühend!

»Du kommst nie mehr zu mir,« sagte er.

»Wie kann ich denn?!« Die Achsel zuckend, tat sie wichtig. »Was meinste
wohl, was ich zu tun habe! Morgens schon vor achte ’rein mit die
Stadtbahn, un denn nur zwei Stunden Tischzeit – immer ’rein, ’raus –
un abends bin ich meist nie vor zehne zu Hause, oft auch noch später.
Dann bin ich so müde, dann schlafe ich wie ’ne Ratze. Aber Sonntags,
dann läßt mir die Mutter mal ausschlafen, und nachmittags jehe ich mit
Arturn und Flebbe los, wir –«

»Wo geht ihr hin?« fragte er hastig. »Ich kann ja auch mal mitgehn!«

»Och du!« Sie lachte ihn aus. »Du darfst ja nich!«

»Nein!« Tief senkte er den Kopf.

»Na, sei man nich traurig,« ermunterte sie und fuhr ihm mit dem
Zeigefinger, an dem der schäbige Glacéhandschuh an der Spitze
aufgesprungen war, ums Kinn. »Dafor biste ja auch Schüler vons
Gymnasium. Artur kommt nächsten Herbst auch in de Lehre. Mutter denkt,
bei’n Friseur. Un Flebbe, der lernt ja schon Matrealist – sein Vater
hat’s ja dazu – wer weiß, der kriegt an’n Ende noch mal ’n eijnes
Jeschäft!«

»Ja,« sagte Wolfgang eintönig in ihr Plaudern hinein. Wie verloren stand
er auf der Straße, seine Bücher unter den Arm gepreßt. Ach, wie weit,
weit war die hier, waren die alle drei nun auf einmal von ihm gerückt!
Die, mit denen er einst täglich gespielt hatte, deren Hauptmann er stets
gewesen war, die waren nun schon so groß, und er, er war noch ein dummer
Schuljunge!

»Verflixt!« Mit einer heftigen Gebärde schleuderte er seinen
Bücherpacken von sich, daß der Riemen, der ihn zusammenhielt, sich
löste. Alle Bücher und Hefte flogen auseinander und lagen voneinander
gespreizt im Staub der Straße.

»Au weh, aber Wölfchen!« Frida bückte sich ganz erschrocken und las
eifrig alles zusammen.

Er half ihr nicht aufsammeln. Mit einem bösen Ausdruck starrte er vor
sich hin.

»Da – da haste se wieder,« sagte das vom emsigen Bücken ganz rot
gewordene Mädchen, pustete die Bücher ab und zwängte sie ihm wieder
unter den Arm.

»Ich mag nicht!« Er ließ sie wieder fallen.

»Na, du bist jut! Was fällt dir denn ein – die teuern Bücher!« Sie
konnte sich ordentlich über ihn ärgern. »Weißte denn nich, daß die Jeld
kosten?!«

»P–!« Er machte eine Handbewegung, wie: was macht das?! »Dann werden
eben neue gekauft!«

»Wenn dein Vater auch Jeld genug hat,« ereiferte sie sich, »das ’s doch
nicht recht von dir, so mit die juten Sachen umzujehn!«

Er sagte kein Wort hierauf, aber er hob nun die Bücher auf und schnallte
sie wieder in den Riemen. Verlegen standen sie beide zusammen. Sie sah
ihn verstohlen von der Seite an: hatte der sich aber verändert! Und er
ärgerte sich über seine Heftigkeit: was sollte sie nun wohl von ihm
denken?!

»Ich muß nu jehn,« sagte sie plötzlich, »sonst krieg ich nich mal mehr
mein Mittagessen jejessen – au, hab ich ’n Hunger!« Sie legte die Hand
auf den Magen: »Das wird schmecken! Mutter hat heute Pellkartoffeln un
Hering!«

»Ich gehe mit!« Seinen Schritt dem ihrigen anpassend, trabte er neben
der eilig Trippelnden her.

Sie war ganz rot geworden: was würde die Mutter sagen, wenn sie Wolfgang
mitbrachte?! Nein, das ging wirklich nicht an, es war ja heute, gerade
heute bei ihnen nicht aufgeräumt! Und gelogen hatte sie auch: es gab ja
gar nicht Hering, nur Zwiebelsauce zu den Pellkartoffeln!

Sie genierte sich vor Wolfgang. »Nee, jeh du man nach Hause,« sagte sie
und verschanzte sich hinter einem Schmollen, »biste so lange nich bei
uns jewesen, brauchste auch heute nich. Ich bin dir böse!«

»Mir böse – mir?! Was hab ich denn getan? Ich sollte doch nicht zu euch
kommen, ich durfte doch nicht – dafür kann ich doch nicht! Frida!«

Sie fing an zu rennen, blutrot im Gesicht; er rannte neben ihr her.
»Frida! Frida, mir, mir kannst du doch nicht böse sein?! Och, Frida, sei
doch nicht so! Frida, laß mich doch mitgehen! Nun bin ich dir endlich
mal begegnet, und nun bist du so?!«

Es lag Trauer in seiner Stimme. Sie fühlte die wohl heraus, aber
zugleich ärgerte sie sich: was brauchte er sich ihr so anzukleben!
Flebbe würde das auch gar nicht recht sein! Und so sagte sie
schnippisch: »Wir passen ja doch nich zusammen. Jeh du nur mit deinen
Fräuleins. Zu denen jehörste nu mal!«

»Sag das noch mal – untersteh dich!« Grob schrie er’s und hob die Hand,
als wollte er ihr einen Schlag geben. »Dumme Zieraffen, was gehen die
mich an?!«

Er hatte recht – das mußte sie ihm innerlich zugestehen – nie hatte er
sich an einen der Backfische herangemacht, die hier rund herum in den
Villen wohnten. Sie wußte es wohl, daß er sie allen vorzog, und fühlte
sich geschmeichelt in ihrer Eitelkeit; besänftigend sagte sie, aber
zugleich ausweichend: »Nee, Wölfchen, du kannst aber doch nich mehr mit
mir jehen, es paßt sich doch nu mal nich mehr!« Und sie bot ihm die
Hand: »Adieu, Wolfgang!«

Sie waren gerade zwischen dem Buschwerk eines kleinen Schmuckplatzes mit
Bänken, an dem die Villen, hinter Vorgärten ganz versteckt, weit
zurücklagen. Kein Mensch war in Sicht im stillen Mittagssonnenglanz.
Aber wären auch Leute gekommen, es hätte ihn nicht abgehalten; mit
beiden Armen packte er sie wie in einer Art von Wut: »Ich gehe mit –
ich laß dich nicht!«

Unsanft wehrte sie sich: was fiel dem dummen Jungen ein?! Der war wohl
verrückt?! »Laß mich doch,« fauchte sie wie eine kleine Katze, »läßte
mich jleich los?! Au! Warte man, ich sage es Flebben, der soll dir auf
’n Kopp kommen! Laß mich doch in Ruhe!«

Er ließ sie nicht los. Ohne Wort hielt er sie umklammert, seine Bücher
lagen wieder im Staub.

Wollte er sie küssen oder schlagen?! Sie wußte es nicht; aber sie hatte
Angst vor ihm und wehrte sich wie sie konnte. »Du Durchbrenner,« zischte
sie ihn an, »na, du bist ’n Schöner! Rennt fort von Hause, verkriecht
sich im Walde! Aber sie haben dir ja doch jekriegt – ätsch!«

Er hatte sie plötzlich losgelassen; sie stand vor ihm und höhnte ihn
aus. Nun hätte sie gut fortlaufen können, aber nun reizte es sie, stehen
zu bleiben und ihn herunterzumachen: »Durchbrenner! Auskneifer!«

Er war sehr rot geworden, den Kopf hielt er tief gesenkt.

»Wie konntste das bloß machen?« fuhr sie fort mit einer gewissen
Grausamkeit. »Na, so dumm! Alle haben se dir ausjelacht! Wir wollten ’t
absolut erst jar nich jlauben. Nee, ich sage, rennt der Bengel weg, ohne
Jeld, ohne Mütze, ohne ’n Stück Brot in der Tasche! Du wollt’st wohl so
nach Amerika, was?!« Sie musterte ihn von Kopf bis zu Füßen, und dann
warf sie ihren Oberkörper ein wenig hintenüber und lachte laut: »Na, so
was!«

Er hob den Kopf nicht, murmelte nur vor sich hin: »Lachen sollst du
nicht drüber – nein, lachen nicht!«

»Na, was denn? Vielleicht weinen? Was jeht’s mich an! Deine Mutter hat
jenug drüber jeweint, un dein Vater ist ’rumgerannt wie ’n Verrückter.
Die janzen Beamten vons Revier waren auf ’n Beinen. Sag mal, du hast
wohl ordentlich Dresche jekriegt, als sie dir nach Hause brachten am
Schlafittchen?!«

»Nein!« Er hob plötzlich den Kopf und sah ihr starr in die ein wenig
boshaft funkelnden Augen.

Es war etwas in diesem Blick – ein stummer Vorwurf – das zwang sie,
ihre Lider zu senken.

»Geschlagen haben sie mich nicht – das hätte ich mir auch nicht
gefallen lassen – nein, geschlagen nicht!«

»Eingesperrt?« fragte sie neugierig.

Er gab ihr keine Antwort; was sollte er sagen?! Nein, eingesperrt hatten
sie ihn nicht, er durfte frei umhergehen in Haus und Garten, auf der
Straße, in der Schule – und doch, er war doch nicht frei!

Tränen schossen ihm plötzlich in die Augen; stammelnd und stockend
brachte er’s heraus: »Du – du solltest – mich – nicht – nicht höhnen
– Frida! Ich bin so – so –«

Er wollte sagen ›unglücklich‹; aber das Wort kam ihm zu klein vor und
auch wieder zu groß. Und er schämte sich, es laut auszusprechen. So
stand er stumm, wie mit Blut übergossen; und nur Tränen, die er nicht
mehr zurückhalten konnte, rollten über sein Gesicht und fielen in den
Staub der Straße.

Es waren Tränen des Schmerzes und der Wut. Über ein halbes Jahr war’s
nun schon her – ach, schon länger – aber es drückte ihn doch noch, als
wäre es gestern gewesen. Keinen Augenblick noch hatte er’s vergessen,
daß sie ihn eingefangen hatten mit solcher Leichtigkeit. So bald hatten
sie ihn gefunden! Beim Morgengrauen schon, noch ehe die Sonne eines
neuen Tages aufgegangen war. Und eingebracht hatten sie ihn im Triumph.
Was ihm eine große Tat gewesen war, ein Heldenstück, das war ihnen ein
Dummerjungenstreich. Die Mutter hatte wohl viel geweint, aber der Vater
hatte ihn nur am Ohrläppchen gezogen: ›Einmal und nicht wieder, mein
Sohn, das merke dir!‹

Wolfgang weinte still, aber heftig. Frida stand vor ihm und sah ihn
weinen, und plötzlich schoß es auch ihr naß in die Augen – sie war doch
immer seine gute Freundin gewesen. Nun weinte sie mit.

»Wölfchen,« schluchzte sie, »weine man nich! Es is ja nich so schlimm!
Die Leute wissen schon nischt mehr davon – so was verjißt sich! Zu
schämen brauchste dir noch lange nich – warum denn? Daß de denen bei
dir zu Hause mal en bißchen bange jemacht hast, schad’t jar nischt! Nu
sagste einfach, wenn se dir nich zu uns lassen: ›denn renne ich wieder
weg!‹ Komm man nächsten Sonntag nachmittag, denn jehe ich nich mit Artur
un Flebbe – nee, denn warte ich auf dich!«

Mit der einen Hand wischte sie sich die Tränen ab, mit der andern
ihm.

So standen sie im hellen Sonnenglanz, inmitten von blühenden Büschen.
Flieder duftete; ein Rotdornbaum und ein Goldregen streuten, geschüttelt
vom leisen Maiwind, ihre schönfarbigen Blütenblättchen über sie. Der
dunkle und der blonde Kopf neigten sich dicht zueinander.

»Frida,« sagte er und faßte ihre Hand so fest, als klammerte er sich
daran, »Frida, bist =du= mir denn wenigstens noch gut?!«

»Na, natürlich!« Sie nickte und ließ, noch Tränenspuren im Gesicht,
gleich wieder ihr helles, frohes Lachen ertönen. »Das wäre ’ne nette
Freundschaft, wenn die so rasch in die Wicken jinge! Da –!« Sie spitzte
den Mund und gab ihm einen Kuß.

Er wurde sehr verlegen, sie hatte ihm ja noch nie einen Kuß gegeben.

»Da!« Sie gab ihm noch einen. »Un nu sei man auch wieder verjnügt, mein
Junge! Es is ja so ’n wunderschönes Wetter!«

       *       *       *       *       *

»Du kommst heute spät,« sagte die Mutter, als Wolfgang, statt um eins,
erst um zwei aus der Schule kam. »Du hast doch nicht etwa nachbleiben
müssen?«

Ein Gefühl des Unmuts stieg in ihm auf: wie kontrollierte sie ihn doch
immer! Die frohe Stimmung, in die ihn seine Freundin Frida versetzt
hatte, war hin; die Fesseln drückten wieder. Aber er dachte noch viel an
Frida. Am Nachmittag, beim Arbeiten, tauchte ihr Kopf mit dem dicken
Haarknoten immer hinter seinem Pult auf und reckte sich über sein Buch
und störte ihn; aber es war eine angenehme Störung. Schade, daß Frida so
wenig Zeit mehr hatte! Wie war das doch schön gewesen, als sie noch
Kinder waren! Sie war ihm immer die Liebste gewesen, mit ihr hatte er
noch besser spielen können als mit den beiden Jungen, sie hatte ihn
immer verstanden und immer zu ihm gehalten – ach!

Es war ihm, als müßte er jetzt den Jungen, der damals Räuberhauptmann
gespielt und sich Kartoffeln in der Asche gebraten hatte, als müßte er
selbst den Jungen, der einmal so krank gewesen war, daß man ihn, als er
zum ersten Mal an die freie Luft sollte, im Krankenstuhl fahren mußte,
als müßte er diesen Jungen so recht aus tiefster Seele beneiden. Der,
der jetzt hier am Pult saß und zerstreut über seine Hefte hinweg ins
Leere blinzelte, der war dieser Junge nicht mehr. Der war kein Kind
mehr! Es kam Wolfgang auf einmal vor, als läge eine goldene Zeit
unwiederbringlich verloren und weit hinter ihm. Als hätte er gar keine
Freuden mehr vor sich. Hatte der Prediger, zu dem er jetzt in die
Konfirmandenstunde ging, nicht auch gesagt: ›Ihr seid nun nicht Kinder
mehr?!‹ Und hatte der Prediger nicht weiter gesprochen: ›Der Ernst des
Lebens tritt nun bald an euch heran?!‹ Ach, der war schon da!

Die Stirn gerunzelt, das zerkaute Ende des Federhalters zwischen den
Zähnen, saß Wolfgang unlustig vor seiner Arbeit. Er brütete. Allerlei
Gedanken kamen ihm, die er früher nie gehabt hatte; Worte fielen ihm auf
einmal ein, die er noch nie so überlegt hatte. Was hatten eigentlich die
in der Klasse dabei, daß sie ihn oft so sonderbar fragten?! Sie fragten
nach seinen Eltern – na, was war denn an denen so Merkwürdiges?! – und
wechselten dabei untereinander Blicke und sahen ihn so neugierig an! Was
hatte er denn Komisches an sich?! Der Lehmann war am neugierigsten –
und so unverschämt! Der hatte ihn neulich so verschmitzt angeplinkt von
der Seite und die Backen aufgeblasen, als müßten die platzen beim Lachen
über das besonders witzige: ›Du siehst deinem Alten aber mal verflucht
wenig ähnlich!‹ Sah er wirklich weder Vater noch Mutter ähnlich –
keinem von beiden?!

Als Wolfgang sich heute am Abend auskleidete, stand er lange vor dem
Spiegel, der über seinem Waschtisch hing, ein Licht in der Hand, und
hielt es bald rechts, bald links, bald höher, bald tiefer. Heller Schein
fiel auf sein Gesicht. Der Spiegel war gut, gab jeden Zug treulich
wieder in seinem klaren Glas – aber da war keine, auch gar keine
Ähnlichkeit zwischen dieser derben Nase und dem feinen Näschen der
Mutter! Auch des Vaters Nase war ganz anders. Und keiner von den Eltern
hatte eine so breite Stirn mit tief hineingewachsenem Haar, und auch
nicht so fast zusammenstoßende Brauen – dunkle Augen hatte der Vater
zwar, aber sahen sie diesen hier, die so schwarz waren, daß selbst das
ganz nahe gehaltene Kerzenlicht sie nicht erhellen konnte, eigentlich
ähnlich?!

Mit einer Miene der Ungewißheit wendete sich der Knabe endlich ab. Und
doch war in dem Seufzer, den er jetzt ausstieß, etwas von leiser
Befreiung. Wenn er ihnen äußerlich denn so wenig ähnlich sah, brauchte
er sich dann zu wundern, daß er oft auch so ganz, ganz anders dachte und
fühlte als sie?!

Merkwürdig, wie die Jungen in der Schule ein Abklatsch von zu Hause
waren! Und wie die großen Kerle noch ihren Müttern am Rockzipfel hingen!
Da war der Kullrich, der hatte vierzehn Tage gefehlt, weil seine Mutter
gestorben war, und als er zum ersten Mal nachdem wieder in die Schule
gekommen war – eine schwarze Binde um den Jackenärmel –, war die ganze
Klasse wie verdreht gewesen. Sie gingen mit ihm um, als wäre er ein
rohes Ei, und sprachen ganz gedämpft, und kein Mensch machte einen Witz.
Und als zufällig in der Konfirmandenstunde, in die Kullrich auch ging,
der Spruch vorkam: ›So euch Vater und Mutter verlassen, der Herr nimmt
euch auf,‹ guckten sie alle wie auf Kommando nach ihm hin, und der
Kullrich legte den Kopf auf seine Bibel und hob ihn die ganze Stunde
nicht mehr auf. Nachher ging der Lehrer zu ihm hin und sprach lange mit
ihm und legte ihm die Hand auf den Kopf.

Das war schon eine ganze Weile her, aber vergnügt war der Kullrich noch
immer nicht. In der Pause, wenn alle auf dem Hof promenierten und
Butterbrot aßen, stand er fern und aß nicht. War es denn so schwer, die
Mutter zu entbehren?! –

Es war heute eine wundervolle Mondscheinnacht über den schweigenden
Kiefern; lange, lange noch lag der Knabe im Fenster. Die Augen brannten
ihm; wie ein Mückenschwarm, der dicht wie eine Wolke in der Luft auf und
nieder wirbelt, schwirrten ihm die Gedanken. Woher kamen sie, woher nur
so auf einmal?!

Er gab die heiße Stirn, die Brust, auf der das Nachthemd auseinander
geglitten war, dem kühlen Atem der Mainacht preis – ah, das tat gut!
Das war das Beste, das Einzige, was sänftigte, was Ruhe gab! Ha, diese
freie Luft, so rein, so frisch!

Wo jetzt wohl die Cilla sein mochte?! Er hatte nie mehr von ihr gehört.
Die war jetzt da, wo er auch gerne hätte sein mögen – ach, so gern!
Durch die stille Nacht kam’s wie schwebender Glockenklang, und er reckte
die Arme und bog sich weit und weiter zum Fenster hinaus.

In dieser Nacht träumte Wolfgang so lebhaft von Cilla, daß er, als er
erwachte, glaubte, sie stehe an seinem Bett, sie sei noch gar nicht fort
von ihm. Aber dann sah er, als er sich die Augen gerieben hatte, daß der
Platz, auf dem sie noch eben freundlich lächelnd gestanden hatte, leer
war.

Nach den Schulstunden mußte er in die Konfirmandenstunde; nächste Ostern
sollte er eingesegnet werden. Er war zwar noch etwas jung, aber
Schlieben hatte zu Käte gesagt: ›Er ist körperlich so sehr entwickelt.
Wir können ihn doch nicht als baumstarken, wenigstens äußerlich völlig
erwachsenen Menschen einsegnen lassen. Sein Alter ist übrigens auch ganz
das richtige. Es ist viel besser für ihn, wenn er nicht erst zu
reflektieren anfängt!‹

Ob er nicht doch schon reflektierte?! Es war Käte oft, als wiche der
Junge ihr aus, wenn sie ihn über die Religionsstunden befragte. Verstand
der Lehrer es nicht, seine Seele zu fesseln? Doktor Baumann galt für
einen ausgezeichneten Theologen, seine Predigten wurden gestürmt, es war
eine besondere Vergünstigung, sich der überreichen Zahl seiner
Konfirmanden anreihen zu dürfen; alle Schüler schwärmten für ihn, Leute,
die er vor zehn, fünfzehn Jahren eingesegnet hatte, sprachen noch davon
wie von einem Erlebnis.

Käte machte es sich zur Aufgabe, die Predigten des beliebten Geistlichen
fleißig zu besuchen. Sonst war sie eigentlich nur Weihnachten und
Karfreitag zur Kirche gegangen, jetzt ging sie fast alle Sonntag, ihrem
Knaben zulieb, denn er mußte jetzt gehen. Sie gingen Sonntags gemeinsam
aus dem Haus, fuhren gemeinsam zur Kirche, saßen nebeneinander; aber
während sie dachte: ›Wie geistvoll, wie durchdacht, welch ein Schwung,
muß der ein jugendliches Gemüt nicht mit sich fortreißen?!‹ – dachte
Wolfgang: ›Wär’s doch nur schon aus!‹ Er langweilte sich. Und noch nie
war seine Seele hier aufgeflogen so wie beim Klingeln des Glöckchens,
wie beim Heben der Monstranz, wie beim Duften des Weihrauchs vor
dämmernden Altären.

Es war etwas in ihm, das trieb ihn zu jener Kirche, die er einst mit
Cilla besucht hatte. Wenn er zur Konfirmandenstunde ging, mußte er da
unweit vorüber; aber wenn der Weg auch weiter gewesen wäre, er hätte es
doch möglich gemacht, dort einzutreten. Nur ein paar Minuten, nur wenige
Sekunden hier in einem Winkel stehen, nur ein paar Atemzüge tun in
dieser süßen, ahnungsvollen, einlullenden Weihrauchluft! Allzeit fand er
diese Kirche offen; und wenn er dann wieder hinaustrat in das Brausen
Berlins, ging er durch die Straßen mit ihrem Rennen und Fahren wie
einer, der aus einer andern Welt kommt. Dann achtete er nicht auf das,
was man ihm vortrug an Kirchenlehre und Kirchengeschichte – was waren
ihm Doktor Martin Luther, Calvin und andere Reformatoren?! – seine
Seele war gefangen, sein Denken untergegangen in einem Gefühl dumpfer
Gläubigkeit.

So gingen Sommer und Winter hin. Als die Tage längten und eine milde
Sonnenwärme alle winterliche Feuchte bald zu trocknen versprach, ließ
Schlieben seine Villa verputzen und neu streichen. Auch sie sollte ein
festliches Kleid anziehen zu des Sohnes Festtag.

Wunderhübsch guckte das weiße Haus mit den roten Dächern und den grünen
Läden hinter den Kiefern hervor; es hätte fast etwas Ländliches gehabt,
wären die großen Spiegelscheiben nicht gewesen und der neu angebaute
Wintergarten mit seinen Palmen und blühenden Azaleen. Im Garten säte
Friedrich den Rasen neu ein, und ein Gehilfe stach die Rabatten sauber
ab; überall wurde gegraben und gehackt. Dreist und froh zirpten Spatzen
überlaut; aber Papierschnipsel, die, an langen Bindfäden über eingesäte
Rasenflächen gespannt, im klärenden Wind flatterten, scheuchten die
Frechen vom willkommenen Futter. Alle Gärten erwachten; die
Rosenstämmchen waren zwar noch nicht von ihren Hüllen befreit, in denen
sie aussahen wie Strohpuppen, aber an den Obstbäumen zeigten sich die
knospenden Triebe, und der Seidelbast prangte in seinen pfirsichfarbenen
Blüten. Kinderwagen in Weiß und Himmelblau fuhren die Straße auf und
nieder, das Baby drinnen guckte schon hinterm Gardinchen vor, und kleine
Füßchen trippelten noch nebenher. Aus allen Türen kamen Bonnen und
Kinder, die Knaben mit Reifen, die Mädchen mit dem Ball in dem
gestrickten Netz. Kichernde Backfische zogen zum Tennis, und junge
Herrchen, vom Tertianer an, machten ihnen die Cour.

Überall Helle und Heiterkeit. In den Kiefernwipfeln freudig-erregtes
Rauschen, in den Weiden am Seerand ein Auf und Ab von quellendem Saft.
Ein Zug von Staren zog über die Grunewaldkolonie, und jeder Vogel
äugelte nieder und suchte sich aus, in welchem Kästchen der hohen
Stangenkiefern es ihn am meisten gelüstete zu nisten.

Oben auf Wolfgangs Bett lag der neue Anzug ausgebreitet – schwarze Hose
und Rock – zur Konfirmation. Nun sollte er ihn einmal anprobieren.

Es war ein eigentümliches Gefühl in Käte, ein Herzzittern dabei, als sie
ihm half, den ungewohnten Anzug anlegen. Bis jetzt war er immer wie ein
Junge gekleidet gewesen, in Kniehose und Matrosenbluse, nun sollte er
auf einmal wie ein Herr angezogen gehn. Der festlich-schwarze, feine
Anzug kleidete ihn nicht; nun sah man erst, daß er derb war. Steif stand
er da, die lange Hose zwängte ihn, der Rock war ihm ebenso unbequem; er
machte ein unglückliches Gesicht.

»Sieh dich doch an, sieh dich doch mal an,« sagte Käte und schob ihn vor
den Spiegel.

Er sah hinein; aber er sah den Anzug nicht, er sah nur das Gesicht der
Mutter, die mit ihm zu gleicher Zeit ins Glas blickte, und sah, daß da
auch nicht ein einziger Zug gemeinsam war zwischen ihm und ihr.

»Wir sehen uns kein bißchen ähnlich,« murmelte er.

»Wie – was sagst du?« Sie hatte nicht verstanden.

Er antwortete nicht.

»Gefällt dir der Anzug nicht?«

»Scheußlich!« Und dann starrte er zerstreut. Was hatten sie doch heute
vormittag wiederum gesagt? Sie hatten gestichelt! Lehmann und von
Kesselborn, die mit ihm eingesegnet wurden. War es darum, weil ihre
Väter nicht so reich waren?! Kesselborns Vater war ein verabschiedeter
Offizier, jetzt Standesbeamter, aber Kesselborn war schrecklich
eingebildet auf sein ›von‹; und Lehmann war Kesselborns Intimus. Aber er
hatte den beiden gesagt, daß er eine silberne Uhr schon seit dem achten
Jahr hätte, und daß er zur Einsegnung eine echt goldene bekäme, die er
dann immer, für alle Tage tragen würde – das hatte sie schmählich
geärgert!

Vor Beginn der Konfirmandenstunde war’s gewesen – sie waren schon alle
versammelt –, da hatte Kesselborn auf einmal gesagt: »Der Schlieben ist
ein Protz,« und sich dann direkt zu ihm gewendet: »Hab dich nur nicht
so!« Und Lehmann hatte noch zugefügt, auch recht laut, daß es alle hören
mußten: »Tu dich man nicht so dicke, man weiß doch, was man weiß!«

»Was weißt du?!« Er hatte dem Lehmann anspringen wollen wie ein Tiger,
aber da war der Geistliche eingetreten, und sie hatten gebetet. Und als
der Unterricht, von dem er fast nichts gehört hatte – er hörte
immerfort das andre –, aus gewesen war, wollte er sich über Kesselborn
und Lehmann hermachen, aber die saßen nahe bei der Tür und waren schon
weg, ehe er aus seiner Bank herauskonnte. Er sah sie nicht mehr. Aber er
sah Blicke, in denen eine gewisse Neugier und Schadenfreude lauerte –
oder war’s ihm nur so?! Er war sich darüber nicht klar geworden, er
hatte auch nicht weiter mehr darüber nachgedacht. Aber wie er nun das
Gesicht der Mutter so dicht neben dem seinen im Spiegel erblickte, fiel
ihm auf einmal alles wieder ein. Und schwer fiel’s ihm ein, plumpte wie
ein Stein in sein Denken.

»Ich sehe dir gar nicht ähnlich,« sagte er noch einmal. Und dann
belauerte er sie: »Dem Vater auch nicht!«

»O doch,« sagte sie hastig, »dem Vater sehr!«

»Keine Spur!«

Sie war heftig errötet, und nun sah er, daß sie jäh blaß wurde. Jetzt
lachte sie, aber es war etwas Gezwungenes in ihrem Lachen. »Es gibt doch
viele Kinder, die ihren Eltern wenig ähnlich sehen – das macht’s doch
nicht!«

»Nein, aber –!« Er hielt auf einmal inne und sprach nicht weiter und
zog die Brauen finster zusammen, wie er immer tat, wenn er angestrengt
nachdachte. Und unter diesen zusammengezogenen Brauen hervor schoß er so
scharfe, so mißtrauische, so prüfende Blicke in den Spiegel, daß Käte
unwillkürlich zur Seite wich und ihr Kopf nicht mehr neben dem seinen im
Glas zu sehen war.

Es hatte sie durchfahren mit plötzlichem Schreck: was meinte er, war’s
Absicht, daß er so sprach, oder sagte er’s völlig unbefangen?! Was ahnte
er – oder ahnte er nichts?! Was hatte man ihm gesagt, was wußte
er?!

Ihre Hände, die sich jetzt an seinem Anzug zu schaffen machten – sie
war niedergekniet und zupfte seine Beinkleider länger herunter –, waren
voll nervöser Hast, zupften hier, zupften da und zitterten.

Er sah jetzt nicht mehr in den Spiegel, er sah auf die Knieende herunter
mit einer Miene, die sich nicht enträtseln ließ. Für gewöhnlich war sein
Gesicht nicht ausdrucksvoll und weder schön, noch häßlich, weder
bedeutend, noch unbedeutend – es war ein noch ungeprägtes, glattes,
unausgereiftes Knabengesicht – aber nun war etwas darin, etwas
Zweifelndes, Unruhevolles, was es älter erscheinen ließ, in die Stirn
Furchen zog und um den Mund Linien. Hinter dieser gekrausten Stirn
schienen Gedanken zu kreisen; die derben Nasenflügel bebten leise, die
Lippen preßten sich in einem Zucken aufeinander.

In dem Zimmer ward es ganz still. Die Mutter sprach kein Wort, der Sohn
auch nicht. Draußen zwitscherten Vögel, man hörte jedes leiseste Piepen
und das heimliche Sumsen des Frühlingswindes in den Kiefernwipfeln.

Langsam erhob sich Käte von den Knieen. Es wurde ihr schwer,
aufzustehen, wie eine Lähmung fühlte sie’s in allen Gliedern. Mit der
Hand nach dem nächsten Möbel tastend, half sie sich auf.

»Zieh dich nun wieder aus,« sagte sie leise.

Er war schon dabei, sichtlich erleichtert, die ungewohnte Kleidung von
sich streifen zu können.

Sie hätte so gern mit ihm gesprochen, irgend etwas ganz Gleichgültiges
– nur sprechen, sprechen! – aber sie fühlte eine sonderbare Scheu vor
ihm. Es war ihr, als könnte er zu ihr sagen: ›Weib, was habe ich mit dir
zu schaffen?!‹ Und sie verstummte vor Angst.

Nun hatte er den neuen Anzug abgelegt und stand vor ihr mit der breiten
Brust, die das nicht zugeknöpfte Hemd nackt ließ, mit den stämmigen
Beinen, von denen die Strümpfe herabgerutscht waren, in seiner ganzen
grobknochigen, nur halb bekleideten Derbheit. Sie wendete den Blick ab
– war das schon ein großer Mensch! – und gleich darauf sah sie doch
wieder hin: warum soll eine Mutter sich scheuen, ihr Kind zu
betrachten?! Eine Mutter –?!

Vor ihren Blicken flimmerte es. Zur Tür schreitend, drehte sie nicht
mehr den Kopf nach ihm, als sie sprach: »Ich gehe jetzt herunter. Du
wirst wohl auch ohne mich fertig!«

Er murmelte etwas Unverständliches. Und dann stand er noch lange, halb
bekleidet, und blickte so starr ins Spiegelglas, als könnten die
Pupillen seiner Augen sich nicht bewegen. –

Immer näher rückte der Tag der Konfirmation; am Palmsonntag sollte sie
stattfinden. Doktor Baumann hatte den jungen Menschen die Bedeutung des
Schrittes, den sie zu tun im Begriff standen, sehr lebendig vor Augen
gerückt. Nun fiel doch etwas vom Strahl der Feierlichkeit in Wolfgangs
Gleichgültigkeit. In den letzten Stunden war er aufmerksamer; das kahle
Konfirmandenzimmer mit den wenigen Bildern an den einförmigen Wänden
dünkte ihn nicht ganz so kahl mehr. War’s nur, weil er sich daran
gewöhnt hatte?! Gedämpfteres Licht fiel durch die sonst so
tagesnüchternen Fenster und huschte verschönernd über die langweiligen
Reihen der Bänke.

Selbst Lehmann und Kesselborn waren ihm in diesem Lichte nicht ganz so
unsympathisch mehr. Es wurde alles milder, versöhnlicher. Die harte
Knabenseele wurde weich. Wenn der Geistliche über die Gebote sprach und
besonders das eine betonte: ›Ehre Vater und Mutter,‹ dann war es
Wolfgang, als hätte er seinen Eltern vieles abzubitten: besonders der
Mutter.

Aber kam er dann nach Hause, wollte ihr etwas Liebes sagen – ganz
unvermittelt, so einfach aus seinen Gedanken heraus – dann war es ihm
doch nicht möglich, denn sie fühlte ihm seine Absicht nicht an.

Manchen Tag ging Käte ihm zur Bahn entgegen – o, wie müde mußte der
arme Junge heimkehren! Das war jetzt eine zu große Hetzerei, so oft in
die Stadt hinein zum Unterricht, und in der Schule gab’s vorm
Semesterschluß auch doppelt große Anstrengungen! Streicheln hätte sie
ihn mögen, ihn hätscheln wie vormals das kleine Wölfchen. Aber wenn sie
ihn dann daherschlendern sah, gar nicht ausschauend nach ihr, ohne
Ahnung, daß sie da war, ihn zu erwarten, dann bog sie wohl rasch um die
nächste Ecke oder blieb still stehen hinter einem Baum und ließ ihn
vorüber. Er bemerkte sie gar nicht. – – –

Es waren ihrer viele, die der beliebte Geistliche zur Einsegnung
vorzubereiten hatte, zu viele; er konnte sich nicht um jeden einzelnen
kümmern, aber er glaubte doch der Mutter, die in einer gewissen Unruhe
ihn aufsuchte, um ihn zu fragen, wie es denn um Wolfgang stehe,
versichern zu können, daß er mit ihm zufrieden sei.

»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau! Ihr Herr Gemahl hat es für seine
Pflicht gehalten, mich aufzuklären – ich habe ja auch den katholischen
Taufschein des Knaben gesehen. Aber ich glaube Sie mit gutem Gewissen
versichern zu können: der junge Mensch ist ein aufrichtig überzeugter
evangelischer Christ! – Wie, Sie haben noch irgendwelches Bedenken
hierüber?!« Ihre zweifelnde Miene, die fragende Ängstlichkeit ihres
Blickes erstaunten ihn.

Sie nickte: ja, sie hatte ein Bedenken. Merkwürdig, wie ihr das in
letzter Zeit so gekommen war! Aber ein Fremder, ein andrer würde es
nicht verstehen, auch dieser Mann mit den klugen Augen und dem milden
Lächeln nicht. Sie hätte dies Bedenken ja auch kaum in Worten zum
Ausdruck bringen können. Und weit, weit hätte sie ausholen müssen, so
weit, von damals an, wo sie das Kind seiner Mutter wegnahmen, es ganz in
ihre eignen Hände nahmen, das ganze Kind mit Leib und Seele!

So sagte sie nur: »Also Sie glauben – Sie glauben wirklich – o, wie
ich mich freue, Herr Doktor, daß Sie glauben, wir haben recht getan?!«
Erwartungsvoll sah sie ihn an – ah, sie lechzte ja nach einer
Bestätigung – und er neigte den Kopf:

»So weit unser Wissen und Verstehen geht – ja!« –

In der Nacht auf Palmsonntag schlief Wolfgang nicht. Es war ihm heute in
der letzten Konfirmandenstunde gesagt worden, er solle sich innerlich
vorbereiten. Und er fühlte es auch, daß morgen ein wichtiger Tag sei;
ein Abschnitt. Er mühte sich, über all das zu denken, was ein Konfirmand
bedenken soll. Er war sehr müde und konnte das Gähnen nicht
unterdrücken, aber er riß krampfhaft immer wieder die Lider auf. Doch
konnte er’s nicht hindern, daß seine Gedanken sich immer wieder
verwirrten; er war nicht mehr ganz klar.

Was für einen Spruch er wohl bekommen würde morgen, zum Andenken an die
Konfirmation?! Sie hatten in der Schule schon oft darüber hin und her
geredet, jeder hatte seinen Lieblingsspruch, auf den er hoffte. Und ob
er morgen früh vor der Kirche die goldene Uhr kriegen würde?!
Selbstverständlich! Hei, wie würden sich dann Kesselborn und Lehmann
bosen – – die Halunken! Unter die Augen halten würde er sie ihnen: da,
seht mal! Grün sollten sie werden vor Neid – was brauchten sie über ihn
zu tuscheln, sich um Sachen zu kümmern, die sie gar nichts angingen?!
Pah, beunruhigen konnten sie ihn ja doch nicht, nicht mal ärgern!

Und doch sah er auf einmal sein eignes Gesicht so deutlich vor sich und
das Gesicht der Mutter daneben, wie im Spiegelglas. Da war auch nicht
ein Zug gemeinsam – nein, nicht einer!

Es war in der Tat doch merkwürdig, daß Mutter und Sohn sich so wenig
glichen! Er war jetzt hell wach und fing an zu grübeln, die Stirn in
Falten gezogen, die Hände zusammengeballt. Was meinten sie bloß mit
ihren Anzüglichkeiten?! Wenn er das nur wüßte! Ganz zufrieden wollte er
dann sein und ganz beruhigt. Aber so, im unklaren, konnte er an gar
nichts andres denken. Immer wieder kreiste sein Sinnen um den einen
Punkt. Das war ein scheußliches Gefühl, das ihn jetzt plagte, eine große
Unsicherheit, in der er tappte wie im Stockfinstern. Licht, Licht! Er
mußte Licht bekommen – ha, er würde schon welches bekommen!

Er wälzte sich unruhig, förmlich gequält, und überlegte und grübelte,
wie er es herausbringen, wo er die Wahrheit erfahren sollte. Wer würde
ihm bestimmt sagen, ob er der Eltern Kind war oder ob er’s nicht war?
Warum sollte er denn eigentlich nicht ihr Kind sein?! Ja, er war’s –
nein, er war’s nicht! Aber warum denn nicht?! Wenn er nicht ihr
richtiges Kind wäre, würde ihm das sehr leid sein? Nein, nein – aber
doch, es erschreckte so!

Schweiß lief dem aufgeregten Knaben über den Körper, und doch fror ihn.
Fester zog er die Decke um sich und schüttelte sich wie im Fieber.
Seltsam gebärdete sich dabei sein Herz, es flatterte ihm in der Brust
wie mit unruhigem Flügelschlag. Ach, wenn er doch schlafen könnte und
alles vergessen! Morgen wäre dann kein Gedanke mehr daran da und alles
wie sonst!

Krampfhaft preßte er die Augen zu, aber der einmal gescheuchte Schlaf
kam nicht mehr wieder. Er hörte die Uhren schlagen: unten vom Eßzimmer
dröhnte die alte Standuhr herauf, und die bronzene Pendüle aus dem
Zimmer der Mutter rief mit silberner Stimme. Die Stille der Nacht
übertrieb die Geräusche; so laut hatte er die Uhren noch nie schlagen
hören.

Kam der Morgen denn noch nicht, war das Licht denn noch nicht da?! Er
sehnte den Tag herbei, und doch scheute er sich vor ihm. Eine
unerklärliche Angst überfiel ihn plötzlich – ei, vor was fürchtete er
sich denn so?

Wenn er doch schon in der Kirche wäre – nein, hätte er das doch schon
hinter sich! Ein Widerstreben war in ihm, eine plötzliche Unlust. Rasend
jagte immer derselbe Gedanke durch seinen Kopf, und sein Herz jagte mit;
eine Sammlung war ihm nicht möglich. Seufzend drehte er sich in seinem
Bette, fühlte sich unendlich vereinsamt, verängstigt, ja verfolgt.

›Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle,
siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am
äußersten Meer‹ – ach, jenem einen Gedanken entfloh er nicht, überall
war der und immer, immer da! – –

Als die Frühsonne des Palmsonntags sich zwischen den noch geschlossenen
Läden durchstahl, in feinen goldenen Stäbchen in die Innenräume drang,
kam Käte in das Zimmer ihres Sohnes. Sie war bleich, hatte sie doch die
ganze Nacht mit sich gerungen: sollte sie ihm etwas sagen, jetzt an
diesem Lebensabschnitt – sollte sie ihm nichts sagen?! Es war etwas,
das in ihr flüsterte: ›der Tag ist da, sag’s ihm, du bist es ihm
schuldig‹ – aber als die Morgensonne schien, hieß sie die Stimme der
Nacht schweigen. Warum es ihm sagen, was kümmerte es ihn? Was er nicht
wußte, konnte ihn nicht grämen; doch wenn er es wüßte, dann –
vielleicht, daß er dann – o Gott, nur schweigen, nur nicht ihn
verlieren!

Aber es drängte sie, ihn ihre Liebe fühlen zu lassen. Als sie hineinkam
auf leisen Sohlen, war sie überrascht, denn er stand schon völlig
angekleidet, im neuen schwarzen Rock, in den langen Hosen, am Fenster
und sah unbeweglich hinaus auf das Stück Feld, auf dem man jetzt auch
anfing, eine Villa zu bauen. Das Untergeschoß war schon fertig, hoch
ragte ein Balkengerüst; es wurde ein gewaltiger Kasten.

»Guten Morgen, lieber Sohn!« sagte sie.

Er hörte sie nicht.

»Du! Wolfgang!«

Da fuhr er herum und sah sie an, erschrocken und als kenne er sie
nicht.

»O, du bist schon ganz fertig!« Wie Enttäuschung lag’s in ihrem Ton; sie
hätte ja so gern mit Hand angelegt, ihm geholfen, gerade an diesem Tage.
In ihrem Herzen war ein wunderliches Gefühl; sie hatte nie geglaubt, daß
dieser Tag sie so bewegen würde: war’s denn nicht ein Tag, wie andere
Tage auch, ein Festtag natürlich, aber einer von vielen?! Und nun war’s
ihr doch, als wäre dieser Tag einzig und als käme nie ein ähnlicher
wieder.

Sie ging auf Wolfgang zu, legte die Arme um seinen Nacken und sah ihm
tief in die Augen: »Mein Kind!« Und dann lächelte sie ihn an. »Nimm
meinen Glückwunsch!«

»Wozu?« Er blickte so fremd über sie hin, daß all das, was sie ihm hatte
Inniges sagen wollen, ungesagt blieb. Er war doch noch ganz Kind,
trotzdem er sie fast überragte, noch viel zu sehr Kind, er verstand die
Bedeutung dieses Tages noch gar nicht! So begnügte sie sich damit, nur
noch an seinem Anzug zu bessern, ihm hier ein Fädchen abzunehmen, dort
ein Stäubchen abzublasen und ihm den Schlips zurechtzuzupfen. Und dann
mußte er den Kopf bücken: sie zog ihm den Scheitel noch einmal in dem
sich ungern fügenden, immer wieder die Linie störenden, straffen Haar.
Und dann konnte sie doch nicht an sich halten, nahm sein rundes Gesicht
zwischen ihre beiden Hände und drückte ihm einen raschen Kuß auf die
Stirn.

›Warum nicht auf den Mund?‹ dachte er. ›Eine Mutter hätte ihr Kind auf
den Mund geküßt!‹

Sie gingen hinunter zum Frühstück. Blumen standen auf dem Tisch; der
Vater saß schon da im schwarzen Gehrock, und auf Wolfgangs Teller lag
die goldene Uhr. Eine kostbare Uhr. Er besah sie kritisch: ja, die
gefiel ihm! ›Zur Erinnerung an den 1. April 1901‹ stand im Innern der
goldenen Schale eingraviert. Weder Kesselborn noch Lehmann würden eine
solche Uhr bekommen, keiner der Konfirmationsgenossen auch nur eine
annähernd so kostbare! Furchtbar schwer war die Uhr – nun müßte er
eigentlich auch noch eine goldene Kette dazu haben!

Die Eltern beobachteten Wolfgang, wie er dastand, die Uhr in der Hand,
und darauf niedersah – ja, er freute sich! Und das erfreute sie
wiederum, besonders Käte. Sie war dafür gewesen, ihm in den Deckel der
Uhr auch noch einen Spruch eingravieren zu lassen, aber Paul hatte das
nicht gewollt: nur keine Sentimentalitäten! Aber es war ja auch gut so,
der Junge hatte seine Freude an dem Geschenk, also war der Zweck
erreicht.

»Sie schlägt auch,« erklärte sie eifrig, »mitten im Dunklen kannst du
wissen, welche Stunde es ist. Sieh mal, wenn du hier – siehst du? –
wenn du hier drückst!«

»Ja! Gib mal – hier?!« Er war ganz bei der Sache.

Beinahe hätten sie sich verspätet; es war Zeit zum Aufbruch. Zwischen
den Eltern ging Wolfgang zur Bahn. Als sie an dem Haus vorüberkamen, in
dem Lämkes Portiers waren, stand Frida in der Tür. Sie mußte sich heute
früher als sonst am Sonntag herausgemacht haben; sie war schon ganz im
Staat, sah allerliebst aus, lächelte und nickte. Gleich darauf steckte
Mutter Lämke den Kopf aus dem niedrigen Souterrainfenster und sah dem
Knaben nach.

»Da jeht er nu hin,« philosophierte sie. »Wer weeß ooch, wie sich det
noch im Leben für ihn jestaltet!« Sie war ganz gerührt.

Es war ein herrliches Wetter heute, ein wirklicher Frühlingstag. Eine
festliche Helle glänzte über den geschmackvollen Villen; alle Sträucher
trieben, Krokus, Tulpen, Primeln blühten freudig. Selbst Berlin mit
seinen grauen Häusermassen und seinem lärmenden Verkehr zeigte ein
sonntägliches Gesicht. Es war so viel stiller auf den Straßen;
freilich sausten die elektrischen Bahnen dahin, und Droschken
fuhren und Equipagen, aber keine Lastwagen rollten, keine Bier- und
Schlächterkarren. Es ging alles so viel stiller zu, wie gedämpft, wie
gesänftigt. Die Straßen erschienen noch breiter als sonst, weil sie
leerer waren, und die Menschen, die auf ihnen gingen, zeigten andre
Gesichter als sonst.

Zur Kirche strömten die Konfirmanden; es war ihrer eine große Zahl
Knaben und Mädchen. Meist fuhren die Mädchen im Wagen vor, sie waren ja
alle Töchter aus guten Häusern.

Ach, all diese Jugend! Käte konnte eine leis-sehnsüchtige, fast
neidvolle Regung kaum unterdrücken: wer doch auch noch so jung wäre!
Aber dann ging jeder selbstische Gedanke unter in dem einen Gefühl: der
Junge, der Junge, der schritt nun heraus aus der Kindheit Land! Gott sei
mit ihm!

Empfindungen, von denen sie lange nichts mehr gewußt hatte, kindlich
gläubige, ganz naive Empfindungen durchwogten sie; alles, was die Jahre
und das Leben in der Welt so mit sich gebracht hatten, fiel von ihr ab.
Heute war sie wieder jung wie die da vorm Altar, vertrauensselig,
hoffnungsfroh.

Doktor Baumann machte die Einsegnung sehr mahnend-ernst; viele der
jungen Kinder schluchzten nicht minder als ihre Mütter. Ein Schauer
wehte durch die gefüllte Kirche, tief senkten sich die jungen dunklen
und blonden Köpfe. Käte sah nach Wolfgang hin: sein Kopf war der
dunkelste von allen. Aber er hielt ihn nicht gesenkt, sondern aus
unsteten Augen irrte sein Blick durch die Kirche, bis hin zu jenem
Fenster; dort blieb er starr haften. Was suchte er da – an was dachte
er?! Sie glaubte zu bemerken, daß er nicht bei der Sache war, und das
schaffte ihr Unruhe. Näher zu ihrem Mann rückend, flüsterte sie: »Siehst
du ihn?!«

Er nickte und flüsterte zurück: »Freilich! Er ist größer als alle
andern!« Es lag etwas von Vaterstolz in Schliebens Flüstern. Ja, heute
an diesem Tage fühlte er es: wenn man auch manche Sorge hatte, die man
sonst nicht gehabt hätte, manche Unbequemlichkeit und Unannehmlichkeit,
manche Freude hätte man doch auch nicht kennen gelernt! Trotz allem und
allem: der Junge konnte gut werden! Wie jünglinghaft seine Erscheinung
war! Einen fast männlichen Zug hatte er um den Mund! Sonst war dem Vater
das noch nie aufgefallen – machte wohl der schwarze Anzug die
Knabengestalt so ernsthaft?!

Wolfgangs Gedanken gingen eigne Wege; nicht die hier vorgeschriebenen.
Viele Empfindungen kreisten in ihm, aber keine derselben konnte er
festhalten; er war sehr zerstreut. Durchs Viereck in des Kirchenfensters
Scheibe sah er leere Luft, und diese belebte sich ihm mit huschenden
Gestalten: Vater, Mutter, Frida, Lehrer und Kameraden. Aber alle glitten
sie vorüber, keine Erscheinung blieb. Er fühlte sich plötzlich ganz
allein inmitten der Menge von Menschen.

Als die Reihe an ihn kam, trat er mechanisch zum Altar, neben sich
Kullrich; vor sich Lehmann und Kesselborn. Wie er diese beiden jetzt auf
einmal wieder haßte! Seine Uhr, seine goldene Uhr hätte er ihnen vor die
Füße werfen mögen: da, nehmt sie! Aber nehmt zurück, was ihr gesagt
habt, nehmt’s zurück! Pfui, was war das für eine gräßliche Nacht gewesen
– ekelhaft! Die fühlte er noch in den Gliedern; schwer waren seine
Füße, und als er jetzt auf dem Polster niederkniete, das auf der
Altarstufe lag, waren seine Kniee steif. Kullrich neben ihm weinte in
einem fort leise. Aha, der dachte wohl an seine Mutter, die nicht mehr
bei ihm war! Armer Kerl! Und plötzlich fühlte Wolfgang, daß ihm etwas
Feuchtheißes in die Augen drängte.

Oben summte die Orgel leise, und in das sanfte Tönen sprach die milde
Stimme des Geistlichen die Sprüche hinein, die er seinen Konfirmanden
ausgesucht hatte:

»Offenbarung Johannis, Kapitel 21, Vers 4. Und Gott wird abwischen alle
Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid,
noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist
vergangen!«

Aha, das war was für Kullrich! Der hob das tränennasse Gesicht, das so
rot und heiß war, zu der Tröstung empor. Aber nun, nun – Wolfgangs Atem
stockte – jetzt, jetzt kam =sein= Spruch! Was würde =er= für einen
Spruch bekommen, was würde man =ihm= sagen?!

»Ebräer 13 Vers 14. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern
die zukünftige suchen wir!«

Das – das sollte für ihn sein?! Was hieß das?!

Eine ungeheure Enttäuschung kam über Wolfgang, denn – hatte er nicht
auf den Spruch geharrt wie auf eine Offenbarung?! Der Spruch, der
Spruch, der sollte ein Gottesurteil sein! Der wollte sagen: was wahr war
– oder was nicht wahr war. Und nun –?!

  ›Wir haben hier keine bleibende Statt,
  die zukünftige suchen wir‹ –

nun sagte der gar nichts!

In allen Hoffnungen betrogen, erhob er sich mechanisch von der
Altarstufe. Er sah nicht, daß der Blick der Mutter ihn heimlich grüßte,
daß auch der Vater ihm verstohlen zunickte, Freundlichkeit im Gesicht;
er war ganz verstört, ganz ernüchtert, ganz benommen von dieser
Enttäuschung.

Wär’s nur schon zu Ende hier! Ach, wie ermüdend war dieses lange
Stillesitzen! Wolfgang war blaß und gähnte verstohlen; die durchwachte
Nacht machte sich geltend, kaum daß er sich des Einschlafens enthielt.
Endlich, endlich erklang das Amen, endlich, endlich brauste von der
Orgel der Schlußchoral!

Strömend, wie eine nicht endenwollende Flut, ergoß sich die übergroße
Menge aus der Kirche. Jedes Kind gesellte sich zu seinen Eltern;
zwischen Vater und Mutter traten die Eingesegneten aus dem Portal.

Auch Wolfgang ging so, wieder wie vordem. Vor sich sah er Kullrich –
nur mit seinem Vater; beide trugen noch immer den breiten Trauerflor. Da
machte er sich los von den Seinen und trabte rasch hinter Kullrich her.
Er hatte dem nie besonders kameradschaftlich nahegestanden, aber nun
faßte er ihn bei der Hand und drückte und schüttelte sie ihm, stumm,
ohne Worte, und machte dann rasch wieder kehrt.

Die impulsive Teilnahme ihres Sohnes rührte Käte tief; sie war ohnehin
heute unendlich weich. Als Wolfgang wieder neben ihr schritt, sah sie
ihn von der Seite an mit tiefem Gefühl: ach, er war doch gut, so gut!
Und heiße Hoffnungen und Wünsche stiegen aus ihrer Seele zum Himmel
empor.

Licht war der Himmel, so blau, kein Wölkchen daran.

Sie nahmen einen Wagen, um nach Hause zu fahren, denn beiden Eltern
widerstrebte es, sich mit so und so viel gleichgültigen, schwatzenden
Menschen in der Bahn zu drängen; sie hatten das Verlangen, mit ihrem
Sohne allein zu sein. Wolfgang war schweigsam; er saß der Mutter
gegenüber, ließ seine Hand, die sie auf ihren Knieen hielt, wohl in
ihrer Hand, aber seine Finger erwiderten nicht den zarten, warmen Druck.
Er saß so still, als sei er gar nicht zugegen.

Wieder fuhren sie am Haus vorüber, in dem Lämkes Portiers waren; beim
Rollen des Wagens auf der sonnentrocknen, harten Straße sprang Frida
rasch ans Fenster, lächelte und nickte wieder. Aber von Mutter Lämke
war jetzt nichts zu sehn, und Wolfgang vermißte das – nun, heute
nachmittag, so wie er sich losmachen konnte, würde er zu Lämkes gehen!

In der Villa warteten schon Gäste. Ein großes äußeres Fest wollte man
nicht aus der Konfirmation machen, aber den guten alten Sanitätsrat,
dessen Frau, und die beiden Sozien hatte man doch einladen müssen. Alles
ältere Leute; Wolfgang saß zwischen ihnen, ohne viel andres zu reden als
›Ja‹ und ›Nein‹, wenn er gefragt wurde. Aber er aß und trank tüchtig;
das Essen war immer gut, aber Kaviar und Kibitzeier, wie heute, gab’s
doch nicht alle Tage. Immer röter wurde sein Kopf und benommener; man
hatte zuletzt in Sekt auf sein Wohl getrunken, und Braumüller, der
älteste Sozius, ein sehr jovialer Mann, hatte sich einen Spaß daraus
gemacht, dem Gefeierten immer wieder einzuschenken.

»Na, Wolfgang, wenn Sie erst ins Geschäft eintreten! Na denn, mein
Junge, prost!«

Es war schon fast fünf Uhr, als man von Tische aufstand. Die Damen
setzten sich in den Salon zum Kaffee, die Herren gingen ins Rauchzimmer.
Wolfgang stahl sich fort, es zog ihn mächtig zu Lämkes. Erstens wollte
er die goldene Uhr zeigen, und dann wollte er auch mal fragen, was für
einen Spruch Frida eigentlich bei ihrer Einsegnung bekommen hatte, und
dann, dann – was wohl Mutter Lämke zu ihm sagen würde?!

›Wir haben hier keine bleibende Statt, die zukünftige suchen wir‹ – das
war doch wirklich ein dummer Spruch! Und doch wollte der ihm nicht aus
dem Kopfe. Wie er jetzt so langsam dahinschlenderte durch die weiche,
silbrige, ahnungsvolle Frühlingsluft, grübelte er in einem fort darüber.
Nein, so ganz dumm war der Spruch denn doch nicht! Nachdenklich zog er
die Brauen zusammen, sah empor nach den unbewegten Wipfeln der Kiefern
und dann umher – ›wir haben hier keine bleibende Stätte‹ – konnte das
nicht auch bedeuten: hier ist deine Heimat nicht?! Aber wo – wo?!

Ein seltsamer Glanz kam in das dunkle Auge, ein Suchen war darin. Und
dann wurde das weinrote, vom Festmahl erhitzte Gesicht blaß. Wenn es
wahr wäre, was die beiden sagten?! Ach, und noch so manches andre kam
ihm jetzt auf einmal in die Erinnerung: da war doch die Lisbeth gewesen,
das garstige Frauenzimmer, das vor der Cilla bei ihnen gedient hatte –
was hatte die Lisbeth doch immer alles geplappert, wenn sie schlechter
Laune war?! ›Du hast ja gar nichts zu suchen hier‹ – ›Gnade und
Barmherzigkeit‹ – allerhand so was, er brachte es jetzt nur nicht mehr
recht zusammen. Schade! Damals war er eben noch zu jung und harmlos
gewesen, aber jetzt – jetzt?!

»Verdammte Person!« Er ballte die Faust. Aber, ach, wenn er sie jetzt
nur hier hätte! Kein Schimpfwort wollte er ihr sagen, nein, es ihr
herauslocken, ganz sanft und schmeichelnd, denn wissen, wissen mußte
er’s jetzt!

Ein heftiges Verlangen, eine brennende Neugier waren plötzlich in ihm
erwacht, die ließen sich nun nicht mehr zurückdrängen. Etwas Wahres
mußte doch daran sein, wie kämen sie sonst dazu, so zu sticheln? Und das
Wahre mußte er wissen; er hatte jetzt ein Recht darauf! Seine Gestalt
reckte sich. Eigenwille und Trotz gruben feste Linien um seinen Mund.
Und wenn es noch so schrecklich war, wissen mußte er’s! Aber war es denn
überhaupt schrecklich?! Der Zug um seine Lippen wurde milder. ›Wir haben
hier keine bleibende Statt, unsre Heimat suchen wir‹ – wohlan, er würde
sie suchen!

Rascher fing er an, auszuschreiten, seinen bummligen Schlendergang
aufgebend. Was würde Mutter Lämke sagen?! Und wenn er sie nun fragen
würde – sie meinte es ja so gut mit ihm –, wenn er sie fragen würde,
wie einer gefragt wird, der schwören soll, wenn er sie fragte, ob – ja,
was wollte er sie denn eigentlich fragen?!

Sein Herz klopfte. Ah, das dumme Herz! Das tat manchmal gerade so, als
wäre es ein wilder Vogel, den man in ein enges Bauer eingesperrt
hat!

Er war wieder ins Laufen gekommen; nun mußte er den Schritt
verlangsamen. Und doch war er noch ganz außer Atem, als er die Wohnung
der Lämkes betrat. Vater und Sohn waren ausgegangen; aber Mutter und
Tochter saßen da, als hätten sie auf ihn gewartet.

Frida sprang auf, daß die Küchenkante, an der sie gehäkelt hatte, zu
Boden flog, faßte ihn bei beiden Händen, und aus ihren blauen Augen
strahlte die Bewunderung. »Nee, was biste fein, Wolfjang! Wie ’n Herr –
riesig nobel!«

Er lächelte: das war mal nett von ihr!

Aber als Frau Lämke gerührt sagte: »Nee, Wolfjang, nu sage ik aber ›Sie‹
ßu Ihnen – nee, Sie sind ßu jroß! – aber ik habe Ihnen drum nich
weniger jerne, weeß Jott, man is kaum ärjer uf de eijnen Jöhren« – da
fühlte er eine Freude, wie er sie heute noch nicht gefühlt hatte. Sein
Gesicht wurde weich in einer warmen Empfindung, und die arbeitsharte
Hand, die die seine kräftig schüttelte, drückte er fest.

Dann setzte er sich zu ihnen, sie wollten erzählt haben. Er zeigte ihnen
seine goldene Uhr und ließ sie repetieren; aber sonst erzählte er nicht
viel, die Atmosphäre der Stube lullte ihn in ein dämmerndes Behagen, und
er saß ganz still. Wieder roch es hier wie einst nach frischgebrühtem
Kaffee, und der Myrtenstock am Fenster und die blasse Monatsrose
mischten ihren schwächeren Duft ein. Er hatte ganz vergessen, daß er
schon lange hier saß; plötzlich fiel es ihm ein mit einem jähen
Schrecken: er hatte ja was zu fragen!

Mit forschenden Blicken sah er der Frau ins Gesicht. Sie sagte gerade:
»Nee, wie sich deine – Ihre Mutter freuen wird, det se nu so ’n jroßen
Sohn hat« – da fuhr es ihm heraus: »Bin ich denn ihr Sohn?« Und als
Frau Lämke nicht antwortete, nur mit erschrockenen Augen ihn unsicher
ansah, schrie er’s fast: »Bin ich denn ihr Sohn?«

Mutter und Tochter wechselten einen raschen Blick; Frau Lämke war ganz
rot geworden und sehr verlegen. Mit beiden Händen hielt der Junge ihre
Arme gepackt, und ganz dicht beugte er sich zur ihr hinüber. Da gab’s
kein Ausweichen.

»Lügen Sie mir nichts vor,« sagte er hastig. »Ich kriege es ja doch
heraus. Ich muß es herauskriegen. Ist es meine Mutter? Antwort! Und mein
Vater – ist der auch mein wirklicher Vater nicht?«

»Jott in ’n Himmel, Wolfjang, wie kommen Sie ßu so was?« Mutter Lämke
verbarg ihre Verlegenheit unter einem erzwungenen Lachen. »Das ’s ja
allens Quatsch!«

»O nein!« Er blieb unentwegt ernsthaft. »Ich bin nun alt genug. Ich muß
das wissen. Ich muß!«

Die Frau wand sich förmlich: nein, wie war ihr das unangenehm, mochte
der Junge doch lieber wo anders fragen! »Die würden mir scheene uf ’n
Kopp kommen, wenn ich da was quasselte,« suchte sie auszuweichen.
»Fragen Sie doch bei Ihre Eltern selber an, die werden Ihnen schon
Bescheid jeben. Ick wer mir hüten, mich mank so ’ne Anjelegenheiten ßu
mengelieren!«

Frida machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte, aber ein
warnender Blick hieß sie schweigen. Heftig fuhr die Mutter dazwischen:
»Biste stille! Det fehlte jrade noch, det du de Hände einmanschtest! Was
verstehn ieberhaupt so ’ne Jöhren von so was! Was Wolfjangen sein Vater
is, der wird schonst wissen, woher er ’n hat. Und wenn die jnäd’ge Frau
mit ßufrieden is, hat keen andrer en Wort drieber zu sagen!«

Wolfgang sah die Schwätzerin starr an. »Die Jungens sagen – die Lisbeth
sagte – und nun sagen Sie – Sie auch« – er sprang auf – »ich geh und
frage. Die!« Er wies mit dem Finger, als deute er irgendwohin in eine
weite, ihm ganz fremde Ferne. »Jetzt muß ich’s wissen!«

»Aber Wolfjang – nee, um Jottes willen!« Ganz entsetzt drückte ihn Frau
Lämke wieder auf den Stuhl nieder. »Lämke haut mir, wenn er’s ßu wissen
kriegt, det ich da mank bin. Wir verlieren womöglich noch de
Portjehstelle dadurch – un jetzt, wo de Kinder noch nischt verdienen!
Ick habe doch nischt jesagt?! Was kann ick davor, wenn dich andre Leute
’nen Floh ins Ohr setzen! Ick kenne ja deine Mutter jar nich – und was
dein Vater is, der wird ihr ooch schon längst nich mehr kennen! Laß man
die janze Jeschichte jut sind, mein Junge!« Sie wollte ihn beruhigen,
aber er hörte nicht darauf.

»Mein – mein Vater?!« stotterte er. »Also der ist doch mein richtiger
Vater?«

Frau Lämke nickte.

»Aber meine – meine richtige M–!« Er brachte das Wort ›Mutter‹ nicht
heraus. Die Hände hielt er sich vors Gesicht und zitterte am ganzen
Leib. Die Sehnsucht hatte ihn plötzlich übermannt, diese starke, heftige
Sehnsucht nach einer Mutter, die ihn geboren hatte. Er sagte kein Wort,
aber er stieß Seufzer aus, die wie Stöhnen klangen.

Frau Lämke war zu Tode erschrocken; sie wollte sich herausreden und
redete sich immer tiefer hinein: »Ach was, mein juter Junge, so was
kommt in ’n Leben doch öfters vor – sehr anständig, daß er dir nich
verleujnet hat, det tut noch lange nich jeder! Un was die jnäd’je Frau
is, die dir anjenommen hat wie ’n eijnet Kind, so kann man lange suchen,
bis man so eine wieder findet. Jroßartig – einfach jroßartig!« Frau
Lämke hatte sich oft genug über die vornehme Dame geärgert, aber nun
fühlte sie das Bedürfnis, ihr gerecht zu werden. »So ’ne Mutter kannste
in Jold fassen – so was jibt’s ja jar nich mehr!« Sie erschöpfte sich
in anerkennenden Lobpreisungen. »Un wer weiß auch, ob an’n Ende noch
alles wahr is!« Damit schloß sie.

Es würde schon alles wahr sein! Wolfgang war ruhig geworden; wenigstens
merkte man seinem Gesichte keine sonderliche Erregung mehr an, als er
jetzt die Hände herabgleiten ließ. »Ich muß jetzt gehen,« sagte er.

Frida stand sehr bedrückt da; sie hatte das alles ja längst gewußt –
wer wußte das nicht?! – aber daß =er=’s nun wußte, das tat ihr so leid.
Ihre hellen Blicke trübten sich, voll Mitleid sah sie den Freund an:
ach, wie war ihre eigene Einsegnung, vorige Ostern, doch so viel schöner
gewesen! Sie hatte keine goldene Uhr bekommen, nur eine ganz kleine
Brosche von unechtem Gold – eine Mark fünfzig hatte die gekostet, sie
hatte sich die ja selber mit Muttern ausgesucht –, aber sie war so froh
gewesen, so froh!

»Was für ’n Spruch haste denn jekriegt?« fragte sie rasch, um Wolfgang
auf andre Gedanken zu bringen.

»Ich weiß ihn nicht auswendig,« sagte er ausweichend, und seine
verblaßten Wangen wurden purpurrot. »Aber er stimmt!« Und damit ging er
aus der Türe.

Geradeswegs ging er nach Hause – was sollte er noch Zeit versäumen, es
eilte! Er sah nicht die Stare aus- und einfliegen aus ihren Nistkästchen
an den hohen Stangenkiefern, sah nicht, daß schon eine helle Mondsichel
schwebte am dunkler werdenden Abendhimmel und ein goldener Stern daneben
stand, sah nur mit Genugtuung, als er in die Halle der Villa trat, daß
Mäntel und Hüte von den Haken verschwunden waren. Das war gut, die Gäste
waren fort! Er stürmte gegen die Salontür, fast fiel er ins Zimmer. Da
saßen Vater und Mutter noch – nein, der Vater und sie, die – die
–!

»Nun, sage mal, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte der Vater,
nicht ohne Anflug von Ärgerlichkeit in der Stimme.

»Heute, gerade heute!« sagte die Mutter. »Sie lassen dich alle grüßen,
sie haben noch auf dich gewartet. Aber nun ist es ja fast schon acht
Uhr!«

Unwillkürlich sah Wolfgang nach der Pendüle auf dem Kaminsims –
richtig, schon bald acht! Aber das war ja nun alles gleichgültig! Und
den Blick starr geradeaus gerichtet, als sähe er unverrückt nach einem
Ziel, stellte er sich vor den beiden auf.

»Ich muß euch was fragen,« sagte er. Und dann – ganz unvermittelt kam’s
heraus, ganz brüsk –: »Wessen Kind bin ich?!«

Da war’s gesagt! Die junge Stimme hatte hart geklungen. Oder tönte sie
nur so verletzend in Kätes Ohren? Sie hörte ein furchtbares Gellen wie
von mißlautendem Trompetenstoß. O Gott, da war sie, die furchtbare
Frage! Eine jähe Blutwelle legte ihr einen dichten Schleier mit
flimmernden Punkten vor die Augen; sie konnte ihren Knaben nicht mehr
sehen, sie hörte nur diese seine Frage. Hilflos, blindlings griff sie
mit der Hand um sich – Gott sei Dank, da war ihr Mann, der war noch da!
Und jetzt hörte sie auch ihn sprechen.

»Wie kommst du zu der Frage?« sagte Schlieben. »Unser Sohn – natürlich!
Wessen Kind denn sonst?«

»Das weiß ich nicht. Das will ich ja eben von euch wissen,« sprach
wieder die harte Knabenstimme.

Es war merkwürdig, wie ruhig diese Stimme klang, aber sie dünkte Käte
doppelt entsetzlich in dieser sachlichen Einförmigkeit.

Nun hob sie sich ein wenig: »Gib mir doch Antwort – ich will – ich muß
es wissen!«

Käte schauderte: welche Unerbittlichkeit, welche Hartnäckigkeit lag in
diesem ›Ich will‹ – ›Ich muß‹ –! Der würde nie mehr aufhören, zu
fragen! Wie vernichtet sank sie bebend ganz in sich zusammen.

Auch des Mannes ruhige Stimme verriet ein heimliches Beben: »Lieber
Junge, dir hat mal wieder einer – ich will nicht fragen: wer, es gibt
immer Klätscher und Hetzer genug – etwas in den Kopf gesetzt. Warum
stellst du dich so feindlich gegen uns? Sind wir dir nicht immer wie
Vater und Mutter gewesen?«

O, das war falsch – =wie= Vater und Mutter?! Grundfalsch! Käte fuhr
auf. Sie streckte die Arme aus: »Mein Junge!«

Aber er blieb stehen, als bemerkte er diese ausgestreckten Arme nicht;
die Brauen finster zusammengezogen, sah er nur den Mann an. »Ich weiß
wohl, daß du mein Vater bist, aber sie – die –« er warf einen
flüchtigen Seitenblick – »die ist meine Mutter nicht!«

»Wer sagt das?!« Käte schrie laut auf.

»Alle Welt!«

»Nein, niemand! Das ist nicht wahr! Eine Lüge, eine Lüge! Du bist mein
Kind, mein Sohn, unser Sohn! Und wer das leugnet, der lügt, betrügt,
verleumdet, der –«

»Käte!« Ihr Mann sah sie sehr ernst an, und ein Vorwurf lag in seinem
Ton und eine Mahnung: »Käte!«

Und dann wendete er sich zu dem jungen Menschen, der trotzig dastand,
fast herausfordernd in der Haltung – den einen Fuß vorgestellt, gerade
aufgerichtet, den Kopf in den Nacken geworfen – und sagte: »Die Mutter
ist begreiflicherweise sehr aufgeregt, du solltest sie schonen – gerade
heute! Geh jetzt, und wir werden morgen –«

»Nein, nein!« Käte ließ ihn nicht aussprechen; sie rief in höchster
Erregung: »Nein, nicht aufschieben! Laß ihn doch reden – jetzt – laß
ihn nur! Und antworte du ihm – jetzt – gleich – daß er unser Sohn
ist, unser Sohn ganz allein! Wolfgang – Wölfchen!« Sie brauchte heute
wieder seit langer Zeit den alten süßen Kinderschmeichelnamen.
»Wölfchen, liebst du uns denn gar nicht mehr? Wölfchen, komm doch zu
mir!«

Wieder streckte sie die Hände nach ihm aus, aber er sah wiederum nicht
diese verlangenden, liebevoll gebreiteten Arme. Er war sehr blaß und sah
starr vor sich nieder.

»Wölfchen, komm!«

»Ich kann nicht!«

Nichts regte sich in seinem Gesicht, und seine Stimme hatte immer noch
den eintönigen Klang, der ihr so furchtbar war. Sie schluchzte auf, und
ihre Blicke klammerten sich an ihren Mann – nun sollte der ihr helfen!
Aber er sah sie finster an; deutlich las sie in seiner Miene den
Vorwurf: ›Warum bist du mir nicht gefolgt?! Hätten wir’s ihm gesagt
beizeiten –‹ nein, auch bei ihm fand sie keine Hilfe! Und jetzt – was
sagte Paul jetzt gar?! Ihre Augen erweiterten sich in plötzlichem
Schrecken, mit beiden Händen umklammerte sie die Seitenlehnen ihres
Sessels, wollte zurücksinken und bäumte sich doch auf, sich wehrend
gegen das, was nun kommen mußte. War Paul von Sinnen?! Er sprach: »Du
bist nicht unser Sohn!«

»Nicht euer Sohn?!« Der Knabe stammelte. Er hatte sich durch nichts
beirren lassen wollen, aber diese Antwort beirrte ihn doch. Sie
verwirrte ihn; er wurde rot und blaß, und sein Blick glitt unsicher von
dem Mann zur Frau, von der Frau zum Mann.

Also auch er – der – wäre nicht sein Vater?! Aber Frau Lämke hatte es
doch gesagt! Aha, der wollte ihn jetzt wohl verleugnen?! Mißtrauisch sah
er den Mann an, und dann wallte es wie eine Kränkung in ihm auf: wenn
der da nicht sein Vater wäre, hätte er ja eigentlich hier gar kein –
nein, gar kein Anrecht?!

Und einen Schritt nähertretend, sagte er hastig: »Du bist wohl mein
Vater. Du willst es jetzt nur nicht sagen. Aber sie« – er nickte kurz
nach dem Sessel hin – »sie ist nicht meine Mutter!« Seine Augen
leuchteten; mit einem tiefen Aufatmen sagte er nun, als sei es ihm eine
Erleichterung: »Das habe ich immer gewußt!«

»Du bist falsch berichtet! Wäre es nach mir gegangen, ich hätte dir
längst die Wahrheit gesagt. Aber da nun einmal – leider! – der
richtige Moment versäumt ist, so sage ich sie dir heute. Ich sage sie
dir – so wie ein Mann zum anderen spricht, auf Ehrenwort – ich bin
dein Vater nicht, ebensowenig wie sie deine Mutter ist. Von Geburt bist
du uns fremd, ganz fremd. Wir haben dich aber angenommen an Kindes
Statt, weil wir gerne ein Kind haben wollten und keins hatten. Wir haben
dich aus dem –«

»Paul!« Wie damals, als Schlieben dem Knaben, empört über dessen
Undankbarkeit, hatte etwas verraten wollen, fiel Käte ihm mit einem
lauten Schrei an die Brust. Sie umklammerte ihres Mannes Nacken; hastig,
heftig, mit zitterndem Hauchen raunte sie ihm ins Ohr: »Sag ihm nicht:
woher! Um Gottes willen nicht, woher! Dann geht er, dann ist er mir ganz
verloren! Ich ertrage es nicht – hab Mitleid, Erbarmen mit mir – sag
ihm nur nicht: woher!«

Er wollte sie von sich schieben, aber sie ließ ihn nicht los. Immer dies
weinende Stammeln, dies zitternde, angstvolle, verzweifelnde Beschwören:
nur nicht woher, nur nicht woher!

Ein großes Mitleid mit ihr überkam ihn: seine arme Frau, so eine arme
Frau – mußte ihr das geschehen?! Und ein Zorn kam dazu gegen den
Knaben, der da so breitspurig stand – dreist – ja, dreist – der da
forderte, wo er zu bitten hatte, und unbewegt, mit großen kalten Augen
nach ihnen hinsah.

Der ernste, aber doch weiche Ton, in dem Schlieben bis jetzt zu Wolfgang
gesprochen hatte, wurde streng: Ȇbrigens verbitte ich mir diese deine
Art, zu fragen!«

»Ich habe ein Recht, zu fragen!«

»Ja, das hast du!« Der Mann war ganz betroffen: ja, der Junge hatte das
Recht! Wer hier im Unrecht war, das war ganz klar! Und so sagte er
einlenkend und wieder freundlicher: »Wenn du aber auch nicht unser Sohn
bist in Fleisch und Blut, so denke ich doch, haben Erziehung und
jahrelanges Mühen, treue Fürsorge dich im Geiste zu unserm Kinde
gemacht. Komm, mein Sohn – und wenn sie alle sagen, du wärest nicht
unser Sohn, ich sage dir: du bist unser Sohn, in Wahrheit!«

Er hielt dem regungslos Dastehenden die freie Hand hin – mit der andern
hielt er seine Frau umfaßt –, da war noch Platz an seiner Brust, hier
konnte auch noch der reuige Knabe liegen. Aber langsam wich Wolfgang
zurück, er nahm die gebotene Hand nicht, er ließ sich nicht ziehen.

»Nein,« sagte er. Und dann ging er, ohne Tränen, die trockenen Augen
immer starr auf die, die er so lange Eltern genannt hatte, gerichtet,
langsam rückwärts zur Tür.

»Junge, wohin?! Aber so bleibe doch!« Schlieben rief es ihm gütig nach
– der Junge war ja auch in einer scheußlichen Situation, man mußte
Geduld mit ihm haben! Und er rief noch einmal: »Wolfgang, bleibe
doch!«

Aber Wolfgang schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht. Ihr habt mich
betrogen. Laß mich los!« Mit einer gewaltsamen Bewegung schüttelte er
des Mannes Hand, die sich auf seinen Ärmel gelegt hatte, ab.

Und nun schrie er auf wie ein verwundetes Tier: »Was quält ihr mich
noch? Laßt mich doch gehen! Ich will gehen, ich will an meine Mutter
denken – wo ist sie?!«




Drittes Buch




1


Die Uhren im Haus gingen schreckhaft laut. Man hörte sie durch die
Stille der Nacht wie mahnende Stimmen.

O, wie rasend schnell jagte die Zeit hin! Eben war es noch Abend gewesen
– eben Mitternacht – und nun schlug die Pendüle auf dem Kaminsims
schon ein kurzes, helles, hartes Eins!

Mit einem Zusammenschaudern hob die einsame Frau die Hände an die
Schläfen und preßte sie fest dagegen. Ah, wie es dadrinnen hämmerte, und
wie sich Gedanken – quälende Gedanken – jagten, rasend schnell und
rastlos wie das hastige Ticken der Uhren!

Alle schliefen im Haus. Der Diener, die Mädchen; auch ihr Mann –
längst! Nur sie, sie allein hatte noch keinen Schlaf gefunden.

Und draußen schlief auch alles. Die Kiefern standen ums Haus,
regungslos, und ihre dunklen Silhouetten, steif wie aus Pappe
geschnitten, hoben sich scharf ab vom silbrigen Nachthimmel.

Kein Ruf, kein Fußtritt, kein Räderrollen, kein Singen, kein Lachen,
nicht einmal ein Hundegekläff stieg auf aus der schlafenden
Grunewaldkolonie. Nur wie ein leises Seufzen ging’s um die weiße Villa
mit dem roten Dach und den grünen Läden.

Die Mutter, die auf ihren Sohn wartete, horchte auf: war da jemand?!
Nein, es war das Nachtlüftchen, das dort die Äste der alten verknorrten
Kiefer zu bewegen versuchte.

Käte Schlieben stand jetzt am Fenster – vorhin hatte sie es ungeduldig
aufgerissen – nun beugte sie sich hinaus. Soweit ihr Auge reichte, war
niemand zu sehen – gar niemand. Er kam noch immer nicht!

Zwei schlug die Uhr. Mit einem fast verzweifelten Blick sah sich die
Frau nach dem Kamin um: o, diese quälende, diese unerträgliche Uhr! Es
konnte nicht sein, sie mußte falsch gehen, es konnte nicht sein, daß es
schon so spät war!

Käte hatte schon manchen Abend aufgesessen und auf Wolfgang gewartet,
aber so lange wie heute war er noch nie ausgeblieben. Paul hatte nichts
dagegen, wenn der Junge seine eignen Wege ging. ›Liebes Kind,‹ hatte er
ja gesprochen, ›das kannst du nicht ändern. Lege dich hin und schlafe,
das ist viel vernünftiger. Der Junge hat den Schlüssel, er wird schon
wohlbehalten ins Haus kommen. Einen jungen Menschen in seinem Alter
kannst du nicht mehr gängeln. Laß ihn – du verleidest ihm ja sonst
unser Haus – laß ihn doch ruhig gehen!‹

Was Paul sich dachte! Freilich, er hatte ganz recht, gängeln durfte sie
ihn nicht mehr! Das konnte sie auch gar nicht mehr – hatte sie nie
gekonnt. Aber wie konnte sie sich ruhig zu Bett legen?! Schlafen würde
sie ja doch nicht. Wo blieb er?! –

Käte war grau geworden. In den drei Jahren, die verstrichen waren seit
des Sohnes Einsegnung, hatte sie sich äußerlich sehr verändert. Während
Wolfgang in die Höhe wuchs, stark und sich breitete wie ein junger Baum,
hatte ihre Gestalt sich geneigt wie eine Blume, die regenbeschwert ist
oder welken will. Ihre feinen Züge waren dieselben geblieben, aber ihre
Haut, die so lange eine fast mädchenzarte Glätte bewahrt hatte, war
schlaffer geworden; ihre Augen sahen aus, als hätten sie viel geweint.
Die Bekannten fanden Frau Schlieben recht gealtert.

Wenn sich Käte jetzt in dem Spiegel sah, hatte sie nicht mehr das
freudige Erröten über die eigne wohlkonservierte Erscheinung; sie
sah sich nicht gern mehr an. Es hatte ihr irgend etwas innerlich und
äußerlich einen Ruck gegeben. Was das gewesen war, ahnte niemand.
Schlieben freilich wußte es, aber er sprach mit seiner Frau nicht
darüber: warum sie von neuem aufregen, alte Wunden wieder aufreißen?!

Er hütete sich wohl, noch einmal wieder auf jenen Konfirmationstag
zurückzukommen. Es war auch bequemer so. Den Jungen hatte er freilich
damals noch ordentlich vorgenommen, ihm in strengen Worten sein
undankbares Verhalten klar gemacht und ein rücksichtsvolleres und
besonders gegen die Mutter liebevolleres Benehmen von ihm verlangt. Und
der junge Mensch, den sein Betragen wohl längst reuen mochte, hatte
dagestanden wie ein armer Sünder, nichts hatte er gesagt, den gesenkten
Blick nicht gehoben. Und als der Vater ihn zuletzt zur Mutter geführt
hatte, hatte er sich führen lassen und sich von der Mutter, die ihn mit
beiden Armen umschlang, umschlingen lassen. Sie hatte über ihm geweint
und ihn dann geküßt.

Und dann war nie, nie mehr darüber geredet worden. –

Das weiße Haus mit seinem heiteren Grün und Rot, an dem und in dem immer
wieder neue Verschönerungen und Verbesserungen vorgenommen wurden, fiel
allen, die vorübergingen, als besonders anheimelnd auf. Die
Sonntagsausflügler blieben am schmiedeeisernen Gitter stehen und
bewunderten die Blumenfülle; im Sommer die hängenden Geranien der
Balkons und die Pracht der edlen Rosenstöcke, im Winter die Azaleen und
Kamelien hinterm dicken Glas des Wintergartens und die farbigen
Primelreihen zwischen den Doppelfenstern und die frühen Hyazinthen und
Tulpen. Die Dame in dem weichen Tuchkleid mit dem welligen grauen
Scheitel und dem sanften Gesicht, auf dem es wie ein leicht-wehmütiges
Lächeln lag, paßte gut zu dem Haus und zu den Blumen, zu dem ganzen
Frieden. ›Entzückend,‹ sagten die Leute.

Wenn Wolfgang früher, als Junge, so etwas gehört hatte, hatte er den
Bewunderern ein Fratze geschnitten: was gingen die Haus und Garten an,
da war doch nichts daran zu bewundern?! Nun schmeichelte es ihm, wenn
sie stehen blieben, wenn sie’s gar beneidenswert fanden. O ja, es war
recht nett hier! Er fühlte sich.

Schlieben und Käte hatten nie einen besonderen Wert auf Geld gelegt, sie
hatten ja immer genug gehabt, das gute Auskommen war ihnen einfach
selbstverständlich; sie ahnten es gar nicht, daß der Sohn Wert auf den
Reichtum legte. Wenn Wolfgang daran dachte, daß er einst in knabenhaftem
Ungestüm das alles nicht geachtet hatte, fortgelaufen war in die Irre,
ohne Geld, ohne Brot, mußte er lächeln: wie kindisch! Und wenn er
bedachte, daß er einmal, als er doch schon älter geworden war und
überlegen konnte, mit Ungestüm etwas verlangt hatte, das gleichbedeutend
gewesen wäre mit Aufgabe all dessen, was sein Leben so bequem
gestaltete, dann schüttelte er jetzt den Kopf: zu einfältig!

Es gewährte ihm eine gewisse Genugtuung, sich mit andern zu vergleichen.
Kesselborn schwitzte noch in Prima – der sollte durchaus studieren,
Theologie, womöglich wegen seines Adels Hofprediger werden – Lehmann
mußte seinem Vater bei der Spedition helfen, trotz des Einjährigen, mit
dem er abgegangen war, Möbelwagen karren! Und Kullrich – ach, Kullrich
erst, der hatte die Schwindsucht! Wie seine Mutter. Trauriges Erbe
das!

Ein halb geringschätziges, halb mitleidiges Lächeln zog Wolfgangs
Mundwinkel herab, wenn er der Schulkameraden gedachte. Hieß das leben?!
Ah, und leben, leben war so wunderschön!

Wolfgang hatte das Bewußtsein seiner Kraft: er konnte Bäume entwurzeln,
Mauern, die sich ihm entgegenstellten, umpusten, als seien es
Kartenblätter.

Es war nicht länger mehr mit ihm auf der Schule gegangen, seine Glieder
und seine Neigungen hatten nicht mehr in die Schulbank hineingepaßt. Er
bekam ja auch schon einen Schnurrbart! Wie ein schwarzer Schatten war
der schon lange auf der Oberlippe zu ahnen gewesen; nun war er da, er
war da! So ein fertiger Mensch konnte doch nicht mehr in Sekunda sitzen?
Wozu auch, er sollte ja kein Gelehrter werden?! Mit der Reife für Prima
war Wolfgang abgegangen.

Schlieben hatte die Absicht, ihn gleich nach Absolvierung der Schule ins
Ausland zu schicken, noch für ein Jahr aufgegeben; erst wollte er ihn
doch noch etwas unter Augen behalten. Nicht, daß er ihn etwa so
ängstlich wie Käte zu hüten bestrebt war, aber der alte Sanitätsrat, der
gute Freund, auf den er so viel gab, hatte ihn in einer vertraulichen
Stunde, in der sie ganz allein, von niemandem gehört, beim Glase Wein
saßen, gemahnt: »Hören Sie, Schlieben, nehmen Sie den Jungen doch lieber
in acht! Ich würde ihn noch nicht so weit weggeben – er ist so jung.
Und er ist ein Unband und – wissen Sie, bei dem, was er als Kind
durchgemacht hat – hm, man kann doch nicht sagen, ob das Herz so mit
standhält!«

»Warum nicht?« hatte Schlieben da betroffen gefragt, »Sie halten ihn
also für krank?!«

»Nein, durchaus nicht!« Der Arzt war ordentlich ärgerlich geworden:
gleich diese Übertreibung! »Wer sagt denn was von ›krank‹?! Aber drauf
losgehen darf der Bursche doch nicht so. Na, und Jugend hat doch keine
Tugend! Das wissen wir doch auch noch von unsrer Zeit her!«

Und beide Männer hatten sich zugenickt, waren heiter geworden und hatten
gelacht.

Wolfgang bekam ein Reitpferd, ritt erst in der Bahn und dann täglich
seine paar Stunden draußen. Der Vater hielt darauf, daß er nicht zu viel
im Kontor saß: was ihm zum kaufmännischen Beruf not tat, würde er schon
lernen, rechnen konnte er ja!

Die beiden Sozien, alte Junggesellen, waren entzückt von dem frischen
Jungen, der mit der Reitgerte ins Bureau kam und auf dem Kontorbock
hockte, als säße er auf einem Gaul.

Schlieben hörte keine Klagen über den Sohn; das ganze Personal, Leute,
die ihre zehn, zwanzig Jahre in der Firma waren, alle gut eingeölte,
tadellos funktionierende Maschinen, schnurrten um den jungen Menschen
herum: das war doch der künftige Chef! Es ging alles glatt.

Beide Eheleute bekamen Komplimente über den Sohn zu hören: ›Ein famoser
Mensch! Welche Frische!‹ »Er soll ja erst werden,« sagte Schlieben dann
wohl, aber man merkte ihm doch eine gewisse innere Befriedigung an. Er
hatte nicht diese peinliche Seelenunruhe wie seine Frau. Käte zog nur
die Augenbrauen ein wenig höher und lächelte ein leicht zustimmendes,
etwas wehmütiges Lächeln.

Sie konnte sich nicht mehr über den großen Menschen freuen, wie sie sich
einst über das kleine Jungchen auf ihrem Schoß gefreut hatte. Ihr war,
als sei ihr überhaupt die Fähigkeit zur Freude abhanden gekommen,
langsam zwar, ganz allmählich, aber doch stetig, bis der letzte Rest
dieser Fähigkeit auf einmal ausgerissen ward, mit der Wurzel, an =einem=
Tag, in =einer= Stunde, in jenem unglückseligen Augenblick – ›ich will
gehen, ich will an meine Mutter denken, wo ist sie?!‹ – seitdem! Sie
wünschte ihm noch alles Beste auf Erden, aber sie war gleichgültiger
geworden; müde. Er hatte sie zu schwer aufs Herz getreten, schwerer, als
einst seine kleinen urkräftigen Füße auf ihren Schoß gestampft hatten.
–

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich die einsam Wartende weiter zum
Fenster hinaus. War das nicht unerhört, unverzeihlich von ihm, so spät
nach Hause zu kommen?! Wußte er denn nicht, daß sie auf ihn wartete?!

In der Anwandlung eines Zornes, der ihr sonst selten kam, ballte sich
ihre Hand, die sich auf den Fenstersims stützte, zur Faust. Sie war eine
Närrin, auf ihn zu warten! War er nicht alt genug – achtzehn Jahre –
brauchte er noch erwartet zu werden wie ein Knabe, der zum ersten Mal
allein von einer Kindergesellschaft heimkommt?! Er hatte sich mit andern
jungen Leuten in Berlin verabredet – weiß Gott, in welchem Nachtcafé
sie jetzt herumbummelten!

Sie stieß mit dem Fuß auf. Ihr heißer Atem stieg wie ein Rauch in die
kalte klare Frühlingsnacht, es fröstelte sie vor Überwachtheit und
Unbehagen. Und Stunden fielen ihr ein, alle Stunden, die sie schon um
ihn verwacht hatte, und eine große Bitterkeit quoll in ihr auf. Selbst
ihre Zunge kostete Bitternis – das war Galle. Nein, sie fühlte jetzt
nicht mehr die Liebe früherer Jahre! Damals, ja damals war – selbst
wenn sie um ihn litt – noch Wonne dabei gewesen; jetzt fühlte sie nur
dumpfen Groll. Warum hatte er sich in ihr Leben gedrängt?! O, wie war
das früher so glatt, so sorgenlos, so – ja, so viel glücklicher
gewesen?! Wie hatte er sie zerbrochen – würde sie sich je wieder
aufrichten können?!

Nein! Ein hartes kurzes Nein. Und dann dachte sie an ihren Mann. Auch
den hatte er ihr geraubt. Waren sie zwei nicht früher eins gewesen, ganz
eins? Nun hatte sich dieser dritte dazwischen gedrängt, sie beide immer
weiter und weiter voneinander geschoben – bis daß er hier ging, und sie
da!

Ein jäher Schmerz stieg in der Grübelnden auf, ein erbarmungsvolles
Mitleid mit sich selber trieb ihr die Tränen in die Augen; heiß tropften
sie nieder auf die Hände, die sich auf dem kalten Steinsims ballten.
Wenn er, wenn er doch nie in ihr Leben –

Da schreckte sie eine Hand, die ihre Schulter berührte, auf.
Blitzschnell wendete sie sich: »Bist du endlich da?!«

»Ich bin’s,« sagte Schlieben. Er war aufgewacht, hatte sie nicht neben
sich atmen hören und sich dann geärgert: wahrhaftig, da saß sie nun
wieder unten und wartete auf den Jungen! Solch ein Unverstand! Und als
er noch ein Weilchen gelegen und auf sie gewartet und sich geärgert
hatte, warf er notdürftige Kleidung über, schlüpfte in die Morgenschuhe
und tappte durchs nächtliche Haus. Ihn fröstelte, und er war schlechter
Laune. Nicht genug, daß er aus dem besten Schlaf gestört war und daß sie
morgen Migräne haben würde, nein, was noch schlimmer war, Wolfgang mußte
es ja geradezu unleidlich finden, so beobachtet zu werden!

Es war natürlich, daß er mit ihr schalt. »Was ist denn Schlimmes dabei,
wenn er einmal ein bißchen länger ausbleibt, ich bitte dich, Käte! Das
ist ja rein lächerlich von dir! Ein bißchen bummeln, das hab ich auch
als junger Mensch getan, und meine Mutter war, Gott sei’s gedankt,
verständig genug, sich nicht darum zu kümmern. Komm, Käte, komm jetzt zu
Bett!«

Sie wich zurück. »Ja – du!« sagte sie langsam, und er wußte nicht, wie
sie’s meinte. Sie drehte ihm den Rücken und lehnte sich wieder zum
Fenster hinaus.

Er stand noch einige wenige Augenblicke und wartete, aber als sie nicht
mitkam, sich nicht einmal umwandte nach ihm, schüttelte er den Kopf: man
mußte sie lassen, sie wurde eben geradezu wunderlich!

Schlaftrunken stieg er wieder allein die Treppe hinauf; er taumelte fast
vor Müdigkeit, und die Glieder waren ihm schwer, und trotzdem war sein
Denken klarer, unerbittlicher als am Tage, an dem so vieles rund umher
ablenkt und zerstreut. Eine Sehnsucht stieg in dieser Stunde in ihm auf
nach einer Frau, die seine alten Tage in sanftem Geleise ruhig und
freundlich führen würde, deren Lächeln nicht nur Schein war wie das
Lächeln auf Kätes Gesicht. Eine Frau, die mit dem Herzen lächelt, ach,
leider, so eine war seine Käte nicht!

Mit einem Seufzen der Enttäuschung legte sich Schlieben wieder nieder
und zog frierend die Decke hoch hinauf. Aber es dauerte lange, bis er
einschlafen konnte. Wenn der Junge doch nur endlich käme! Heute dauerte
es wirklich etwas lange! Solche Bummelei ging denn doch zu weit!
–

Der Morgen graute, als eine Droschke langsam die Straße herunter
zockelte. Vor der weißen Villa hielt sie an, und zwei Herren halfen
einem dritten heraus. Die beiden, die den dritten unter den Armen gefaßt
hielten, lachten, und der Kutscher auf dem Bock, der interessiert
herunterguckte, lachte auch verschmitzt: »Soll ick helfen, meine Herren?
Na, jeht’s?!«

Sie lehnten ihn gegen das Gitter, das den Vorgarten verschloß, tippten
auf die Klingel, sprangen dann eilig wieder in den Wagen und schlugen
den Schlag zu: »Los Kutscher, zurück!«

Die Klingel hatte nur einen leisen vibrierenden Ton von sich gegeben –
wie einen bangen Hauch – Käte hatte ihn gehört, obgleich sie im Sessel
eingeschlafen war; nicht fest, es war mehr ein hindämmerndes Versinken
gewesen. Nun sprang sie erschrocken auf, es gellte ihr in den Ohren.
Rasch ans Fenster! Draußen am Gitter lehnte jemand. Wolfgang –?! Ja,
ja, er war’s! Aber warum schloß er denn nicht auf und kam herein?!

Was war ihm denn passiert?! Es war ihr auf einmal, als müßte sie um
Hilfe rufen: Friedrich! Paul! Paul! Nach den Mädchen klingeln. Es war
ihm etwas geschehen, es mußte ihm etwas geschehen sein, – warum kam er
denn nicht herein?!

Er lehnte da so schwer gegen das Gitter. Ganz seltsam! Der Kopf hing ihm
auf der Brust, der Hut saß ihm im Nacken. War er krank?!

Oder hatten ihn Strolche angefallen?! Die abenteuerlichsten Ideen
schossen ihr plötzlich durch den Kopf. War er verletzt? Herrgott, was
war ihm denn widerfahren?!

Befürchtungen, über die sie sonst gelächelt haben würde, kamen ihr jetzt
zu dieser Stunde, in der es nicht Nacht mehr war, und doch auch noch
nicht Tag. Ihre Füße waren kalt und steif, wie erfroren, kaum kam sie
bis zur Haustür; den Schlüssel konnte sie erst nicht finden, und als
ihre zitternden Hände ihn ins Schloß stießen, brachten sie ihn nicht
herum. Sie war so ungeschickt in ihrer Hast, so sinnlos in ihrer Angst:
etwas Furchtbares mußte geschehen sein! Ein Unglück! Sie fühlte das.

Endlich, endlich! Der Schlüssel ließ sich endlich drehen. Und nun
stürzte sie durch den Vorgarten ans Gittertürchen; eine eisige
Morgenluft schlug ihr entgegen wie Winterhauch. Sie drückte das Gitter
auf: »Wolfgang!«

Er gab keine Antwort. Sein Gesicht konnte sie so nicht recht sehen; er
stand unbeweglich.

Sie faßte seine Hand: »Um Gottes willen, was ist dir denn?!«

Er rührte sich nicht.

»Wolfgang! Wolfgang!« Sie rüttelte ihn in höchster Angst; da fiel er so
schwer gegen sie, daß er sie beinahe umgestoßen hätte und stammelte,
lallte wie ein Blöder, dessen schwerer Zunge man etwas eingelernt hat:
»Par–don!«

Sie mußte ihn führen. Sein Atem, ganz voll Alkoholdunst wehte sie an.
Ein ungeheurer Ekel, schrecklicher noch als die Angst vorher, packte
sie. Das war das Furchtbare, das sie erwartet hatte –, nein, das war
noch furchtbarer, noch unerträglicher! Er war ja betrunken, betrunken!
So mußte ›betrunken‹ sein!

In ihre Nähe war noch nie ein Betrunkener gekommen; nun hatte sie einen
dicht bei sich. Ein Entsetzen schüttelte sie, daß ihr die Zähne
aufeinander schlugen. O pfui, pfui, wie ekelhaft, wie gemein! Wie
niedrig erschien er ihr, und sie selber wie miterniedrigt. Das war ihr
Wolfgang nicht mehr, ihr Kind, das sie an Sohnes Statt angenommen hatte!
Dies hier war ein ganz gewöhnlicher, ein ganz gemeiner Mensch von der
Straße, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts mehr zu schaffen
hatte!

Hastig wollte sie ihn von sich schieben, ins Haus eilen, die Tür hinter
sich schließen – mochte er sehen, was er machte! Aber er hielt sie
fest. Seinen Arm hatte er schwer um ihren Nacken gelegt, er drückte sie
fast nieder; so zwang er sie, ihn zu führen.

Und widerwillig, mit innerem verzweifeltem Aufbäumen und doch bezwungen,
führte sie ihn. Sie konnte ihn doch nicht aufgeben, dem Gespött der
Dienstboten preisgeben, dem Gelächter der Straße! Wenn ihn jemand so
sähe?! Wie lange noch, und die ersten Menschen kamen vorüber, die
Milchjungen, die Bäckermädchen, die Straßenarbeiter und die frühen
Karlsbadtrinker. Um Gottes willen, wenn jemand eine Ahnung davon bekäme,
wie tief er gesunken war!

»Stütze dich, stütze dich fest,« sagte sie mit zitternder Stimme. »Nimm
dich zusammen – so!« Sie brach fast unter ihm zusammen, aber sie
erhielt ihn auf den Füßen. Er war so betrunken, er wußte nicht, was er
tat, er wollte sich durchaus vor der Schwelle niederlegen, platt auf die
Steinstufen. Aber sie riß ihn auf.

»Du mußt – du mußt,« sagte sie, und er folgte ihr wie ein Kind. ›Wie
ein Hund‹ dachte sie.

Nun hatte sie ihn in der Vorderhalle – die Haustür war wieder
verschlossen – aber nun kam die Angst vor der Dienerschaft. Noch war
diese nicht auf, aber nicht lange mehr, und Friedrich tappte auf
Lederpantoffeln von der Gärtnerwohnung herüber, und die Mädchen kamen
aus ihren Mansarden herunter, das Fegen und Aufräumen fing an, das
Öffnen der Fenster, das Hochziehen der Jalousieen, daß Helle – grausame
Helle – in jeden Winkel drang. Sie mußte ihn die Treppe hinauf
bekommen, in sein Zimmer, ohne daß jemand etwas ahnte, ohne daß sie
einen Menschen zu Hilfe rief!

Einen Augenblick hatte sie an ihren Mann gedacht –, aber nein, auch den
nicht, kein Mensch durfte ihn so sehen! Mit einer Kraft, die sie sich
selber nicht zugetraut hätte, half sie ihm hinauf; sie lud ihn sich
förmlich auf. Und sie flehte ihn an dabei, immer flüsternd, aber mit
hartnäckiger Eindringlichkeit: »Leise, leise!« Sie mußte ihm
schmeicheln, sonst ging er nicht weiter: »Leise, Wölfchen! Geh, geh,
Wölfchen – so ist’s schön, Wölfchen!«

Es war eine Höllenqual. Er stolperte und polterte; bei jedem Anstoßen
seines Fußes an die Treppenstufen, bei jedem Knarren des Geländers unter
seiner dagegensinkenden Hilflosigkeit, fuhr sie zusammen, und ein banger
Schreck lähmte sie fast. Wenn jemand das hörte, wenn jemand das hörte!
Aber weiter, voran!

»Leise, Wölfchen, ganz leise!« Es klang wie eine Bitte und war doch ein
Befehl. Wie er sie vordem bezwungen hatte, mit seinem schweren Arm, so
zwang sie ihn jetzt mit ihrem Willen.

Alle im Hause mußten taub sein, daß sie diesen Lärm nicht hörten! Der
Frau klang jeder Tritt wie ein Donnergepolter, das sich im weiten Raum
mit Rollen fortsetzt und bis in den fernsten Winkel hallt. Paul mußte
auch taub sein! Sie kamen an seiner Tür vorüber; gerade am Schlafzimmer
der Eltern blieb der Trunkene stehen, er wollte durchaus nicht weiter –
da hinein – nicht einen Schritt mehr weiter! Sie mußte ihn locken, wie
sie einst das Kindchen gelockt hatte, das süße Kindchen mit den blanken
Beerenaugen, das vom Stühlchen aus noch weiter bis zum nächsten Halt
laufen sollte. »Komm, Wölfchen, komm!« Und sie brachte ihn glücklich
vorüber.

Nun waren sie endlich in seinem Zimmer. »Gott sei Dank, Gott sei Dank,«
stammelte sie, als sie ihn auf dem Bett hatte. Sie war so blaß wie er,
dessen blödes Gesicht immer fahler und fahler wurde im sich hellenden
Morgengrau. Hier – hier – ach, das war derselbe Raum, in dem sie einst
vor vielen Jahren – unendlich lange war’s her! – um des Kindes teures,
geliebtes Leben mit Angst und Zittern gerungen hatte, vor der Allmacht
Gottes gekrochen war wie ein Wurm: nur leben, Gott, laß ihn nur leben!
Ach, wäre er damals lieber gestorben!

Wie ein Pfeil, aus allzu straffem Bogen geschnellt, blitzschnell
dahinschwirrt, so durchschwirrte das ihren Sinn. Der Gedanke war ihr
schrecklich, sie verzieh ihn sich nicht, aber sie konnte sich seiner
nicht erwehren. Mit bebenden Knieen stand sie, entsetzt ob der eignen
Herzlosigkeit, und dachte doch: wäre er damals lieber gestorben, besser
wär’s gewesen! Hier – hier, das war dasselbe Zimmer noch, in dem sie
dem Heranwachsenden die Einsegnungskleider anprobiert hatte! Nun zog sie
dem Erwachsenen die Kleider aus; zerrte ihm den Smoking ab, die
eleganten Beinkleider – so gut es eben ging bei seiner nun völligen
Bewußtlosigkeit – und schnürte ihm die Lackschuhe auf.

Wo war er gewesen?! Ein Geruch von Zigaretten und Parfüm und
Weinneigendunst strömte von ihm aus; es benahm ihr fast den Atem. Da
hing derselbe Spiegel noch, in dem sie neben ihrem hellen weichen
Frauengesicht das bräunliche Knabengesicht gesehen hatte, frisch und
rundwangig, ein wenig derb, ein wenig trotzig, aber doch so hübsch in
seiner Kernigkeit, so lieb in seiner Unschuld. Und jetzt –?!

Ihr Blick streifte das fahle Gesicht, aus dessem offenem Munde der
dunstige Atem mit Schnarchen und Röcheln ging, und sah dann im Spiegel
ihr eignes verängstetes, überwachtes Antlitz, in dem alle Weichheit sich
verschärft hatte zu harten, vergrämten Linien. Ein Schauer durchrieselte
sie; mit ihrer kalten Hand strich sie sich die grauen, verwirrten
Strähnen aus der Stirn, ihre Augen zwinkerten, als wollte sie weinen.
Aber sie zwang die Tränen nieder: nun durfte sie nicht mehr weinen,
=die= Zeit war vorbei!

Sie stand noch eine Weile mitten im Zimmer, regungslos mit angehaltenem
Atem, die überanstrengten Arme schlaff herunterhängen lassend; dann
schlich sie auf Zehen zur Tür. Er schlief ganz fest. Von außen verschloß
sie die Tür und steckte den Schlüssel in ihre Tasche – niemand durfte
hinein!

Sollte sie sich nun noch zu Bette legen? Schlafen konnte sie ja doch
nicht – o Gott, die innere Unrast war so groß, – aber sie mußte sich
niederlegen, ja, sie mußte das, was sollten sonst die Mädchen denken und
Paul?! Mußte dann aufstehen wie alle Tage, sich waschen, ankleiden, am
Frühstückstisch sitzen, essen, sprechen, lächeln, wie alle Tage, als sei
nichts, gar nichts geschehen. Und doch war ihr so viel geschehen!

Sie fühlte eine trostlose Vereinsamung, als sie neben ihrem Mann im
Bette lag. Da war ja niemand, dem sie klagen konnte. Hatte Paul sie
schon früher nicht verstanden, jetzt würde er sie erst recht nicht
verstehen; er war ja so ganz anders geworden mit der Zeit. Und war er
nicht jetzt noch dazu blind vernarrt in den Jungen? Merkwürdig, früher,
als sie den Knaben so geliebt hatte, war’s immer zu viel der Liebe
gewesen – wie oft hatte er ihr deswegen Vorwürfe gemacht – und jetzt,
jetzt – nein, sie verstanden sich eben nicht mehr! Sie mußte allein
durch, ganz allein!

Als Käte die ersten Geräusche im Hause hörte, wäre sie gerne
aufgestanden, aber sie zwang sich noch, liegen zu bleiben: es würde den
Leuten auffallen, sie so früh zu sehen. Aber eine furchtbare Angst
quälte sie: wenn der Mensch – jener – dort drüben in seinem Rausch nun
aufwachte, Lärm schlug, an die verschlossene Tür polterte?! Was sollte
sie dann sagen, um ihn zu entschuldigen, was machen?! Fiebernd vor
Unruhe lag sie im Bett. Endlich war es ihre gewohnte Aufstehenszeit.

»Der Junge ist wohl schrecklich spät nach Hause gekommen,« fragte Paul
beim Frühstück. »Wohl vielmehr früh? Was?«

»O nein! Gleich nachdem du heraufgegangen warst!«

»So? Ich habe aber noch eine ganze Weile wach gelegen!«

Er hatte es leichthin gesagt, ohne jeden Argwohn, aber sie bekam doch
einen Schrecken. »Wir – wir – er hat mir noch eine ganze Weile
erzählt,« brachte sie stockend heraus.

»Töricht,« sagte er, weiter nichts und schüttelte den Kopf.

O, es war doch schwer, zu lügen! In welche Lage brachte Wolfgang
sie!

Als Schlieben zur Stadt gefahren war, die Köchin unten im Souterrain
wirtschaftete und Friedrich im Garten, belauerte Käte das Hausmädchen:
wie lange brauchte das denn heute im Schlafzimmer? Scharf sagte sie:
»Sie müssen rascher hier oben aufräumen, Sie sind ja über die Maßen
langsam!«

Ganz verwundert über den ungewohnten Ton sah die Dienerin ihre Herrin an
und sagte nachher unten zur Köchin: »Hu, ist die Gnäd’ge heute
schlechter Laune, hat die mich gehetzt!«

Käte hatte dabei gestanden, bis das Aufräumen des Schlafzimmers beendet
war, sie hatte das Mädchen förmlich gejagt. Nun war sie allein, ganz
allein mit ihm hier oben, nun konnte sie sehen, was mit ihm war!

Würde er noch betrunken sein?! Als sie vor seiner Türe stand, hielt sie
den Atem an; das Ohr geneigt, lauschte sie. Drinnen war nichts zu hören,
nicht einmal ein Atemzug. Wie ein Dieb, sich scheu umblickend, schloß
sie auf und schlich hinein, hinter sich wieder zuschließend. Vorsichtig,
leise trat sie auf das Bett zu; doch so hastig fuhr sie zurück, daß der
hochlehnige Stuhl, an den sie stieß, mit Gepolter umstürzte. Was war das
– da – was?!

Ein ekler Dunst, der die geschlossene Stube erfüllte, reizte sie zur
Übelkeit; zum Fenster taumelnd, riß sie es auf, stieß den Laden zurück
– da sah sie. Da lag er wie ein Tier – er, der sorgsam Gewöhnte, er,
der als Kind seine kleinen Hände ausgestreckt hatte, klebte nur ein
Krümchen daran: ›Sauber putzen!‹ und geweint hatte dabei. Jetzt lag er
da, als merkte er nichts, als ginge ihn das um ihn her nichts an, als
ruhte er in lauter Reinheit; hielt die Augen, deren kohlschwarze Wimpern
wie Schatten auf die bleichen Wangen fielen, fest geschlossen und
schlief den Schlaf bleischwerer Müdigkeit.

Sie wußte nicht, was sie tat. Sie hob die Hand, um ihn ins Gesicht zu
schlagen, ihm ein Wort zuzurufen, ein heftiges Wort des Ekels und
Abscheus; sie fühlte, wie ihr der Speichel im Munde zusammenlief, wie es
sie drängte, auszuspeien. Das war zu schrecklich, zu schmutzig, zu
entsetzlich!

Durchs offene Fenster drang ein Strom von Licht herein, von Licht und
Sonne; eine Amsel sang, voll und rein. Da war Sonne, da war Schönheit,
aber hier, hier –?! Wimmernd hätte sie ihr Antlitz verhüllen mögen,
davonlaufen und sich verbergen. Aber wer sollte dann hier tun, was zu
tun nötig war, wer Ordnung schaffen und Reinlichkeit?! Der umgestürzte
Stuhl, die hastig abgezogene Kleidung, der widrige Dunst – ach, all das
mahnte nur zu deutlich an eine wüste Nacht. Das durfte nicht so bleiben.
Und wenn sie ihn auch nicht mehr liebte – nein, nein, keine Stimme in
ihrem Herzen sprach mehr von Liebe! – der Stolz gebot ihr, sich nicht
vor den Dienstboten zu demütigen. Beiseite schaffen, niemanden etwas
davon merken lassen, rasch, rasch!

Die Zähne zusammenbeißend, den Ekel zurückdrängend, der ihr immer wieder
und wieder würgend aufstieg, fing Käte an, zu waschen, zu reiben, zu
putzen, holte sich immer wieder Wasser, den Krug voll, einen ganzen
Eimer voll. Heimlich mußte sie es tun, auf Zehen über den Gang
schleichen. O weh, wie das plätscherte, mit welchem Geräusch das Wasser
aus dem aufgedrehten Hahn in den untergehalten Eimer schoß! Daß nur
niemand, niemand etwas merkte!

Sie hatte ein Scheuertuch gefunden, und, was sie in ihrem Leben noch nie
getan hatte, nun tat sie’s: sie lag wie eine Magd auf den Knieen und
wischte den Boden ab und rutschte vor dem Bett herum, bis unters Bett,
und reckte die Arme lang und streckte und dehnte sich, um nur ja jeden
Winkel zu erreichen. Nichts durfte vergessen werden, alles mußte
überschwemmt werden mit frischem, reinem, erlösendem Wasser. Es kam ihr
alles im Raum beschmutzt vor – wie beleidigt und erniedrigt – die
Dielen, die Möbel, die Wände; am liebsten hätte sie auch die Tapeten
abgewaschen oder sie ganz heruntergerissen, diese schönen, tieffarbenen
Tapeten.

So hatte sie noch nie in ihrem Leben gearbeitet; der Schweiß der
Anstrengung und der Angst klebte ihr das elegante Morgenkleid mit dem
Seideneinsatz und den Spitzen an den Körper. An den Knieen zeigte der
Rock dunkle Flecke vom Rutschen im Naß, der Saum der Schleppe war tief
ins Wasser getunkt; unordentlich hingen ihre Haare, sie hatten sich
gelöst und zausten um das erhitzte Gesicht. Kein Mensch hätte so Frau
Schlieben erkannt.

Gott sei Dank, endlich! Mit einem Seufzer der Erleichterung sah Käte
sich um; eine andre Luft herrschte nun im Zimmer. Der frische Wind, der
hereinwehte, hatte alles geklärt. Nur er, er paßte noch nicht in die
Reinheit! Seine Stirn war voll klebrigen Schweißes, seine Wangen
erdfahl, seine Lippen geschwollen, geborsten, sein Haar borstig, sich
sträubend in Büscheln. Da wusch sie auch ihn, kühlte seine Stirn und
trocknete sie, rieb seine Wangen mit Seife und Schwamm, holte Bürste und
Kamm, kämmte und glättete sein Haupt, lief hurtig hinüber in ihr Zimmer,
brachte das Toilettenwasser von ihrem Tisch und ließ es über ihn
hinsprühen. Nun noch die Decke frisch bezogen! Mehr konnte sie nicht
tun, es ward ihr zu schwer, ihn zu heben. Denn er erwachte nicht. Wie
ein gefällter Baum – tot, starr, unbeweglich – lag er da und merkte
nichts von den zitternden Händen, die über ihn hinhuschten, zupften und
glätteten, bald hier, bald da.

Wie lange sie um ihn geschafft hatte, wußte sie nicht; ein Klopfen an
der Tür brachte sie in die Zeit zurück.

»Wer ist da?«

»Ich, der Friedrich!«

»Was wollen Sie?«

»Gnädige Frau, der Herr läßt zu Tisch bitten!«

»Zu Tisch – der Herr?!« Sie faßte sich an den Kopf: war’s möglich, Paul
schon zurück – Mittagszeit? Das konnte nicht sein! »Wieviel Uhr?«
schrie sie schrill. Selbst nach der Uhr zu sehen, die auf dem Nachttisch
lag, fiel ihr nicht ein; sie hätte es ja auch nicht gekonnt, die
kostbare goldene Uhr, das Geschenk zur Konfirmation, stand still, nicht
aufgezogen zur Zeit.

»Gnädige Frau, es ist halb drei,« sagte Friedrich draußen. Und dann
wagte es der langjährige Diener respektvoll zu fragen: »Ist der junge
Herr nicht wohl, daß er noch nicht aufgestanden ist? Kann ich vielleicht
was helfen, gnädige Frau?«

Einen Augenblick zauderte sie: sollte sie Friedrich einweihen? Es wäre
dann leichter für sie! Aber die Scham schrie aus ihr: »Es ist nichts zu
helfen, gehen Sie nur! Der junge Herr hat Migräne, er wird noch eine
Stunde liegen bleiben. Ich komme gleich!«

Und sie stürzte hinüber in ihr Zimmer; das Kleid zu wechseln war keine
Zeit mehr, aber wenigstens das heruntergefallene Haar mußte sie
aufstecken, den Scheitel glattstreichen und ein Häubchen darauf stülpen
mit zartem Band.

»Noch in Morgentoilette?« fragte verwundert Schlieben, als sie ins
Eßzimmer trat. Etwas von Vorwurf war auch in der Frage; er mochte es
nicht leiden, wenn man nicht korrekt zum Mittagstisch kam.

»Du kamst heute ausnahmsweise früh,« entschuldigte sie sich. Sie wagte
nicht, frei aufzusehen, unendlich gedemütigt; essen konnte sie auch
nicht, eine unleidliche Erinnerung verekelte ihr jeden Schluck und jeden
Bissen.

»Wo ist denn Wolfgang?«

Da war die Frage, auf die sie eigentlich hätte vorbereitet sein müssen
und die sie dennoch traf, gänzlich vernichtend. Sie hatte keine Abwehr.
Was sollte sie antworten? Sollte sie sagen: er ist krank?! Dann ging der
Vater hinauf und sah nach ihm. Sollte sie sagen: er ist betrunken und
schläft?! O Gott, nein, es war nicht zu verheimlichen! Sie wurde blaß
und rot, ihre Lippen zuckten und sagten nichts.

»Aha!« Schlieben lachte plötzlich auf – ein wenig gutmütig, ein wenig
spöttisch – und dann streckte er ihr die Hand über den Tisch hin und
sah sie ruhig an: »Du mußt dich nicht so aufregen, Käte, wenn der Junge
mal einen kleinen Kater hat. So was kommt vor, das macht jede Mutter
durch!«

»Aber nicht so schrecklich – nicht so schrecklich!« Sie schrie laut
heraus, von Schmerz und Zorn überwältigt. Und dann packte sie die Hand
ihres Mannes und klemmte sie zwischen ihre beiden feuchtkalten Hände und
raunte ihm zu, halb erstickt: »Er war betrunken – ganz betrunken –
sinnlos betrunken!«

»So –?!« Schlieben runzelte die Stirn, aber das Lächeln erstarb nicht
ganz auf seinen Lippen. »Nun, ich werde mal mit dem Jungen, wenn er
ausgeschlafen hat, ein Wörtchen reden. Sinnlos betrunken, sagst du?«

Sie nickte.

»Es wird wohl nur halb so schlimm gewesen sein! Aber überhaupt,
betrunken, das darf nicht vorkommen! Angeheitert, du lieber Gott!« Er
zuckte die Achseln, und wie eine sonnige Erinnerung glitt’s über sein
Gesicht. »Angeheitert – wer wäre jung gewesen und nicht einmal
angeheitert?! Ah, ich erinnere mich noch ganz deutlich an meinen ersten
Schwips, der Kater nachher war fürchterlich, aber der Schwips selber
schön, wunderbar schön! Ich möchte ihn nicht missen!«

»Du – du bist einmal angetrunken gewesen?!« Sie sah ihn starr an mit
weiten Augen.

»Angetrunken – das nennt man doch nicht gleich angetrunken!
Angeheitert,« verbesserte er. »Du mußt nicht so übertreiben, Käte!« Und
dann aß er weiter, als wäre nichts geschehen, als hätte ihm diese
Unterhaltung gar nicht den Appetit rauben können.

Sie fieberte: wann würde Wolfgang erwachen, und was würde dann sein?!

Gegen Abend hörte sie oben seinen Tritt, hörte ihn sein Fenster
schließen und wieder öffnen und sein leises Pfeifen wie Vogelgezwitscher.
Paul ging, seine Zigarre rauchend, im Garten auf und ab. Sie saß zum
ersten Mal in diesem Frühjahr auf der Veranda und sah zu ihrem Mann
hinunter in den Garten. Es war lind und warm. Jetzt fühlte sie, daß
Wolfgang nahte; sie wollte den Kopf nicht wenden, so schämte sie sich,
aber sie wendete ihn doch.

Da stand er in der Tür, die vom Eßzimmer hinaus in die Veranda führte;
hinter ihm war das Dämmerlicht des Parterreraumes, vor ihm die flutende
Helle der Abendsonne. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, rot war
sein Gesicht bestrahlt – oder schämte er sich so? Was würde er nun
sagen, wie beginnen? Ihr Herz klopfte; sie hätte kein Wort sprechen
können, ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»’n Abend,« sagte er laut und vergnügt. Und dann räusperte er sich, wie
eine leichte Verlegenheit herunterschluckend, und sagte leise, der
Mutter einen Schritt näher tretend: »Pardon, Mama, ich habe verschlafen,
ich hatte keine Ahnung, wie spät es war – ich war todmüde!«

Sie sagte noch immer nichts.

Er wußte nicht, wie er mit ihr daran war. Sie war so still, das beirrte
ihn ein wenig. »Ich bin gestern abend nämlich sehr spät nach Hause
gekommen!«

»So – bist du?« Sie wendete den Kopf von ihm weg und sah wieder
angelegentlich hinaus in den Garten, wo Paul jetzt gerade mit Friedrich
sprach und mit dem Finger zu einem schon blühenden Zierkirschenbaum
hinaufwies.

»Ich glaube wenigstens,« sagte er. Was sollte er sagen? War sie böse?!
In der Tat, er mußte wohl sehr spät nach Hause gekommen sein, um wieviel
Uhr konnte er sich nicht erinnern, er konnte sich überhaupt an nichts
klar erinnern, es war ihm alles etwas dunkel. Er hatte auch einen bösen
Traum gehabt, sich scheußlich gefühlt, aber jetzt war ihm wohl, so wohl!
Nun, wenn sie was gegen ihn hatte, konnte er ihr auch nicht helfen!

Die Lippen wieder zu einem leisen Pfeifen, wie Vogelzwitschern spitzend,
wollte er, die Hände in den Taschen seiner gutsitzenden modischen Hose,
von der Veranda herab in den Garten schreiten, als sie ihn zurückrief.

»Du wünschest, Mama?«

»Du warst betrunken,« sagte sie leise und heftig.

»Ich –?! Oh!« Eine plötzliche Verlegenheit überkam ihn: war er wirklich
betrunken gewesen? Er hatte keine Ahnung davon. Aber freilich, es konnte
am Ende sein, er hatte ja auch gar keine Ahnung, wie er nach Hause
gekommen war!

»Du hast wohl wieder aufgesessen und auf mich gewartet?!« Mißtrauisch
sah er sie von der Seite an, seine breite Stirn zog sich über der
Nasenwurzel in eine so tiefe Falte, daß die dunklen Brauen ganz
zusammenstießen. »Du mußt nicht immer auf mich warten,« sagte er dann
mit heimlicher Ungeduld, aber äußerlich im Ton der Besorgnis. »Das nimmt
mir ja jede Lust, etwas mitzumachen, wenn ich denke, du opferst deine
Nachtruhe. Bitte, Mama, tu das nicht mehr!«

»Ich werde es nicht mehr tun,« sagte sie und sah in ihren Schoß. Sie
hätte ihn nicht ansehen können, so verachtete sie ihn. Wie hatte er
dagestanden, so breit und groß und dreist und ganz vergnügt ›’n Abend‹
gesagt! Tat so, als ob er von nichts wüßte, nicht, daß er vor ein paar
Stunden noch hatte kriechen wollen auf allen Vieren, sich strecken auf
die Schwelle, als wäre da sein Bett oder er ein Hund! War so unbefangen,
als hätte er nicht heute mittag noch da oben in seinem Zimmer gelegen,
so – so – schmutzig! Als wenn sie ihn nicht gesehen hätte in seiner
tiefsten Erniedrigung. Nein, nie, nie mehr würde sie ihn küssen können,
ihn streicheln, die Arme um seinen Hals legen, wie sie’s dem Knaben so
gern getan hatte! Er war ihr auf einmal ein ganz fremder Mensch
geworden.

Sie sagte kein Wort mehr, machte ihm keinen Vorwurf. Teilnahmslos hörte
sie das, was jetzt ihr Mann unten im Garten zu ihm sprach.

So milde wie Schlieben diesen Mittag seiner Frau gegenüber geschienen
hatte, jetzt, dem Sohne gegenüber, war er es denn doch nicht. Ernsthaft
sagte er: »Ich höre, du bist angetrunken nach Hause gekommen – was soll
das heißen?! Schämst du dich nicht?«

»Wer hat das gesagt?«

»Das ist ja ganz gleichgültig, ich weiß es, und das genügt!«

»=Sie= natürlich,« sagte der Sohn bitter. »Mama übertreibt gleich alles
so. Betrunken bin ich sicher nicht gewesen, nur ein bißchen im Schwum –
das waren wir alle – Gott, Papa, man kann sich doch nicht ausschließen!
Was soll man denn auch sonst machen an so ’nem langen Abend?! Aber
schlimm war’s jedenfalls nicht. Ich bin ja jetzt so frisch!« Und er
packte den Zierkirschenbaum, unter dem sie gerade standen, mit beiden
Händen, als wolle er ihn ausreißen, und ein ganzer Schauer von weißen
Blüten ging nieder über ihn und den Weg.

»Laß meinen Baum nur stehen,« sprach der Vater lächelnd.

Käte sah: Paul konnte lachen?! Also so ernst war’s ihm doch nicht! Aber
sie erregte sich nicht mehr, wie sie sich wohl früher hierüber erregt
haben würde, es war ihr, als sei alles in ihr kalt und tot. Sie hörte
die beiden sprechen wie aus weiter, weiter Ferne, ganz schwach nur war
der Stimmen Klang, und doch sprachen sie beide laut und auch lebhaft.

Die Unterhaltung war nicht so ganz freundschaftlich; wenn Schlieben dem
Jungen auch nicht ernstlich zürnte, so hielt er es doch für Pflicht, ihm
Vorhaltungen zu machen. Er schloß: »Ekelhaft sind solche Saufereien!« Im
stillen dachte er freilich: ›so schlimm, wie Käte es macht, kann es
unmöglich gewesen sein, man müßte doch sonst dem Jungen etwas anmerken!‹
Seine bräunlichen Wangen waren glatt und fest, so blank, so frisch
gewaschen, seine nicht großen, aber durch ihre dunkle Tiefe auffallenden
Augen hatten heute sogar einen besonderen Glanz.

Schlieben legte dem Sohne die Hand auf die Schulter: »Also, wenn wir
gute Freunde bleiben sollen, nie mehr so etwas, Wolfgang!«

Sorglos zuckte dieser die Achseln: »Ich weiß wirklich nicht, Papa, was
ich verbrochen habe. Es ist mir alles etwas schleierhaft. Aber es soll
nicht mehr vorkommen, gewiß nicht!«

Und sie schüttelten sich die Hände.

Nun rührte sich doch etwas in Käte; sie hätte aufspringen mögen,
schreien: ›Glaub ihm nicht, Paul, glaub ihm nicht! Er wird sich doch
wieder betrinken, ich traue ihm nicht! Ich kann ihm ja nicht trauen!
Hättest du ihn gesehen, wie ich ihn gesehen habe – o, er war ja so
gemein!‹ Und wie eine Vision tauchte plötzlich eine Bauernschenke vor
ihr auf, eine Schenke, die sie nicht gesehen hatte – rohe Kerle saßen
um den Holztisch, die Ellbogen aufgestemmt, pafften stinkenden Tabak von
sich, tranken wüst, gröhlten wüst – – ah, saßen da nicht sein Vater,
sein Großvater auch darunter, alle die, von denen er abstammte?! Eine
furchtbare Angst fiel über sie her: das konnte ja nie, nie gut enden!

»Du bist so bleich, Käte,« sagte Schlieben beim Abendbrot. »Du hast zu
lange stillgesessen; es ist doch noch zu kalt draußen!«

»Ist dir nicht wohl, Mama?« fragte Wolfgang höflich-besorgt.

Käte antwortete dem Sohn nicht, sie sah nur zu ihrem Manne hin und
schüttelte verneinend-abwehrend den Kopf: »Mir ist ganz wohl!«

Da gaben sie sich zufrieden.

Wolfgang aß mit gutem Appetit, mit besonders großem sogar; er war völlig
ausgehungert. Es gab auch lauter gute Sachen, die er gern aß: warmes
Hühnerfrikassee mit Kalbsmilch, Klößchen und Krebsschwänzen, und dann
noch feinen Aufschnitt, Butter und Käse und junge Radieschen.

»Junge, trink nicht so viel,« sagte Schlieben, als Wolfgang schon wieder
nach der Weinflasche griff.

»Ich habe Durst,« sagte der Sohn mit einem gewissen Trotz, schenkte sein
Glas aufs neue voll bis an den Rand und goß es hinunter auf einen
Zug.

»Das kommt vom Schwärmen!« Der Vater hob leicht drohend den Finger,
lächelte aber dabei.

›Vom Saufen kommt’s‹ dachte Käte, und der Ekel schüttelte sie wieder;
sie hatte sonst, selbst in Gedanken, nie einen solchen Ausdruck
gebraucht, nun dünkte ihr keiner stark, schroff, verächtlich genug.

Es kam keine gemütliche Unterhaltung zustande, trotzdem das Zimmer so
wohnlich war, der Tisch so reich besetzt, Blumen auf dem weißen Tuch,
zierlich eingesteckt in eine kristallene Schale, und über dem allen
mildes, gedämpftes Licht unter einem grünseidenen Schirm. Käte war so
einsilbig, daß Paul bald nach der Zeitung griff, der Sohn verstohlen
durch die Nase gähnte und endlich aufstand. Das war denn doch zu
gräßlich öde, hierzusitzen! Ob er noch einmal nach Berlin hineinfuhr
oder zu Bette ging?! Er wußte selbst nicht recht, was tun.

»Du gehst jetzt zu Bett?!« Es sollte wie eine Frage klingen, aber Käte
hörte selber, daß es nicht wie eine Frage klang.

»Natürlich geht er jetzt zu Bett,« sagte der Vater, einen Augenblick den
Kopf hinter seiner Zeitung hervorhebend. »Er ist müde. Gute Nacht, mein
Junge!«

»Ich bin nicht müde!« Wolfgang wurde rot und heiß: was fiel ihnen denn
ein, ihm einreden zu wollen, er sei müde?! Er war doch kein Kind mehr,
das man zu Bette schickt! Besonders der Mutter Ton reizte ihn – ›du
gehst jetzt zu Bett‹ – das war ja ein Befehl!

In seinen dunklen Augen wurde der Glanz zum Flackern; ein Zug von Trotz
und Widersetzlichkeit machte sein Gesicht nicht angenehm. Man hätte wohl
sehen können, wie es in ihm aufbrauste, aber der Vater sagte: »Gute
Nacht,« und hielt ihm, mit seiner Zeitung vorm Gesicht, ohne
aufzublicken, die Hand hin.

Die Mutter sagte auch: »Gute Nacht!«

Und der Sohn ergriff eine Hand nach der andern – auf der Mutter Hand
drückte er den gewohnten Kuß – und sagte: »Gute Nacht!«




2


Schlieben saß in seinem Privatkontor in dem roten Lederstuhl, den er
sich zur Bequemlichkeit hatte hier hineinstellen lassen, lehnte sich
aber nicht an, sondern saß ungemütlich, gerade aufgerichtet, und sah aus
wie einer, der eine unliebsame Entdeckung gemacht hat. Wie konnte das
zugehen, daß der Junge Schulden gemacht hatte?! Bei so reichlichem
Taschengeld?! Und dann, daß er nicht das Herz hatte, zu kommen und zu
sprechen: ›Du, Vater, ich habe zu viel ausgegeben, hilf mir heraus –,‹
das war einfach unfaßlich! War er denn ein so strenger Vater, daß der
Sohn sich vor ihm fürchten mußte? Trieb die Furcht die Liebe aus?! Er
ging sein eigenes Verhalten durch; er konnte sich wirklich nicht den
Vorwurf machen, zu streng gewesen zu sein. Wenn er auch nicht alle Zeit
so nachgiebig gewesen war – zu nachgiebig – wie Käte, so hatte doch
auch er dem Jungen immer und immer wieder zu zeigen geglaubt, daß er ihn
lieb hatte. Und hatte er denn nicht auch – gerade in letzter Zeit –
geglaubt, der Junge hätte auch ihn lieb? Lieber als früher?! Wolfgang
war eben zu Verstand gekommen, hatte eingesehen, wie gut man’s mit ihm
meinte, daß er seiner Eltern lieber Sohn war, ihre wachsende Freude,
ihre Hoffnung – ja, nun, da man alt geworden war, die ganze Zukunft!
Wie kam’s, daß er lieber zu andern ging, zu Leuten, die ihn gar nichts
angingen, und sich von denen borgte, anstatt den Vater zu bitten?!

Mit Betrübnis nahm Schlieben einen Brief von seinem Schreibtisch, las
ihn, den er doch schon drei-, viermal gelesen hatte, noch einmal durch
und legte ihn dann mit einer ärgerlichen Gebärde wieder zurück. Da
schrieb ihm Braumüller, der kürzlich aus der Firma ausgetreten war und
sich zur Erholung und zum Vergnügen in der Schweiz befand, der Junge
hätte ihn schon wieder mal angepumpt. Nicht, daß er’s ihm nicht gerne
geben würde, es käme ihm ja gar nicht darauf an, aber er hielte es doch
für seine Pflicht – und so weiter, und so weiter.

›Es kann nicht anders sein, lieber Schlieben, der Junge lumpt. Es ist
mir höchst fatal, ihn zu verpetzen, aber ich kann doch nicht länger
warten, denn so gut wie er zu mir kommt, geht er auch zu andern. Und es
wäre doch höchst peinlich, wenn der Sohn der Firma Schlieben & Co., zu
der ich mich immer noch in alter Anhänglichkeit rechne, etwa gar in der
Leute Mäuler käme. Nimm’s nicht übel, alter Freund! Was der Junge mir
schuldet, schenke ich ihm; ich mag ihn gern und bin auch mal jung
gewesen. Im übrigen bin ich ganz froh, daß ich keine Kinder habe, es ist
doch ein verdammt schweres Stück, eins zu erziehen. Leb wohl, grüße
Deine Frau vielmals, es ist herrlich hier – – –‹

Mit gerunzelter Stirn starrte Schlieben über das Papier hinweg; dieser
Brief, der so gut gemeint, so herzlich geschrieben war, tat ihm weh. Daß
Wolfgang hierin so wenig Vertrauen zu ihm hatte! War er überhaupt nicht
offen?! Schlieben erinnerte sich genau, daß Wolfgang als Kind immer wahr
gewesen war, gerade heraus bis zur verletzenden Offenheit – ungezogen
war er gewesen, aber nicht verlogen –, sollte er sich jetzt so
verändert haben? Wie kam das, und woher?!

Der Vater beschloß, nichts von dem Brief zu erwähnen, wohl aber Wolfgang
scheinbar gelegentlich – aber sobald als möglich – zu fragen, wie es
denn eigentlich mit seinen Finanzen stünde? Da würde er ja hören!

Es drängte ihn förmlich zu dieser Frage, und doch brachte er sie nicht
über die Lippen, als bald darauf Wolfgang ins Privatkontor trat, ohne
vorher anzuklopfen, wie sie’s doch alle taten, mit der ganzen
unbekümmerten Sicherheit des Sohnes. Er setzte sich rittlings auf das
Schreibpult des Vaters, ganz achtlos, daß sein helles Beinkleid mit dem
Tintenfaß in unliebsame Berührung kam. Draußen war helle Luft und eine
höchst sommerliche Sonne; er brachte eine ganze Menge davon mit herein
in den dunkel gehaltenen, kühlen und abgeschlossenen Raum.

»Ärger gehabt, Papa?!« Was der alte Herr wohl wieder für Grillen hatte?
O, sicher nichts von Belang! Wie konnte man jetzt überhaupt Ärger haben
in dieser köstlichen, wohligen Sommerzeit?!

Wolfgang liebte die Sonne; wie er sie als Kind angestaunt hatte in ihrem
kleinen Abbild, der runden gelben Sonnenblume seines Gärtchens, so
freute er sich noch jetzt an ihr. Perlte der Schweiß in Tropfen auf
seiner braunen Haut, dann schob er wohl den weißen Panamahut ein wenig
aus der Stirn zurück, aber nie ging sein Atem freier, leichter,
unbeklemmter.

»Es war herrlich, Papa,« sagte er, und seine Augen leuchteten. »Erst
geschwommen – was sagst du dazu, dreimal hintereinander die ganze
Breite des Sees, ohne Pause hin und her, und wieder hin und her und
wieder hin und her?!«

»Viel zu anstrengend, ganz unvernünftig!« Schlieben sagte es nicht ohne
Besorgnis: Hofmann war eigentlich gar nicht sehr dafür, daß der Junge
schwamm!

»Unvernünftig, anstrengend?! Haha!« Wolfgang amüsierte sich. »Das ist
mir doch ’ne Kleinigkeit! Weißt du, eigentlich habe ich meinen Beruf
verfehlt, du hättest mich nicht ins Kontor stecken sollen. Schwimmer,
Reiter hätte ich werden sollen oder – na, so ’n Cowboy im wilden
West!«

Er hatte es scherzend gesagt, ohne jede Absichtlichkeit, aber es wollte
den Mann, der ihn mit plötzlich mißtrauisch gewordenen Augen ansah,
bedünken, als berge sich hinter dem Scherz ein Ernst, eine Anklage. Was
wollte er denn, wollte er wie ein zügelloser Knabe ins Leben
hineingaloppieren?!

»Nun, deine sportlichen Fähigkeiten werden dir ja schon zustatten
kommen, wenn du deine Militärzeit abmachst,« sagte er kühl.
»Vorderhand ist das wichtiger, was du hier zu tun hast. Hast du
den Lieferungsvertrag für Weiß Gebrüder entworfen? Zeig mal her!«

»Sofort!«

Wolfgang verschwand; aber es dauerte eine ganze Weile, bis er wiederkam.
Hatte er jetzt erst rasch die ihm als dringend überwiesene und
sorgfältig auszuführende Arbeit erledigt?! Die Tinte war noch ganz
frisch, die Schrift, wenn auch leserlich, so doch sehr flüchtig; keine
Kaufmannsschrift! Schlieben runzelte die Stirn, er war heute merkwürdig
gereizt. Zu andrer Zeit hätte ihm die Geschwindigkeit, mit der der Junge
die verabsäumte Arbeit nachgeholt hatte, gewissermaßen imponiert; aber
heute ärgerte ihn die Flüchtigkeit der Schrift, die Tintenspritzer am
Rand, die ganze Nachlässigkeit, die ihm gleichbedeutend schien mit
Interesselosigkeit.

»So, hm« – er prüfte noch einmal kritisch –, »wann hast du denn das
gemacht?«

»Als du mir’s auftrugst!« Wolfgang sagte das so unverfroren, daß man
unmöglich daran zweifeln konnte.

Schlieben schämte sich ordentlich: wie doch so ein Körnchen Mißtrauen
gleich aufgeht! Da hatte er dem Sohn wirklich unrecht getan! Aber das
mit dem Gelde, das blieb doch nun einmal bestehen, darin war der Junge
doch nicht offen und ehrlich gewesen! Es war dem Vater, als könne er dem
Sohne von jetzt ab doch nicht mehr ganz trauen. –

Es war kaum Mittag, als Wolfgang schon wieder das Kontor verließ. Er
hatte sich mit ein paar Bekannten verabredet, im Kaiserkeller unweit der
Linden; ob er nun da frühstückte oder da, frühstücken mußte er doch; nur
ein belegtes Brötchen, wie der Vater sich eins mitnahm, konnte ihm nach
Schwimmen und Reiten nicht genügen.

Am Nachmittag zeigte er sich dann wieder eine Stunde im Bureau, aber
schon im Tennisanzug, in den weißen Schuhen, den Schläger in der
Hand.

Als Wolfgang heute den Sportplatz des Westens verließ, erhitzt und rot
– sie hatten lange und hartnäckig gespielt –, um herüber nach dem
Bahnhof ›Zoologischer Garten‹ zu gehen, stand er, schon im Eingang,
zögernd. Es trieb ihn so gar nicht nach Hause. Sollte er nicht lieber
noch einmal hinein in die Stadt fahren? Eigentlich lockte es ihn jetzt
nicht in die Straßen, die die treibende Menge mit noch größerer
Stickigkeit erfüllte, draußen war’s besser, da strich über die Villa
wenigstens ein Hauch von Freiheit, aber er mußte dann mit den Eltern
zusammensitzen! Na, wenn der Vater heute abend wieder so schlechter
Laune war, wie heute morgen im Kontor, dann war’s gräßlich! Dann war es
doch besser, sich in Berlin irgendwo Gesellschaft zu suchen. Wenn nur
der Tennisanzug nicht wäre! Der hinderte. Unschlüssig stand er noch, da
sah er im Gewühl der Menge, die jetzt nach Geschäftsschluß und
Feierabend wie ein langer eilender Wurm sich durch den Bahnhofseingang
schlängelte, und sich rechts und links die Treppen hinan spaltete, unter
einem in die Stirn gerückten weißen Matrosenhütchen mit blauem Samtband
ein blondes Haar aufleuchten, das ihm bekannt vorkam. Es war ein
schönes, helles, seidiges Haar, glatt und glänzend; anscheinend lässig,
aber doch mit vieler Sorgfalt in einen mächtigen Knoten gedreht. Und nun
erkannte er unterm Strohhütchen die blauen Augen und das kecke Näschen.
Frida Lämke! Ah, wie lange hatte er die nicht gesehen! Hundert
Versäumnisse fielen ihm ein. Wie wenig mehr hatte er sich um die guten
Leute gekümmert! Das war recht schlecht! Und auf einmal war ihm, als
hätte er sie immer, alle die Zeit her vermißt. Mit einem Satz, wie ein
ungestümer Junge, nicht achtend, daß er hier auf ein Kleid trat und da
einen in die Seite rempelte, war er neben ihr.

»Frida!«

Sie fuhr ein wenig zusammen: wer redete sie denn so dreist an?!

»Tag, Frida! Wie geht’s dir?!«

Sie erkannte ihn erst nicht, aber dann errötete sie und spitzte den
Mund. Was war der Wolfgang für ein Herr geworden! Und sie antwortete,
ein bißchen schnippisch, ein bißchen geziert: »Jut! Jeht’s Ihnen auch
jut?« lachte und warf den blonden Kopf in den Nacken.

Er wollte nichts davon hören, daß sie ›Sie‹ zu ihm sagte. »Unsinn,
Frida, was fällt dir ein?!« Und war so herzlich, so ganz wieder der
Wolfgang von früher, daß sie sich rasch in ihn hineinfand. Sie ließ ihre
Ziererei ganz fahren. Als wäre nicht fast ein Jahr vergangen, seit sie
zuletzt miteinander gesprochen hatten, so gingen sie vertraulich
nebeneinander her.

›Ein junges Liebespärchen,‹ dachte manch einer, der sie streifte, als
sie an den Büschen des Tiergartens entlang schlenderten. Sie hatten
ihren Zug fahren lassen, er hatte so wie so keine Eile nach Hause, und
so gingen sie immer tiefer hinein in das grüne, schon nächtliche Dunkel,
in dem selbst sein heller Tennisanzug und ihre helle Bluse unkenntlich
verschwammen. Die Nachtigallen waren längst verstummt; man hörte ab und
zu nur leises Mädchenauflachen wie ein Girren und gedämpftes Flüstern
von Pärchen, die man nicht sah. Auf den Bänken, die im Dunkel standen,
raunte es, es raschelten Sommerkleider, es leuchteten wie Glühwürmchen
brennende Zigarren auf, alle Sitze, auf die man zutappte, waren besetzt;
es war unendlich schwül im Park.

Wolfgang und Frida sprachen von Frau Lämke. »Sie ist immer krank, hat
schon so viel gedoktert,« sagte das Mädchen, und dabei bebte eine
aufrichtige Betrübnis in seinem Ton. Es tat Wolfgang sehr leid. –

Als Frida heute abend ganz außergewöhnlich spät heimkehrte – das Haus
war längst geschlossen, Frau Lämke hatte sich schon geängstigt und wußte
nicht, wie sie die Bratkartoffeln warm halten sollte – fiel sie der
Mutter um den Hals: »Mutter, Mutterken, zanke nicht!« Und dann sprudelte
sie heraus, daß sie dem Wolfgang begegnet wäre: »Wolfjang Schlieben, du
weißt doch! Der war so nett – nee, Mutter, du kannst dir jar nich
denken, wie nett er war! Nich ’n bißchen stolz! Und er fragte jleich
nach dir, und als ich ihm sagte, du hättest’s mit’n Magen und mit’n
Nerven, da tat ihm das so leid. Und er sagte: Mutter muß mal ’raus in
der schönen Sommerszeit, und jab mir den Schein, hier, siehste, ’nen
grünen Schein – ich wollt ihn durchaus nich nehmen, was soll’n denn
wohl die Leute von denken?! – aber er jing so mit Jewalt, er hatt’n mir
in die Hand jestopft, ich hätte schreien können, so hat er mir die
Finger auseinander jebogen – biste böse, Mutter, daß ich ihn jenommen
habe? Ich wollte nich, ich wollte wahrhaftig nich! Aber er sagte: ›Es
ist doch für deine Mutter!‹ Und, ›sei doch vernünftig, Frida!‹« Frida
weinte fast vor dankbarer Rührung.

Frau Lämke nahm’s ruhiger: »Nu wer ich vielleicht nach Eberswalde fahren
bei meinen Bruder oder an Ende bei meine Schwester ins Riesenjebirge! Un
ich jebe für’n paar Wochen de Reinemachstellen uf, det wird mir riesig
jut tun. Der jute Junge, das ’s scheen von ihn, daß er an seine alte
Freundin denkt – na, er kann’s ja ooch, was sind fufzig Mark für so
eenen?!« –

Wolfgang war, als er Frida bis an ihre Haustür gebracht hatte, langsam
weitergeschlendert, den Tennisschläger unterm Arm, die Hände in den
Taschen der weiten Hosen. Über ihm spannte sich ein reichgestirnter
Nachthimmel, unendlich freundlich blinkten goldene Augen zu ihm nieder;
alles Räderrollen war verstummt, keine Spaziergänger in großen Trupps
wirbelten mehr den Staub der Straße auf. Was die hin und wieder
rollenden Sprengwagen des Tages nicht vermocht hatten, das hatte jetzt
der Tau der Nacht getan. Der lose Sand war gelöscht, eine kühlende
Frische stieg vom Boden auf, Bäume und Büsche dufteten nach Grün; von
Gartenbeeten, im Dunkel versunken, stiegen Blumengerüche auf. Wolfgang
atmete mit Wohlgefühl, leise pfiff er; eine friedvolle Freudigkeit war
in ihm: nun war es doch gut, daß er sich nicht mehr in Berlin
umhertrieb! Es war so nett gewesen mit Frida, wie gut hatte er sich mit
ihr unterhalten – und dann – es machte ihm wirklich ein riesiges
Vergnügen, Mutter Lämke ein wenig unter die Arme greifen zu können!

So recht im Innersten vergnügt kam er zu Hause an.

»Die Herrschaften haben längst abgegessen,« erlaubte sich Friedrich mit
einem gewissen Vorwurf zu bemerken – der junge Herr war denn doch gar
zu unpünktlich!

»Na, wenn schon,« sagte Wolfgang. »Sagen Sie der Köchin, sie soll mir
rasch noch was machen, ein Kotelett oder Beefsteak, oder was gab’s denn
sonst heute abend? Ich habe ’nen Mordshunger!«

Friedrich sah ihn ganz verdutzt an: jetzt noch, um halb elf noch? Das
war doch Herrn Schlieben oder der gnädigen Frau noch nie eingefallen, so
etwas zu verlangen – warmes Abendbrot noch, um halb elf Uhr?! Er stand
zögernd.

»Na, wird’s bald,« sagte der junge Herr über die Schulter weg und ging
ins Eßzimmer hinein.

Da saßen die Eltern – beide lasen – noch am Tisch, aber der Tisch war
leer.

»Guten Abend,« sagte der Sohn, »schon abgedeckt?!« Aus seinem Ton klang
laut die Verwunderung.

»Na, da bist du ja!« Der Vater nickte ihm zu, aber sah dabei nicht auf,
er schien von seiner Lektüre ganz in Anspruch genommen. Und die Mutter
sprach: »Setzt du dich noch ein wenig zu uns?«

Dem jungen Menschen fröstelte auf einmal. Draußen war’s wohlig warm
gewesen, hier innen kühl.

Und dann war es eine Weile ganz still, bis Friedrich mit einem Tablett
hereinkam, auf dem, neben dem Gedeck, nur ein wenig kaltes Fleisch,
Brot, Butter und Käse zu sehen waren. Es fiel Wolfgang auf, wie laut er
klapperte; für gewöhnlich servierte das Hausmädchen. »Wo ist denn
Marie?«

»Zu Bett!« sagte die Mutter kurz.

»Schon?!« Wolfgang wunderte sich im stillen darüber. Horch, da schlug
eben drüben die Pendüle in Mutters Zimmer – elf?! Wirklich schon elf
Uhr?! Da konnten sie aber machen, daß er etwas zu essen kriegte, der
Magen schrumpfte ihm ja ordentlich zusammen vor Hunger! Er sah
unverwandt nach der Tür, durch die Friedrich wieder verschwunden war:
gab’s nun bald was?!

Er wartete.

»So iß doch!« Die Mutter rückte ihm das Schüsselchen mit kaltem Fleisch
näher.

»Warum ißt du denn nicht?« fragte der Vater plötzlich.

»O, ich warte ja noch!«

»Es gibt nichts andres mehr,« sagte die Mutter, und ihr Gesicht, das
unendlich abgespannt aussah, wie das eines Menschen, der lange und
vergeblich gewartet hat, rötete sich schwach.

»Nichts andres – nichts mehr – wieso denn?!« Der Sohn sah
außerordentlich enttäuscht drein, sah von der Mutter auf den Tisch, aufs
Büfett und dann wie suchend im Zimmer umher.

»Habt ihr denn nichts andres gegessen?!«

»Ja, wir haben andres gegessen – aber wenn du nicht kommst!« Der Vater
runzelte die Stirn, und nun sah er zum ersten Mal heute abend den Sohn
voll an und maß ihn mit einem ernsthaften Blicke. »Du kannst doch
unmöglich verlangen, wenn du so unpünktlich nach Hause kommst, noch
warmes Abendbrot zu finden?«

»Aber ihr – ihr braucht ja doch deswegen nicht« – der junge Mensch
verschluckte den Rest – es wäre ihm ja viel lieber, die Eltern säßen
nicht da und warteten auf ihn, die Dienstboten würden schon ihre
Schuldigkeit tun!

»Meinst du vielleicht, die Dienstboten brauchen keine Nachtruhe?« fragte
der Vater, als hätte er diese Gedanken erraten. »Die Mädchen, die den
ganzen Tag in der Küche gesteckt haben, wollen abends auch Schluß
machen. Darum mußt du schon früher kommen, wenn du mit uns essen willst.
Im übrigen wird es einem jungen Menschen wohl nichts schaden, wenn er
abends mal mit einem Butterbrot vorlieb nimmt. Übrigens du, der du« –
er hatte eigentlich sagen wollen: ›Du, der du so gut zum Mittag issest‹
–, aber nun reizte ihn die Miene des jungen Menschen, in der so viel
maßloses Staunen lag, und er sprach laut, ganz gegen seine Gewohnheit
heftig, heftiger, als er’s je im Sinn gehabt hatte: »Du – bist du etwa
berechtigt, solche Ansprüche zu machen? Wie kommst du dazu, gerade du?!«
Eine Bewegung Kätes, ein Rauschen ihres Kleides erinnerten ihn an ihre
Gegenwart, und er fuhr gemäßigter fort, aber mit einem gewissen
ärgerlichen Hohn: »Leistest du etwa so viel? Zwei Stunden vormittags im
Kontor – knapp –, nachmittags eine Stunde – ja, das ist eine
erstaunliche, eine kolossale Tätigkeit, die große Ansprüche an deine
Kräfte stellt! Eine ganz besondere Verpflegung erheischt, in der Tat!
Nun, was denn, was?!«

Wolfgang hatte etwas sagen wollen, aber der Vater ließ ihn nicht zu
Worte kommen: »Setze erst eine bescheidene Miene auf, und dann rede!
Junge, ich sage dir, wenn du Braumüller noch einmal um Geld angehst!«

Da, da war es heraus! All das diplomatische Fragen und Aushorchenwollen
war im Ärger vergessen. Schlieben fühlte sich förmlich erleichtert, nun
er sagen konnte: »Das ist ja eine unerhörte Sache! Es ist eine Schmach
für dich und – für mich!« Die erregte Stimme war leiser geworden, bei
den letzten Worten erstickte sie in einem Seufzer. Der Mann stützte den
Arm auf den Tisch und den Kopf in die Hand; man sah es ihm an, wie nah
es ihm ging.

Käte saß stumm und blaß. Ihre Augen öffneten sich schreckhaft weit –
also das, das hatte er getan, sich Geld geborgt?! Auch das?! Nicht
allein, daß er sich betrank, sinnlos betrank – auch das, auch das?! Es
konnte ja gar nicht sein – nein! Flehend suchte ihr Blick Wolfgangs
Gesicht: er mußte ja verneinen!

»Aber, Papa,« sagte Wolfgang und versuchte zu lächeln, »ich weiß
wirklich nicht, wie du mir vorkommst! Ich habe deinen Sozius, der mir’s
übrigens mal selber angeboten hat, der mir überhaupt sehr
entgegengekommen ist, um ’ne kleine Gefälligkeit gebeten. Ich wollte es
ihm gerade wieder schicken –,« er lugte von der Seite den Vater an:
wußte der, wieviel? – »morgen schicke ich es ihm!«

»So, morgen!« Es lag Mißtrauen in Schliebens Ton, aber doch eine gewisse
Beruhigung, er wollte ja so gern das Beste von seinem Jungen annehmen.
»Was hast du noch für Schulden?« fragte er. Und dann kam plötzlich die
Furcht über ihn, daß dieser junge Mensch da ihn hinterginge, und in der
Angst vor einer Riesenverantwortlichkeit, die er sich auferlegt hatte,
sagte er härter, als es eigentlich seine Absicht war, viel härter, als
es sich mit seinem Herzen vertrug: »Ich würde dich züchtigen wie einen
nichtsnutzigen Buben, wenn ich’s erführe! Meine Hand von dir abziehen –
sieh, wie du fertig wirst! Pfui, Schulden, ein Schuldenmacher!«

Käte sah immerfort ihren Mann an, so hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie
wollte rufen, ihn unterbrechen: ›Du bist so streng, viel zu streng, so
schneidest du ihm ja jedes Geständnis ab!‹ – aber sie brachte nichts
heraus. Sie verstummte unter der Last der Befürchtungen, die über sie
her stürzten. Voll verzehrender Unruhe hingen ihre Blicke an dem jungen
Gesicht, das bleich geworden war.

Wolfgangs Lippen zuckten, es arbeitete in ihm. Er hatte sprechen wollen,
schon angesetzt dazu, es eingestehen, daß er mehr verbraucht, als er
gehabt hatte. Wäre der Vater nur nicht immer so riesig korrekt! Liebe
Zeit, es ist eben nicht zu vermeiden, daß man die Hände voll Geld aus
den Taschen zieht, wenn man’s dazu hat! Hier denen, denen sagte er nur
zu ungern davon! Sie waren ja im Grunde gute Leute, aber sie hatten eben
gar keine Ahnung! Gute Leute –? Nein, das waren sie denn doch nicht!

Nun kam die Empörung. Wie konnte der Vater sich’s einfallen lassen, ihn
so anzufahren, ihn abzukanzeln in solchem Tone? Wie einen Verbrecher!
Und sie, warum starrte sie ihn denn so an mit Blicken, in denen er etwas
wie Verachtung zu lesen glaubte?! Nun, so wollte er sie denn doch noch
mehr entsetzen, ihnen ins Gesicht schleudern: ›Natürlich hab ich
Schulden, was ist denn dabei?!‹ Aber mitten in der Hitze kam ihm die
kühle Berechnung: wie hatte der Vater gesagt? – ›ich würde die Hand von
dir abziehen‹ –?!

Wolfgang bekam auf einmal einen großen Schrecken: den hier brauchte er,
den hier konnte er doch nicht entbehren! Und so raffte er sich denn auf
in schnellem Umschwung: nur nichts eingestehen, nur sich nicht verraten!
Er sagte, vom trotzigen Aufbrausen hinübergleitend zur glatten Kühle:
»Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Papa! Ich habe ja keine!«

»Wirklich keine?« Ernst fragend sah ihn der Vater an, aber aus dem Ernst
leuchtete schon die frohe Hoffnung.

Und als der Sohn erwiderte: »Nein!« da streckte er ihm die Hand über den
Tisch hin: »Das freut mich!«

Sie waren diesen Abend sehr nett gegen ihn. Wolfgang empfand es mit
Genugtuung: nun ja, sie hatten ihm ja auch was abzubitten! Er ließ sich
verwöhnen.

Der Vater war froh, förmlich erleichtert, daß nicht noch andres,
Schlimmeres zutage gekommen war, und die Mutter hatte, zum ersten Mal
seit langen Wochen, die Empfindung, als könne sie den jungen Menschen da
doch wieder lieb haben. Ihre Stimme hatte, wenn sie zum Sohne sprach,
wieder etwas von dem alten Klang. Und sie sprach viel zu ihm, es war ihr
ein Bedürfnis. In all den Wochen hatte sie nicht so viel mit ihm
gesprochen. Jetzt war ihr, als wäre ein Quell in ihr zugemauert gewesen,
als müsse sich der jetzt ergießen. Er hatte keine Schulden gemacht! Gott
sei Dank, er war doch nicht ganz so schlimm! Jetzt tat es ihr leid, daß
sie, verdrossen über sein zu spätes Nachhausekommen – Umhertreiben
hatte sie’s bei sich genannt –, die Dienstmädchen zu Bett geschickt und
kein ordentliches Abendbrot mehr für ihn hatte. Hätte sie sich nicht vor
ihrem Mann gescheut, so wäre sie hinab in die Küche gegangen, hätte
selber versucht, ihm noch etwas Besseres herzurichten.

»Bist du auch satt geworden?« fragte sie ihn leise.

»Na, es geht!« Er fühlte sein Übergewicht.

Schlieben legte heute seine Zeitung beiseite. Auf das höfliche »Willst
du nicht lesen?« des Sohnes schüttelte er abwehrend den Kopf: »Nein, ich
habe schon den ganzen Abend gelesen!« Auch er fühlte das Bedürfnis, ja,
die lebhafte Verpflichtung, sich freundschaftlich mit dem Sohne zu
unterhalten, wenn er auch fand, daß Käte wieder entschieden des Guten
zuviel tat. So sich um den Jungen zu bemühen brauchte sie denn doch
nicht, unrecht getan hat er auf alle Fälle, die Sache mit Braumüller war
nicht zu vergessen, offen hatte er kommen müssen – aber freilich,
freilich, es war im Grunde nur eine Dummheit, eine Sache, wie sie unter
hundert Fällen neunzigmal vorkommen mochte!

Schlieben beschloß, vom nächsten Ersten ab das Monatsgeld des Sohnes um
hundert Mark zu erhöhen. Dann war es doch gewiß reichlich bemessen, ein
Nichtauskommen und Verheimlichen war dann ein für allemal
ausgeschlossen!

Es war schon weit nach Mitternacht, als Eltern und Sohn sich endlich
trennten. Mit einem lange nicht mehr gekannten Wohlgefühl streckte sich
Käte in ihrem Bett: heute würde sie bald einschlafen, heute würde sie
nicht mehr so lange liegen müssen und auf den Schlaf harren, heute war
sie so befriedigt, so beruhigt, so still in sich. Es war ja alles nun
auf besserem Wege, es würde am Ende doch noch alles gut werden! Und
leise flüsterte sie zu ihrem Mann hinüber: »Du – Paul!« Er hörte sie
nicht, er war schon im Einschlafen. Da raunte sie eindringlicher: »Du,
Paul!« Und als er sich regte, sagte sie weich: »Paul, bist du mir
böse?!«

»Böse? Aber warum denn?!«

»Ach, ich meinte nur!« Sie mochte es nicht erklären, es tat ja wohl auch
nicht not, hatte sie doch das Gefühl, als empfände auch er’s, daß nun
auch zwischen ihnen beiden alles wieder besser, schöner, inniger und
einiger sich gestalten würde. Ach ja, wenn sie sich mit ihm – mit dem
Sohn – besser fanden, dann fanden auch sie beide sich wieder!

Eine heiße Sehnsucht nach den Tagen der Liebe überkam die alternde Frau.
Sie schämte sich vor sich selber, aber sie konnte es nicht lassen, sie
langte nach dem Nebenbett: »Gib mir deine Hand, Paul!«

Und als sie im Dunklen tastete und suchte, begegnete sie seiner auch
suchenden Hand. Ihre Hände legten sich ineinander.

»Gute Nacht, lieber Mann!«

»Gute Nacht, liebe Frau!«

So schliefen sie ein. – – –

Wolfgang stand am Fenster seiner Stube, sah hinaus ins Dunkel, das alle
Sterne verhüllte, und hörte das Brausen eines fernen Windes. War die
Nacht so beklommen, oder war nur ihm so unerträglich schwül? Ein
Gewitter schien aufzuziehen. Oder war es nur eine innere Unruhe, die ihn
so belästigte? Was war es denn, das ihn quälte?!

Er glaubte sich kaum je in einer unangenehmeren Stimmung befunden zu
haben. Er ärgerte sich über den Vater, ärgerte sich über die Mutter –
wenn sie nicht wären, wie sie eben waren, wenn nicht alles so wäre, wie
es eben war, dann hätte er nicht zu lügen brauchen, nicht zu heucheln!
Er ärgerte sich über sich selber. Ach, dann wäre ihm jetzt wohl
leichter, viel freier! Im Unwillen zog er die Stirn zusammen; eine jähe
Sehnsucht nach etwas, das er nicht zu benennen wußte, machte ihn
erbeben. Was wollte er denn, nach was verlangte er denn? Ja, wenn er das
selber wüßte!

Er seufzte laut auf und streckte die Arme mit den kräftigen Fäusten
hinaus in die Nacht. So eng, so eng! Wenn er doch noch der Junge wäre,
der hier einmal aus dem Fenster, ja, aus diesem Fenster – er beugte
sich hinaus und maß die Höhe –, hinausgeklettert war, fortgerannt war,
heidi, ohne Fragen wohin, immer zugerannt war, einfach ins Blaue, ins
Weite hinein. Das war prachtvoll gewesen, ein seliges Laufen!

Und immer weiter beugte er sich hinaus; der Nachtwind raunte, das war
wie eine lockende Melodie. Er zitterte vor Begier. Er konnte sich nicht
losreißen, er mußte am Fenster stehen bleiben und lauschen. Das säuselte
in der Nacht, das rauschte in den Bäumen, das schwoll und schwoll, wuchs
und wuchs. Das Säuseln wurde zum Sausen.

Er vergaß, daß hier eine Stube war und hier ein Haus und hier Eltern,
die gern schlafen wollten, er stieß einen Ton aus, einen lauten Ruf,
halb ein Juchschrei: da draußen war’s gut, ha!

Sturm. Der plötzlich aufschnaubende Gewitterwind pustete ihm ins Haar
und sträubte es ihm um die Schläfen. Ha, wie köstlich das kühlte! Es war
drinnen nicht auszuhalten, da war eine Dumpfheit, eine Enge. Ihm wurde
so ängstlich bang. Wie sein Herz hämmerte! Und die Unlust war groß: wie
war das heute abend wieder unangenehm gewesen! Der Vater sagte, er hätte
es ihm eingestehen müssen – natürlich, richtiger wäre es gewesen –,
aber wenn der jetzt schon, nachdem die Sache doch eigentlich erledigt
war, so drohte, was hätte er dann erst vorher gesagt?! Nicht zum
Aushalten war’s, dies ewige Gegängeltwerden! War man etwa noch ein Kind?
War man ein erwachsener Mensch, oder war man’s nicht? War man der Sohn
aus reichem Hause oder war man’s nicht? – Nein, nicht! Man war’s eben
nicht!

Fern im Dunklen grollte der Donner. Es zuckte plötzlich ein blendender
Strahl – er war’s eben nicht, nicht der Sohn, nicht der Sohn hier vom
Haus! Sonst wäre alles anders! =Wie=, wußte er nicht – aber anders, o,
ganz anders!

Lange hatte Wolfgang nicht nachgedacht – die Tage waren zu reich an
Zerstreuung –, aber nun, in dieser dunklen, gewitterigen Nacht, in der
er doch nicht schlafen konnte, mußte er denken. Was er immer von sich
geschoben hatte, weil’s ihm nicht angenehm war, was er ganz vergessen zu
haben glaubte – vielleicht, weil er’s gern vergessen wollte – das
mußte er jetzt bedenken. Das, was so lange zurückgedrängt gewesen war,
das brach jetzt durch, mit Macht, wie der Sturmwind, der plötzlich
daherfuhr und die Wipfel der Kiefern beugte, daß sie niederduckten vor
Angst. In das Brausen des Sturmes hinein hätte Wolfgang seine Stimme
ertönen lassen mögen, viel lauter als der.

Er war wütend, ganz unvernünftig wütend, ganz ohne Überlegung wütend.
Hei, wie das blitzte, krachte, grollte, brauste und schnob! Das war ein
Kampf – aber das war doch schön! Er hob sich auf den Zehen und gab die
hämmernde Brust dem starken Wehen preis. Gleiche Lust hatte er kaum je
empfunden, wie jetzt bei diesen Windstößen, die seine Brust wie mit
Fauststößen trafen. Er warf sich ihnen entgegen, er fing sie förmlich
auf mit seiner breiten Brust.

Und doch war bei der Lust eine Qual. Gegenüber diesem großen Gewitter,
das ihm wurde wie ein Ereignis, dünkte ihn alles andere erbärmlich
klein, und er selber mit. Da stand er nun, in Rock und Beinkleidern, die
Hände in den Hosentaschen, klimperte mit dem losen Gelde, ärgerte sich
darüber, daß er sich hatte abkanzeln lassen, und hatte doch nicht den
Mut, alles von sich zu werfen, ganz zu tun, wie ihm beliebte.

Mit glühenden Augen folgte der junge Mensch dem gelben und blauen Zucken
der Blitze, die den dunklen Wetterhimmel spalteten in schneidendem
Zickzack und die Welt übergossen mit blendendem Zauberlicht. Wer doch
hinfahren könnte wie dort der Blitz! Der fuhr aus den Wolken hinab zur
Erde, riß ihr den Schoß auf und wühlte sich hinein!

Das junge Blut, dem die ungenützte Kraft in den Fäusten zuckte, die
Kraft, die von keiner Arbeit verbraucht ward, ächzte laut auf. Wolfgang
verwünschte auf einmal sein Leben. Ah, ganz wo anders müßte er sein,
ganz wo anders leben, ganz wo anders! Und wenn er’s da auch nicht so
bequem hätte, nur fort von hier, fort! Das langweilte ihn hier ja so
unsäglich. Das ekelte ihn an. Er atmete tief auf: ha, hätte man doch
eine Arbeit, die man gerne tun möchte! Die einen so müde machte, daß man
keinen andern Wunsch mehr hätte, als essen und dann schlafen. Lieber
Taglöhner als so einer, der auf dem Kontorstuhl hockt, Zahlen sieht,
immer lauter Zahlen, und Konten und Hauptbücher und Kassabücher – nur
nicht Kaufmann, nein, das war doch noch das allergräßlichste!

Wolfgang hatte bis dahin noch nie mit Bewußtsein empfunden, daß er nicht
zum Kaufmann taugte; jetzt wußte er’s. Nein, er mochte das nicht, er
konnte das nicht bleiben! Jeder muß doch das werden, wozu er geboren
ist!

Morgen schon wollte er es sagen – nein, er machte nicht mehr mit, er
tat’s nicht länger! Frei wollte er sein! Er bog sich wieder weit zum
Fenster hinaus und witterte mit geblähten Nüstern wie ein dürstender
Hirsch gierig-lechzend nach dem feuchten Wohlgeruch, der der getränkten
Erde entstieg.

Nach Donner und Blitz war der Regen gekommen und tränkte den
verlangenden Boden und drang in ihn ein, ihm alle Poren mit
Fruchtbarkeit füllend. Es rauschte und rauschte ohne Unterlaß, ging
nieder in Strömen, als nähme des Flutens kein Ende.

In Wolfgangs Seele löste sich etwas; sie wurde weich.

»Mutter,« flüsterte er verträumt und streckte die heißen Hände aus, daß
der kühle Regen sie badete. Streckte auch den Kopf ganz weit hinaus, hob
das Gesicht mit den geschlossenen Augen aufwärts, daß fallende Tropfen
die brennenden Lider kühlten, und die durstigen Lippen, weit geöffnet,
die Tränen des Himmels einsogen wie köstlichen Wein.

       *       *       *       *       *

Aber am Morgen, als der Sand des Grunewalds all den Regen in sich
geschluckt hatte, und vom befreienden Gewitter der Nacht nichts übrig
war als ein etwas frischeres Grün des Rasens, ein stärkeres Duften der
Kiefern, viel abgeschlagene Eicheln und Kastanien am Promenadenweg,
dachte Wolfgang doch wieder anders. Der Tag war schön; er konnte
schwimmen, reiten, ein bißchen ins Kontor gehen, essen, trinken, Tennis
spielen, sich zum Abend irgendwohin verabreden – es gab ja so viele
Orte, an denen man sich amüsieren konnte –, warum sollte er sich und am
Ende dem Vater auch den schönen Tag verderben? Er schob jeden ernsteren
Gedanken als lästig weit von sich. Aber in seiner Seele war doch eine
Unruhe. Er suchte sich zu betäuben.

Heute abend schlief Käte nicht so rasch und sanft ein wie am gestrigen
Abend; wenn sie sich’s auch selber geschworen hatte, nicht mehr
aufzusitzen und auf ihn zu warten, schlafen konnte sie doch nicht, wenn
er nicht zu Hause war. Wie damals hörte sie die Uhren gehen, schreckhaft
laut; durch die Stille des Hauses drang jedes noch so leise Geräusch
verstärkt an ihr lauschendes Ohr. Sie würde ihn hören, sie mußte ihn ja
hören, sowie er nur den Schlüssel unten in die Haustür steckte!

Aber sie hörte nichts, solange sie auch wach lag und horchte. Die
Stunden schlichen, der Tag graute, durch einen Spalt der geschlossenen
Läden hindurch stahl sich ein daumbreiter falber Schein; sie sah ihn an
der Wand, ihrem Bett gegenüber. Der Schein wurde tiefer nach und nach,
bestimmter in der Farbe, bekam ein warm-leuchtendes, sonniges Rotgold.
Es kündete kein Haushahn mit triumphierendem Schrei den neuen Tag, es
lag das Haus so still, so stumm der Garten, aber jener Schein dort, der
verriet den Morgen. – – –

Sie mußte doch geschlafen haben, ohne daß sie es wußte: wie, schon der
Morgen da?! Nun war sie auch sicher, daß er längst zu Hause war, sie
hatte sein Kommen eben überhört. Das beruhigte sie. Aber sie zog sich
doch eilig an, flüchtiger als sonst, und sie konnte es doch nicht
lassen, ehe sie zum Frühstück hinunterging, an seiner Türe stillzustehen
und zu lauschen. Er war noch nicht auf – natürlich noch nicht, er war
ja so spät nach Hause gekommen – noch schlief er! Sie konnte einmal
heimlich nach ihm sehen. Sie trat ein, aber er schlief nicht.

Mit ganz wirren Augen blickte die Frau aufs Bett – da stand es,
aufgeschlagen, einladend weiß und behaglich, aber er lag nicht darin.
Das Bett war gar nicht berührt! Leer das Zimmer!

Da erstarrte ihr das Herz in eisigem Schreck: sie hatte doch nicht
geschlafen, sie hatte sein Kommen doch nicht überhört! Dazumal war er
gekommen – betrunken freilich, aber er war doch noch nach Hause
gekommen –, dieses Mal nicht mehr!




3


»Wolfgang wieder nicht da?« sagte Schlieben, als er zu seiner Frau ins
Zimmer trat. »Ins Geschäft kommt er auch so wenig; sie behaupten zwar
immer, gerade wäre er dagewesen – warum hält er aber nicht dieselbe
Geschäftszeit ein wie ich?! Wo ist er denn?!« Er sah seine Frau fragend
und ungeduldig an.

Sie zuckte die Achseln, und das Abendrot, das im Scheiden noch einen
letzten Schimmer durch das hohe Fenster warf, gab ihrer Wange ein
überhuschendes Rot. »Ich weiß es nicht,« sagte sie leise. Und dann sah
sie so verloren hinaus in den Herbstabend, daß der Mann fühlte, sie war
mit ihren Gedanken ganz abwesend, die irrten draußen suchend umher.

»Käte,« sagte er ein wenig empfindlich, und der Ärger, den er über des
Sohnes Abwesenheit empfand, mischte dem Ton noch eine besondere Schärfe
bei, »ich bin eben aus der Stadt nach Hause gekommen – müde, hungrig,
es ist ja schon acht Uhr – wir wollen essen. Und nicht mal ein
freundliches Gesicht?!«

Sie stand rasch auf, um nach dem Abendbrot zu klingeln, und versuchte zu
lächeln. Aber es wurde kein rechtes Lächeln.

Er sah’s, und das verstimmte ihn noch mehr. »Laß nur, laß! Tu dir keinen
Zwang an!« Müde setzte er sich zu Tisch. Aber sein Hunger schien doch
nicht so rege zu sein, denn als die Speisen aufgetragen waren und vor
ihm dampften, langte er nur lässig zu und aß lässig, ohne zu wissen,
was.

Das Eßzimmer war viel zu groß für die zwei einsamen Menschen;
ungemütlich leer erschien heute an dem kühlen Herbstabend der schöne
Raum. Fröstelnd schauerte die Frau zusammen.

»Wir müssen die Heizung in Gang bringen lassen,« sagte der Mann.

Das war das einzige, was während des Essens gesprochen wurde. Nachher
stand Schlieben auf, um in sein Arbeitszimmer hinüberzugehen. Dort
wollte er rauchen, dort war’s kleiner, gemütlicher; er bemerkte es
nicht, daß seine Frau ihn förmlich mit den Blicken verfolgte.

Wenn Paul ihr doch nur sagen möchte, was er von Wolfgangs Ausbleiben
dachte! Wo Wolfgang nur wieder sein mochte?! Sie vertiefte sich ganz in
ihre suchenden, irrenden Gedanken und merkte es kaum, daß sie allein
blieb in dem kalten, leeren Zimmer.

Sie hatte ein Buch vor sich liegen, ein Buch, das alle Welt interessant
fand – eine Bekannte hatte ihr gesagt: ›Ich konnte gar nicht aufhören
damit, ich hatte so viel im Kopf, aber ich habe alles drüber vergessen,‹
– sie vergaß nichts darüber. Wie in einem großen Kummer, der dumpf
macht, fühlte sie sich. Noch stumpfer, abgestorbener gegen alles Äußere,
wie damals nach dem Tode ihres Vaters und ihrer Mutter. Gerade in diesen
Trauerjahren hatte sie so viel gelesen, so mit besonderem Interesse, als
seien ihr alte Dichtwerke neu geschenkt und neue eine tröstende
Offenbarung. Nun konnte sie nichts lesen, den Gedanken eines andern
nicht folgen. Sie klebte an ihren eignen Gedanken; ihr Auge überflog
wohl die Seite, aber wenn sie unten angelangt war, wußte sie nicht, was
sie gelesen hatte. Es war ein unerträglicher Zustand. Ach, wie gern, wie
gern wollte sie sich für etwas interessieren! Was gäbe sie darum, könnte
sie doch einmal recht herzlich lachen; früher hatte sie nie die gleiche
Sehnsucht gehabt nach Frohsinn, Heiterkeit und nach Humor. Ah, welche
Erlösung wäre es für sie gewesen, hätte sie lachen und weinen können!
Jetzt konnte sie nicht lachen, aber – ach! – auch nicht mehr weinen,
und das war das schlimmste: ihre Augen blieben trocken. Jedoch innerlich
brannten die ungeweinten Kummertränen und fraßen an ihrem Leben mit dem
unvergossenen salzigen Naß.

Nein, der Tod war das schrecklichste nicht! Es gab Schrecklicheres. Es
war schrecklich, wenn man sich sagen mußte: all dein Leid hast du dir
selber heraufbeschworen. Warum ließest du dir nicht genügen, warum
mußtest du erzwingen, was die Natur dir versagte?! Es war schrecklicher,
wenn man fühlte, wie häusliches Glück, eheliches Glück, Liebe, Treue,
Einigkeit, wie all das, was zwei Menschen innig zusammenhält, ins Wanken
geriet – fühlte sie’s denn nicht alle Tage, wie ihr Mann kälter und
kälter wurde, und wie auch sie gleichgültiger gegen ihn ward?! Ach, der
Sohn, dieser Dritte, der brachte sie zwei auseinander! O, wie kläglich
fielen alle ihre Theorieen von Erziehung, Beeinflussung, vom Geboren
werden im Geiste über den Haufen! Wolfgang war doch nicht das Kind, in
dem sie beide sich mit Leib und Seele einten – er war und blieb fremdes
Blut. Und er hatte eine fremde Seele. Armer Sohn!

Im Herzen der Frau, die tage-, wochen-, monate-, die jahrelang nichts
als Bitterkeit und Kränkung, sogar manchmal etwas wie Empörung gegen den
empfunden hatte, der ihre Tage also verstörte, keimte plötzlich ein
einsichtsvolles Mitleid. Wie konnte sie ihm, den es nicht mit hundert
Banden ans Elternhaus fesselte, so sehr zürnen?! Es war eben nicht
=sein= Elternhaus. Unbewußt mochte er es fühlen, daß der Boden hier für
ihn nicht Heimatboden war – nun suchte er, nun irrte er!

Den Kopf schwer in die Hände stützend, grübelte Käte: was sollte sie
beginnen? Sollte sie ihm gestehen, woher er kam? Ihm alles erzählen?
Vielleicht daß es dann besser wurde! Ach, würde es besser, so würde sie
gern alles tun! Aber ach, es war so schwer! Doch es mußte sein. Sie
durfte nicht länger schweigen! Sie fühlte ihr zitterndes Herz erstarken
in einem festen Entschluß: wenn er nach Hause kam, würde sie sprechen.
Was sie gehütet hatte als größtes Geheimnis, über dem sie zitternd
gewacht hatte, was ihr, wie sie glaubte, nichts hätte entreißen können,
das war sie nun bereit, freiwillig zu offenbaren. Sie mußte. Wie konnte
es sonst je besser werden, wie je zu gutem Ende kommen, überhaupt zu
einem Ende?!

Mit inbrünstigem Suchen schauten ihre Augen um sich; es war ein
angstvolles Blicken in ihnen. Aber da war kein andrer Ausweg. Mit einer
Entschlossenheit, deren Käte Schlieben vor einem Jahr noch nicht fähig
gewesen wäre, bereitete sie sich auf das Geständnis vor. Einen
Augenblick kam ihr der Wunsch, sich Paul zu Hilfe zu rufen. Aber rasch
verwarf sie den Gedanken – hatte er denn Wolfgang je so geliebt wie
sie? Es würde ihm vielleicht gleichgültig sein. Oder nein, es würde ihm
vielleicht ein Triumph sein, er war ja immer andrer Meinung als sie
gewesen. Und dann, noch eins! Er könnte ihr dann vielleicht zuvorkommen,
es selber Wolfgang sagen, und das durfte nicht sein. Sie, sie allein
durfte das mit all der Liebe, deren sie noch fähig war, damit er’s weich
hörte, schonend und zart!

Hastig lief sie hinüber in ihren Salon. Da bewahrte sie in ihrem
Schreibtisch seinen Taufschein und die Abtretungsurkunde aus seinem
Heimatdorf; diese Papiere hatte sie selbst ihrem Manne nicht anvertraut.
Nun holte sie sie hervor und legte sie bereit. Sie würde ihm doch zeigen
müssen, daß alles sich so verhielt, wie sie sagte!

Die Papiere knitterten unter ihren zitternden Händen, aber sie zwang
ihre Aufregung nieder. Ruhig mußte sie sein, ganz ruhig und verständig;
in vollem Bewußtsein dessen, was sie tat, das Luftschloß umstoßen, das
sie sich erbaut hatte und das nicht so geworden war wie in ihren
Träumen. Aber wenn auch dieses Luftschloß zusammenfiel, konnte nicht aus
seinen Trümmern etwas gerettet werden, doch noch etwas Gutes erstehen?!
Er würde ihr ja dankbar sein, er mußte ihr ja dankbar sein. Und das war
das Gute!

Sie faltete die Hände über den Dokumenten aus grobem Papier, und aus
ihrer Brust stiegen bebende Seufzer, die wie flehende Gebete waren. Gott
hilf, Gott hilf!

Wenn er sie aber nun nicht richtig verstünde, wenn sie vielleicht nicht
die Worte fand, die man finden mußte?! Wenn sie ihn dadurch verlieren
würde?! Ein Schreck überfiel sie, sie erblaßte und griff tastend um
sich, wie jemand, der eine Stütze braucht; aber sie hielt sich aufrecht:
dann lieber ihn verlieren, als daß er sich verlor!

Denn – und Tränen, wie sie sie lange, lange nicht mehr hatte vergießen
können, tropften ihr erlösend aus den Augen – denn sie liebte ihn doch
noch, liebte ihn mehr, als sie es selber für möglich gehalten hätte.

So wartete sie auf ihn. Und wenn sie warten sollte bis morgen früh, und
wenn er wieder betrunken nach Hause käme – betrunkener noch als das
erste Mal – sie würde ihn doch erwarten. Heut noch mußte sie es ihm
sagen! Es brannte förmlich in ihr.

Schlieben war längst zur Ruhe gegangen; er war ärgerlich auf seine Frau,
hatte nur flüchtig den Kopf in ihr Zimmer gesteckt, hatte genickt: »Gute
Nacht« und war hinaufgegangen. Sie aber ging mit langsamen Schritten
unten im Zimmer auf und ab; das ermüdete sie körperlich, gab aber ihrem
Geist Ruhe und dadurch Kraft. –

Als sei ihre zarte Gestalt gewachsen, so gerade und aufrecht trat sie in
der Vorhalle Wolfgang entgegen, als sie ihn hatte die Haustür schließen
hören. Das Haus schlief mit allen, die darinnen waren, nur er und sie
waren noch wach; so allein, so ungestört waren sie sonst nie mehr auf
der Welt. Jetzt galt’s!

Und sie gab ihm die Hand, wie sie es sonst nicht getan hätte, wäre er so
spät gekommen – Gott sei Dank, er war nicht betrunken! – und näherte
ihr Gesicht seinem Gesicht und küßte ihn auf die Wange: »Guten Abend,
mein Sohn!«

Er war wohl etwas verdutzt über diesen Empfang, aber seine
dunkelumrandeten und tiefliegenden Augen sahen gleichgültig an ihr
vorbei.

Er war entsetzlich müde – man sah es ihm an – oder war er krank?! Aber
das würde ja alles, alles nun bald besser werden! Mit erwachter
Hoffnungsfreudigkeit ergriff Käte wiederum seine Hand und zog ihn hinter
sich her in ihr Zimmer hinein.

Er ließ sich ziehen, ohne zu widerstreben, er fragte nur gähnend: »Was
ist denn los?«

»Ich muß dir etwas sagen!« Und dann, rasch, als könne er ihr entgehen
oder sie den Mut verlieren, setzte sie hinzu: »Etwas Wichtiges – was
dich betrifft – deine – deine Herkunft betrifft!«

Was sagte er nun – unwillkürlich hatte sie innegehalten – was würde er
nun sagen?! Seine Herkunft, um die er gerungen hatte, in Sehnsucht, in
Kämpfen – ach, was waren das für Szenen gewesen! – nun wurde sie ihm
offenbar.

Sie hatte sich unwillkürlich zu ihm geneigt, bereit, ihn zu stützen.

Da gähnte er wieder: »Muß es jetzt gerade sein, Mama? Morgen ist doch
auch noch ein Tag. Ich bin nämlich todmüde. Gut Nacht!« Und er machte
kehrt und ließ sie stehen und ging zum Zimmer hinaus und die Treppe
hinauf und oben in seine Stube.

Sie stand ganz starr. Dann griff sie sich nach dem Kopf: was, was, sie
hatte wohl nicht recht verstanden, war taub, blind, nicht ganz mehr bei
sich?! Oder er war taub, blind, nicht ganz mehr bei sich! Sie war ihm
entgegengetreten, das Herz auf den Lippen, sie hatte die Hand
ausgestreckt, sie hatte ihm von seiner Herkunft sprechen wollen – und
er?! Er hatte gegähnt – war gegangen, es interessierte ihn
augenscheinlich gar nicht. Und hier, hier, in diesem selben Zimmer –
noch nicht viere Jahre waren’s her – fast auf diesem selben Fleck, da
hatte er doch gestanden im schwarzen Einsegnungsrock – fast so groß
schon wie jetzt, nur runder, kindlicher von Gesicht – und hatte laut
aufgeschrieen: ›Mutter, Mutter, wo ist meine Mutter?!‹ Und jetzt wollte
er nichts mehr wissen –?!

Es konnte nicht sein, sie hatte ihn wohl nicht recht verstanden oder er
sie nicht! Sie mußte ihm nach, gleich auf der Stelle! Ihr war, als
dürfte sie keine Minute versäumen.

In ihrem grauen Kleid huschte sie lautlos die Treppe hinauf; im matten
Licht, das die elektrische Birne an die Treppenwand warf, sah sie ihren
gleitenden Schatten, aber sie lächelte: nein, sie war nicht die Sorge
mehr, die da so gespenstisch glitt! In ihrem Herzen war lauter
Freudigkeit, Hoffnung und Vertrauen: sie brachte ihm ja Gutes, nur
Gutes!

Ohne anzuklopfen trat sie in seine Tür, in aller Eile, ohne Überlegung.
Er lag schon in den Kissen, gerade hatte er das Licht auslöschen wollen.
Nun setzte sie sich auf seinen Bettrand.

»Wolfgang,« sprach sie weich. Und als er sie verwundert, ein wenig
befremdet, fast unfreundlich ansah, klang es noch weicher: »Mein
Sohn!«

»Ja – was ist denn nun schon wieder?«

Er war wirklich ärgerlich, sie merkte es an seinem ungeduldigen Ton, und
da sank ihr plötzlich der Mut: ach, wenn er sie so ansah, so kalt, und
wenn sein Ton so abwehrend klang, wie war es da schwer, das richtige
Wort zu finden! Aber es mußte sein, er sah ja so bleich aus, und so
mager war er, sein rundes Gesicht war förmlich lang geworden! Was ihr
vorhin schon aufgefallen war, fiel ihr jetzt doppelt auf, und sie bekam
einen großen Schreck. »Wolfgang,« sagte sie hastig, fast mit Angst
seinen Blick vermeidend – o, wie anklagend würde der sein, wie
vorwurfsvoll, und berechtigt vorwurfsvoll! – »ich muß es dir endlich
sagen – es ist besser – es wird dich ja auch weiter nicht verwundern
– erinnerst du dich noch jenes Sonntags – es war der Tag deiner
Konfirmation – da – da fragtest du uns –«

Ach, wieviel Vorreden mußte sie doch machen! Sie hieß sich selber feige;
aber es war so schwer, so unsäglich schwer!

Mit keinem Laut unterbrach er sie, er fragte nicht, er seufzte nicht, er
rührte sich nicht einmal.

Sie wagte nicht, ihren Blick, der, starr und geradeaus gerichtet, an
einem Punkte hing, nach ihm zu wenden. Sein Schweigen war schrecklich,
schrecklicher als sein Aufbrausen! Und sie schrie es laut heraus mit
verzweifelter Entschlossenheit: »Du bist nicht unser Sohn, nicht unser
eigner Sohn!«

Er sagte noch nichts; antwortete durch keinen Laut, durch kein
Sichrühren. Da wendete sie den Blick nun doch nach ihm. Und sie sah, wie
die Lider ihm über die müden, schon halb verglasten Augen fielen, wie er
sie mühsam wieder aufriß und sie doch wieder herabsanken, kurz, wie er
mit dem Schlaf rang.

Er konnte schlafen, während sie ihm dieses – dieses sagte?! Eine
furchtbare Ernüchterung kam über sie, aber sie packte ihn doch am Arme
und rüttelte ihn, während ihr die eignen Glieder wie in Fieberschauern
bebten: »Hörst du – hörst du’s denn nicht?! Du bist nicht unser Sohn –
nicht unser eigner Sohn!«

»Ja, ich weiß,« sagte er müde. »Laß, laß!« Abwehrend bewegte er die
Hand.

»Und das –« eine völlige Fassungslosigkeit machte sie stammeln wie ein
Kind – »das berührt dich nicht? Das – das läßt dich so kalt?!«

»Kalt?! Kalt?!« Er zuckte die Achseln, und in seinen müden, glanzlosen
Augen fing es an ein wenig zu funkeln. »Kalt?! Wer sagt dir, daß es mich
kalt läßt – kalt gelassen hat?« verbesserte er sich rasch. »Aber ihr
habt ja nicht danach gefragt. Nun will ich nichts mehr davon hören. Nun
bin ich müde. Ich will schlafen!« Er drehte ihr den Rücken, kehrte das
Gesicht gegen die Wand und rührte sich nicht mehr.

Da stand sie – er schlief schon, oder wenigstens schien er zu schlafen.
Ein paar Minuten noch verweilte sie bang – würde er, mußte er sich
nicht wieder nach ihr wenden: ›erzähle, jetzt höre ich!‹ Aber er wendete
sich nicht.

Da schlich sie aus dem Zimmer wie ein armer Sünder. Zu spät, zu spät!
Sie hatte zu spät gesprochen, und nun wollte er nichts mehr hören, nun
gar nichts mehr davon wissen!

In ihrer Seele schmerzten die Worte ›zu spät‹ in ihrer stumpfen
Trostlosigkeit wie eingebrannt.

       *       *       *       *       *

Käte hatte nicht mehr den Mut, auf das, was sie Wolfgang in dieser Nacht
hatte gestehen wollen, noch einmal zurückzukommen. Wozu auch? Sie hatte
das lebhafte Gefühl: ihm war nicht mehr beizukommen, nicht mehr zu
helfen. Sie aber fühlte sich niedergedrückt wie durch eine unermeßliche
Schuld. Und das Gefühl dieser schweren Schuld machte sie milder gegen
ihn, als sie es sonst gewesen wäre; es hieß sie, sein Tun und Lassen zu
beschönigen, vor sich selber und vor ihrem Manne.

Schlieben war sehr unzufrieden mit Wolfgang. »Wenn ich nur wüßte, wo er
sich immer herumtreibt! Er ist doch nachts zu Hause – wie?!«

Ein unwillkürlicher Laut seiner Frau hatte ihn unterbrochen, nun sah er
sie forschend an. Aber sie verzog keine Miene, nickte nur: »Ja!« Da
verließ sich der Mann auf seine Frau. –

Nun waren die letzten Tage des scheidenden Herbstes da, die oft noch so
warm sind und golden, goldener als der Sommer sie je gewährt. Um vor dem
Winter sich noch einmal in Luft und Sonne zu baden, strömte alles hinaus
in den Grunewald. Als sei alle Tage Sonntag, so drängten sich die
Spaziergänger in Hundekehle und Paulsborn, bei Onkel Tom und in der
Alten Fischerhütte. Überall Lachen, oft auch Musik, und Mädchen
in hellen Kleidern, in letzten, noch nicht ganz vertragenen
Sommertoiletten. Kinder lärmten jetzt weniger durch den Wald wie zur
Sommerszeit, es dunkelte jetzt bereits zu früh; desto mehr Pärchen
wandelten, denen der frühe und doch noch warme Dämmerschein köstliche
Gelegenheit bot, ihre Zärtlichkeiten zu tauschen, und alte Leute, die
noch einmal die Sonne genießen wollten, ehe vielleicht bald die Nacht
für sie kam, der kein Morgen mehr folgt.

Schlieben hatte es in früheren Jahren immer verabscheut, an solchen
Tagen, in denen es im Grunewald wimmelte, sein Haus und seinen Garten zu
verlassen. Es war ihm unangenehm gewesen, den Staub des Gewühls zu
schlucken. Jetzt war er weitherziger: warum sollten die Leute, die sonst
immer in ihre engen Wohnungen gebannt waren, nicht auch einmal hier
draußen sein und für Stunden wenigstens den Kiefernduft einatmen, den
sie, die Bevorzugten, alle Tage genossen? Es war doch etwas Schönes
darum, zu sehen, wie die Menschen sich freuen!

Sowohl aus eignem Antrieb, wie um Käte zu zerstreuen, die ihm in letzter
Zeit noch ernster und merkwürdig in sich gekehrt vorkam, bestellte er
einen Wagen, einen bequemen Landauer, und fuhr mit seiner Frau
spazieren. Sie fuhren die bekannten Straßen, die den Grunewald
durchziehen, stiegen auch zuweilen aus, wenn der Wagen langsamer durch
den Sand mahlte, und gingen auf dem, durch gefallene Nadeln glatt
gemachten und festgetretenen Fußpfad ein Stückchen nebenher.

Sie kamen nach Schildhorn. Über dem Wasser lag roter Abendschimmer; die
Sonne war nicht mehr im vollen Glanz zu sehen, ein dämmernder,
melancholischer Friede lag über der Havel und den Kiefern. So tief hatte
Käte dieser Wald noch nie gedeucht. Es fröstelte sie plötzlich: ah, dort
drüben lag ja auch der Friedhof der Selbstmörder! Sie mochte nicht
hinsehen, nervös preßte sie die Augen zu. Vor ihren Blicken hatte
plötzlich ein junger Bursch gestanden – jung und frisch und doch schon
verdorben – mancher Mutter Sohn!

Schaudernd wollte sie rasch vorüber, und doch zog es ihren Fuß
unwiderstehlich hin zu dem im Wehsand eingehegten Fleck. Sie konnte
nicht anders, sie mußte stehen bleiben. Sinnend ruhte ihr Blick auf den
so wenig schönen, ungepflegten Gräbern: ob sie denn Frieden gefunden
hatten, die hier ruhten?! Ein paar grüne Zweige und ein paar Blümchen,
die sie unterwegs gepflückt hatte, entsanken ihrer Hand. Der abendliche
Wind wehte sie aufs nächste Grab; da ließ sie sie liegen. Ihr war
unendlich weh ums Herz.

Paul rief: »Käte, so komm doch! Der Wagen wartet ja längst auf uns!«

Bis tief ins Innerste war sie verstimmt. Befürchtungen und Ahnungen, von
denen sie niemand sagen konnte, drangen auf sie ein. Wolfgang war
leichtsinnig – aber schlecht?! Nein, schlecht war er nicht – noch
nicht! O Gott, nein, das wollte sie doch nicht denken, schlecht nicht!
Aber wie sollte es werden? Wie enden?! Gut konnte es nicht mehr werden,
nie – wie sollte es auch?! Da müßten ja Wunder geschehen, und Wunder
geschehen nicht mehr zu diesen Zeiten!

Helles Lachen schreckte sie auf. Im Restaurationsgarten waren alle
Tische besetzt; hier war so viel Jugend, und so viel leichter Sinn, und
hier waren so viele Liebespaare. Sie waren wieder in ihren Wagen
gestiegen und fuhren jetzt langsam am Restaurationsgarten vorüber und
sahen so all die hellen Blusen und die bunten Blumenhüte, all den Putz
des kleinen Bürgerstandes.

Horch, wieder das helle Lachen! Ein lautes Mädchenlachen, so recht frei
heraus, und nun ein: ›Oho, fangt sie, kß, kß‹ – bei dem Käte wie
erstarrt den Atem anhielt. Sie wurde ganz schwach, alles Blut wich ihr
vom Herzen fort: das war ja Wolfgang! Ihr Wolfgang!

Da sprang er in großen Sätzen hinter einem Mädchen her, das,
aufjuchzend, vor ihm über den Weg floh und jenseits hinein in den Wald
lief zwischen die Stämme. Er jagte hinter ihr drein. Einen Augenblick
noch sah man das helle Mädchenkleid und Wolfgangs fliegenden Schatten
um die Kiefern wischen, dann erblickte man nichts mehr von ihnen.
Aber er mußte sie erreicht haben, man hörte jetzt ihr gellendes
Aufkreischen und sein Lachen; beides trieb Käte das Blut in die Wangen.
Das klang ihr beleidigend, klang ihr gemein. Also so, so weit war er
gekommen, trieb sich hier mit solchen, solchen – Personen umher?!
Aha, da kamen ja noch ein paar andre nach, die gehörten auch zur
Gesellschaft! Ein vierschrötiger Mensch mit rotem, pausbackigem, sehr
erhitztem Gesicht lärmte mit Hallo hinter dem verschwundenen Paar
drein, und ein schmächtiger Schlingel, der zuletzt kam, lachte so recht
verschmitzt-spitzbübisch.

›Paul, Paul,‹ wollte Käte aufschreien, ›Paul, sieh nur, sieh!‹ Aber dann
schrie sie doch nicht und rührte sich nicht. Da war ja nichts mehr zu
ändern! Ganz stumm lehnte sie in ihrer Wagenecke: das hatte sie ja
gewollt, sie durfte nicht klagen. Ach, hätte sie ihn doch gelassen, wo
er war! Jetzt mußte sie schweigen, beide Augen zudrücken, tun, als hätte
sie nichts gesehen!

Aber alles war ihr verleidet. Und als ihr Mann ihr in einer Lücke der
Kiefernwipfel den schwimmenden Mond im lichtgrauen Äther wies und rechts
dabei den freundlichen, ruhig leuchtenden Stern, hatte sie auf sein
entzücktes: »Ist das nicht schön?« nur ein kühl-zustimmendes: »O
ja!«

Das verstimmte ihn. Welche Freude hatte sie sonst an der Natur gehabt,
die größte und reinste Freude, nun auch das nicht einmal mehr! Auch
dieses hin?! Alles hin! Er seufzte.

Und jedes von ihnen, in eine Ecke des Wagens gelehnt, verharrte in
Schweigen. Mit trüben Augen schauten sie beide in die tiefer und tiefer
sinkende Dämmerung. Es wollte Abend werden, der Tag – auch ihr Tag –
hatte sich geneiget. –

       *       *       *       *       *

Wolfgang hatte mit Frida Lämke, deren Bruder und Hans Flebbe eine längst
geplante Landpartie unternommen. Frida hatte sich für den Nachmittag im
Geschäft freigemacht; ausnahmsweise, und weil sie etwas unabweisbar
Dringendes vorschützte, gelang es ihr, abzukommen. Nun war sie aber auch
wie losgelassen, voller Übermut: ha, war das fein, ha, wollten sie sich
mal amüsieren! Wolfgang hatte eine Droschke spendiert; er und Frida im
Fond, die beiden andern ihnen gegenüber auf dem Rücksitz, so hatten sie
eine Rundfahrt durch den grünen, grünen Wald gemacht, hatten dieses
Lokal besucht und jenes, waren Karussell gefahren und Boot und hatten in
der Würfelbude gewürfelt. Wolfgang war sehr galant, Frida durfte immer
noch mal; eine Butterdose von blauem Glas, eine Glanzpapierdüte mit
Pfeffernüssen, vor allem aber ein kleiner Piepmatz in einem winzigen
Holzgitterkästchen machten sie selig. Alles das durfte Hans nun tragen,
während sie auf dem Nachhauseweg, den sie von Schildhorn zu Fuß
antraten, sich mit Wolfgang jagte und neckte. Der Bräutigam störte
weiter nicht. Hans hatte von Anfang an darauf verzichtet, seine Frida am
Arm zu führen; man hätte sie dreist für das Verhältnis des eleganten
jungen Herrn halten können. Aber als sie nun ganz außer Atem, rot und
zerzaust war und die Dämmerung des Abends, der hier innen zwischen den
dichten Stämmen schon eher dunkelte als draußen, ihr ein kleines Gruseln
und ein wonniges Sich-erschrecken einjagte, hing sie sich doch wie
selbstverständlich an den Arm ihres Hans. Sie blieben ein wenig zurück.

Nun war Wolfgang allein, denn Artur rechnete er nicht, obgleich der
neben ihm her über die Wurzeln stolperte und schrill pfiff. Und Wolfgang
beneidete den dicken Hans, über den sie heute, seine Braut am meisten,
so viel gelacht hatten; auch er hatte das Bedürfnis, jetzt ein Mädchen
am Arm hängen zu haben. Das brauchte nicht einmal so niedlich wie Frida
zu sein – wenn’s nur ein Mädel war! Die Dämmerung des Waldes, die so
wohlig war und verschwiegen, lud förmlich ein. Und vom Boden, der so
mager war, lauter Sand, stieg heute abend doch ein sattes Duften auf,
ein reichliches Gewähren. Wolfgang fühlte sich lebens- und
liebeshungrig, gierig nach Freude, nach Genuß. Hätte er jetzt Frida
neben sich gehabt, bei beiden Armen hätte er sie gepackt, sie an sich
gerissen, blitzschnell ihr den Mund mit Küssen verschlossen und sie
nicht mehr losgelassen.

Er konnte nicht mehr an sich halten, er mußte wenigstens Artur packen
und mit ihm dahinwalzen durch den sandigen Waldboden, daß dem
aufgeschossenen Jungen, der heute schon zu so und soviel Kunden gelaufen
war, um sie zu rasieren, Hören und Sehen verging. Die übrigen
Spaziergänger blieben stehen: das war ihnen nichts Neues auf
Landpartieen, wenn’s nicht größeren Unfug gab! Sie amüsierten sich, und
als Wolfgang zum Schluß den Partner mit einem lauten Juchhe in die Höhe
hob und ihn ein paar Mal um sich herumschwenkte, klatschten sie
Beifall.

Wolfgang war nun doch sehr außer Atem. Als sie zum Walde hinaus waren,
mußten sie langsamer gehen; jetzt, in bewohnteren Regionen – schon
tauchten die eleganten Landhäuser auf – hätte man Menschen tottreten
können. Das war eine Fülle! An der Abfahrtstelle der elektrischen Bahn
drängte und drückte es sich. Sie stellten sich auch auf: das war ein
Spaß, zu sehen, wie die Leute, die gerne mitkommen wollten, sich
pufften. Es war noch leidlich hell und warm wie im Sommer, aber rasch
würde es ganz dunkel sein, und je später, desto größer der Ansturm.
Lachend standen die beiden und sahen dem Drängen gelassen zu: was machte
es ihnen aus, wenn sie nicht mitkamen, sie liefen eben das Stückchen zu
Fuß weiter bis nach Hause.

Wolfgang fühlte sein Herz heftig pochen – es hatte ihm doch zu viel
Spaß gemacht, mit Frida zu tanzen! In einem Lokal, in dem im angebauten
Brettersaal ein Klavierspieler aufs Klavier paukte, hatte er Frida ein
paar Mal ordentlich herumgeschwenkt, und auch noch ein paar andre
Mädchen, die verlangend nach dem stürmischen Tänzer gesehen hatten. Es
war eine Lust gewesen. Noch fühlte er den Nachhall davon in sich
zittern, seine Brust hob und senkte sich unruhig – hei, so ein Mädchen
im Arm sich herumschwenken, lustig sein! Wundervoll, es war alles so
wundervoll!

Die Zähne zusammenbeißend, um nicht durch einen lauten, jubelnden
Aufschrei die Blicke auf sich zu lenken, bebte Wolfgang innerlich vor
ungebändigter Lebenslust. Ha, das wäre fein, ha, das wäre eine Wohltat,
jetzt irgendeine Dummheit begehen zu können! Er überlegte: was gab man
jetzt nur an?!

Da störte ihn ein Husten. Wie hohl das klang, als sei inwendig alles
lose! Der junge Mann, der hinter seinem breiten Rücken stand, mochte
wohl eine Weile so gehustet haben – er hatte es nur nicht beachtet –
nun ekelte ihn vor dessen Auswurf. Unwillkürlich wich er zur Seite:
pfui, wie hustete dieser Mensch!

»Ach,« hörte Wolfgang jetzt den älteren Mann sagen, auf dessen Arm der
Hustende sich stützte, »ich bin ganz außer mir, daß keine Droschke zu
bekommen ist! Bist du sehr kaputt? Geht’s noch?« Es lag so viel Angst in
diesem ›Geht’s noch?‹

»O, ganz gut!« Der junge Mensch antwortete mit heiserer Stimme. Wolfgang
merkte auf: diese Stimme war ihm doch bekannt? Und nun erkannte er auch
das Gesicht. War das nicht Kullrich? Donnerwetter, wie der sich aber
verändert hatte! Unwillkürlich lüftete er den Hut: »’n Abend,
Kullrich!«

Jetzt erkannte dieser auch ihn. »Schlieben!« Kullrich lächelte, daß man
all seine Zähne, lang und weiß, hinter den blutlosen Lippen sah. Und
dann reichte er dem früheren Schulkameraden die Hand: »Du bist auch
nicht mehr auf der Schule? Ich auch nicht mehr. Wir haben uns lange
nicht mehr gesehen!«

Wolfgang fühlte die Hand unangenehm feuchtkalt in der seinen, und es
durchrieselte ihn. Daß er einmal gehört hatte, Kullrich hätte die
Schwindsucht, hatte er längst vergessen; nun fiel’s ihm auf einmal
wieder ein. Aber das konnte ja gar nicht sein, so jung stirbt man doch
nicht?! Alles in ihm sträubte sich dagegen.

»Bist du krank gewesen,« fragte er rasch. »Aber jetzt geht’s dir doch
wieder ganz gut?« Es wurde ihm ordentlich schwer, das alte ›du‹ zu
gebrauchen, der Kullrich hier war ihm so fremd.

»O ja, es geht,« sagte Kullrich und lächelte wieder. Ein ganz
merkwürdiges Lächeln, das selbst dem achtlosen jungen Mann auffiel.
Kullrich war nie hübsch gewesen, er hatte eine Kartoffelnase; jetzt
mußte Wolfgang ihn immer ansehen: wieviel feiner war das Gesicht
geworden und so – er konnte nicht an sich halten, er sagte es plötzlich
gerade heraus: »Wie siehst du jetzt aus?! Ich hätte dich beinahe nicht
erkannt!«

»Mein Sohn wird jetzt bald verreisen,« sagte der Vater rasch, und dabei
zog er den Arm seines Jungen fester in den seinen. »Dann kommt er
hoffentlich ganz gesund wieder. Es war so schönes Wetter – viel Luft
und Kiefernduft, sagt der Arzt – wir sind zu lange draußen geblieben.
Es wird dir doch nichts schaden?!« Wieder so viel Angst im Ton. »Ist dir
auch nicht kalt? Willst du dich nicht so lange setzen?« Der Vater
stellte ein Feldstühlchen zur Erde, das er unterm Arm getragen hatte und
klappte es auseinander: »Setz dich doch ’n bißchen, Fritz!«

Der arme Kerl! Der Ton des Vaters, in dem die liebende Angst zitterte,
berührte Wolfgang eigentümlich. Der arme Kerl, der war wahrhaftig doch
sehr krank! Wie schrecklich! Ein Grauen kam ihn an, unwillkürlich zog er
sich zurück, daß ihn der Atem des Kranken nicht treffe; der ganze
Egoismus der Jugend und der Gesundheit war in ihm: wie fatal, daß er
heute, gerade heute dem hier begegnen mußte!

»Kann ich Ihnen vielleicht einen Wagen besorgen?« fragte er rasch – daß
der Kullrich nur fortkam, das Husten war ja gräßlich anzuhören – »ich
weiß hier Bescheid, ich bekomme schon einen!«

Der Vater Kullrich, wie aus einer großen Angst erlöst, sagte aufatmend:
»Ach ja, ach ja! ’ne Droschke, ’ne geschlossene womöglich! Mit der Bahn
kommen wir ja doch nicht mit! Und es wird so spät! Ist dir auch wirklich
nicht kalt, Fritz?!« Ein kühler Wind hatte sich plötzlich erhoben und
der alte Mann zog seinen Überzieher aus und hängte ihn dem Sohn noch um
die Schultern.

Mußte dem scheußlich zumute sein, seinen Jungen so zu sehen, dachte
Wolfgang. Sterben überhaupt, sterben, wie schrecklich! Und wie der Mann
seinen Sohn liebte! Das hörte man am Ton, sah man an den Blicken!

Wolfgang war froh, nach der Droschke umherrennen zu können. Es war jetzt
schwer, eine zu bekommen, er rannte sich völlig außer Atem. Endlich
hatte er einen Wagen. Wie er am Halteplatz der elektrischen Bahn
anlangte, war Herr Kullrich bereits völlig verzweifelt. Er hatte die
Hoffnung schon aufgegeben gehabt, und der Sohn hatte sehr viel
gehustet.

Jetzt löste er sich fast auf in Dankbarkeit. Der einfache Mann – er war
ein Subalternbeamter und hatte es gewiß nicht dazu – versprach dem
Kutscher ein reiches Trinkgeld, wenn er sie nur rasch nach Halensee,
Ringbahnstraße 111, fahren wollte. Er hüllte den Sohn in die Decke, die
auf dem Rücksitz lag; der Kutscher gab noch eine Pferdedecke zu,
Wolfgang wickelte dem Schulkameraden die Beine ein.

»Danke, danke,« sagte Fritz Kullrich matt; er war jetzt ganz
abgefallen.

»Besuchen Sie uns doch mal, Herr Schlieben,« sagte der Vater und drückte
dem Retter die Hand. »Fritz würde sich freuen. Und ich bin Ihnen ja so
dankbar!«

»Aber komm bald,« sprach der Sohn und lächelte wieder sein seltsames
Lächeln. »Adieu!«

»Adieu!« Wolfgang stand und starrte hinter dem rasch davonrollenden
Wagen drein – da fuhr der Kullrich! Seiner Mutter nach.

Die frohe Laune Wolfgangs war verflogen. Als die Genossen des
Nachmittags mit Hallo nach ihm suchten – Hans mußte seine Frida
ordentlich abgeküßt haben, das Hütchen saß ihr schief, ihre Augen
glänzten verliebt –, machte er sich rasch von ihnen frei. Er sagte
ihnen kurz Adieu und ging allein. Der Tod hatte ihn gestreift. Und ein
altes Lied, das er, unter so vielen anderen, einst mit Cilla, dem
Mädchen seiner Kindheit, gesungen hatte, schoß ihm urplötzlich durch den
Sinn. Jetzt verstand er zum ersten Mal die tiefere Bedeutung:

  ›Prahlst du gleich mit deinen Wangen,
  Die wie Milch und Purpur prangen,
  Ach, die Rosen welken bald!‹

Er ging gleich nach Hause, er hatte heute nicht Lust mehr, draußen
herumzubummeln. Und als er so ging mit wiegendem, schlenderndem Gang,
entlegene Wege, in denen es still war, richtete sich etwas auf vor ihm
in der dunklen Färbung des Herbstabends und stellte sich in seinen Weg
– das war eine Frage:

›Und du –?! Wohin du –?!‹

In einer Stimmung, die seltsam weich und versöhnlich war, betrat er das
Elternhaus. Aber als er ins Zimmer trat, saßen die Eltern da wie zu
Gericht.

Käte hatte es nun doch nicht verheimlichen können, es hätte ihr das Herz
abgepreßt, sie hatte jemandem erzählen müssen, was sie beobachtet hatte.
Und Schlieben hatte sich mehr darüber aufgeregt, als seine Frau erwartet
hatte: also in solche Gesellschaft war der Junge geraten?!

»Wo treibst du dich herum?« fuhr er den Sohn an.

Der Eintretende stutzte: was war das für ein Ton, es war doch heute
nicht so spät?! Im Gefühl des Unrechts, das ihm geschah, hob er den
Kopf.

»Sieh mich nicht so unverschämt an!« Den Vater verließ die Beherrschung.
»Wer ist das Frauenzimmer, mit dem du dich herumtreibst?«

Herumtreibst – Frauenzimmer?! Dem jungen Menschen schoß das Blut heiß
zu Kopf. Frida Lämke ein Frauenzimmer – das war toll! »Sie ist kein
Frauenzimmer!« brauste er auf. Und dann: »Ich habe mich nicht
herumgetrieben!«

»Nun, nun, ich habe –« Schlieben verbesserte sich rasch, er konnte doch
nicht sagen: ›=ich= habe dich gesehen‹ – so sagte er: »Wir haben dich
gesehen!«

Wolfgang wurde sehr rot. Aha – sie hatten ihn belauert – heute wohl –
waren ihm nachgeschlichen?! Nicht einmal weit draußen war man sicher vor
ihren Späherblicken! Er war empört. »Wie kannst du sagen ›Frauenzimmer‹!
Sie ist kein Frauenzimmer!«

»So – was ist sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Meine Freundin!«

»Deine Freundin?!« Der Vater lachte ein kurzes zorniges Lachen.
»Freundin – nun ja, aber für dich ist das denn doch noch ein wenig
früh! Ich verbiete dir solche Freundinnen zweifelhaften, mehr als
zweifelhaften Genres!«

»Sie ist nicht zweifelhaft!« Wolfgangs Augen funkelten. Wie recht hatte
Frau Lämke, die neulich, als er sie wiederum besuchte, gesagt hatte: »So
sehr ick mir ooch freue, kommen Se doch nich zu oft, Wolfjang. Frida is
man ’n armes Mädchen, un bei so einer wird gleich was gered’t!«

Nein, hier gab’s nichts anzuzweifeln! Bleich vor Wut starrte der Sohn
dem Vater in die Augen. »Sie ist ein so anständiges Mädchen, wie es nur
eines gibt! Wie darfst du so von ihr sprechen?! Wie darfst du dich unter
–« Er stockte, er war zu wütend, die Stimme versagte ihm.

»›Unterstehen‹ – sag’s nur heraus, ›unterstehen‹!« Schlieben
beherrschte sich jetzt mehr, er war etwas ruhiger geworden, denn was er
auf seines Jungen Gesicht sah, dünkte ihn ehrliche Entrüstung. Nein,
ganz verdorben war der doch noch nicht, der war wohl nur verführt,
solche Frauenzimmer hängen sich ja mit Vorliebe an noch sehr junge
Leute! Und er sagte mit einer gutgemeinten Überredung: »Mache dich los
von der Geschichte, so bald als möglich. Du ersparst dir viel
Unangenehmes. Ich will dir wohl helfen dabei!«

»Danke!« Der junge Mensch steckte die Hände in die Hosentaschen und
stellte sich breitbeinig auf.

Die weiche Stimmung war längst verflogen, die hatte Wolfgang sofort
verloren beim ersten Schritt ins Zimmer; nun war er recht in der Laune,
sich nichts, aber auch gar nichts gefallen zu lassen. Sie hatten Frida
beschimpft!

»Wo wohnt sie?« fragte der Vater.

»Ja, das möchtest du wohl wissen!« Der Sohn lachte höhnisch auf; er
empfand eine gewisse Genugtuung, ihrer Neugier das vorzuenthalten. Das
würden sie nie erfahren! Das hatte er ja gar nicht nötig, sie wissen zu
lassen! Protzig warf er den Kopf in den Nacken und antwortete nicht.

O Gott, was war aus dem Jungen geworden! Ganz entsetzt starrte Käte
drein: er hatte sich ja völlig gewandelt, war ein ganz, ganz andrer
geworden! Aber dann kam die Erinnerung – sie hatte ihn doch einmal so
sehr geliebt – und der Schmerz, ihn gänzlich und auf immer verloren zu
haben. »Wolfgang, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wolfgang, wir
meinen es doch so gut mit dir!«

Er maß sie mit einem unerklärlichen Blick. Und dann sah er an ihr vorbei
ins Leere hinaus.

»Es wäre besser, ich wäre gar nicht da!« stieß er plötzlich hervor, ganz
unvermittelt. Es wollte trotzig klingen, aber der Trotz erstickte im
jähen Ausbruch einer schmerzlichen Erkenntnis.

       *       *       *       *       *




4


Sie waren übereingekommen, daß Wolfgang nun nicht mehr draußen bei ihnen
in der Villa wohnen sollte. Er war zwar noch sehr jung, aber die Zeit
zur Selbständigkeit war da, das sahen die Eltern ein. Zwei hübsch
möblierte Zimmer wurden gemietet in der Nähe des Geschäfts – Wolfgang
sollte jetzt entschieden fleißiger heran – sonst mochte er unbehelligt
sein. Dies späte Nachhausekommen, diese verantwortliche Kontrolle –
nein, es ging nicht an, daß Käte sich völlig aufrieb! In tiefer
Resignation hatte Schlieben diesen Schritt getan.

Und es schien, als sollten wirklich jetzt ruhigere, friedlichere Tage
über die Villa Schlieben kommen. Der Winter war da, und der Schnee war
eine so weiche, deckende Hülle für manche begrabene Hoffnung.

Wolfgang kam zu Besuch heraus; nicht zu oft, den Vater sah er ja ohnehin
täglich im Kontor. Daß es die Mutter doch verlangte, ihn öfter zu sehen,
schien er nicht zu ahnen. Sie ließ es ihn auch nicht merken. Sollte sie
etwa betteln: ›Komm öfter?!‹ Nein, sie hatte schon allzuviel gebettelt
– Jahre, fast achtzehn Jahre lang –, und mit Bitterkeit sagte sie
sich: ›Verlorene Müh!‹

Wenn er herauskam, waren sie freundlich miteinander; die Mutter sorgte
nach wie vor für tadellose Anzüge, für die bestgeplätteten Oberhemden,
für die feinen Batistnachthemden und die hohen Kragen. Daß er oft nicht
so aussah, wie er hätte aussehen müssen, war nicht ihre Schuld. Es lag
auch vielleicht nicht an seiner Kleidung, es lag vielmehr an seiner
abgespannten Miene, seinen müden Augen, an seiner ganzen nachlässigen
Haltung; er ließ sich hängen, verbummelt sah er aus.

Die Eheleute sprachen aber nicht miteinander darüber. ›Wenn er nur erst
zum Militär käme,‹ dachte Schlieben. Von dem Muß, von der strengen
Regelung im Dienst erhoffte er eine Regelung des ganzen Lebens; was sie,
die Eltern, mit aller Sorgfalt nicht zuwege gebracht hatten, würde der
Drill schon fertig bringen! Zum April sollte sich Wolfgang stellen.
Jetzt, zur Winterszeit, hielt er zwar regelmäßiger und gewissenhafter
die Kontorstunden ein, aber, aber wie sah er oft morgens aus!
Entsetzlich blaß, förmlich fahl. ›Verkatert!‹ Mit einem Kopfschütteln
stellte das der Vater fest, aber er sagte nichts zum Sohn darüber; wozu
auch, es würde nur eine unangenehme Szene geben, die nichts mehr nutzte,
die höchstens nur noch mehr verdarb. Sie standen eben nicht mehr auf
gemeinsamem Boden.

Und so ging es weiter, ohne sonderliche Erregung, aber sie litten doch
alle drei; auch der Sohn.

Frida glaubte Wolfgang oft eine Verstimmung anzumerken. Zuweilen ging er
mit ihr ins Theater, ›was zu lachen‹ mochte sie so gern; aber er lachte
nicht mit, lachte selbst dann nicht, wenn ihr die Lachtränen über die
Wangen liefen. Sie konnte sich ordentlich darüber ärgern, daß er so
wenig Sinn für was Lustiges hatte.

»Amüsierst du dich denn nich?«

»Na, mäßig!«

»Bist du denn krank?« fragte sie ganz erschrocken.

»Nein!«

»Na, was haste denn?«

Dann zuckte er die Achseln, war so abweisend, daß sie ihn nicht weiter
ausforschte, ihm nur die Hand drückte und ihm versicherte, sie amüsiere
sich köstlich.

Nach und nach versiegten diese Theatereinladungen, die meist so hübsch
mit einem Plauderstündchen in irgend einem Bier- oder Weinlokal geendet
hatten. Frida sah den Freund überhaupt jetzt selten, nie mehr holte er
sie an ihrem Geschäft ab, und in der Wohnung der Mutter ließ er sich
auch nicht mehr sehen.

»Wer weeß ooch,« sagte Mutter Lämke, »ob er sich nich bald verloben tut.
Er hat gewiß eene uf ’n Kieker!«

Frida warf die Lippen auf, sie schmollte, daß Wolfgang sich gar nicht
sehen ließ. Was hatte er bloß?! Sie fing an, ihm nachzuspionieren; aber
nicht nur aus Neugier.

Und noch eine andre forschte seinen Wegen nach – das war die Mutter.
Wenigstens versuchte sie, ihm nachzuforschen. Aber nur das brachte sie
in Erfahrung, daß man ihn einmal in einem der kleinen Theater mit einer
hübschen Person gesehen hatte, einer Blondine, die recht auffallend
frisiert gewesen war. Ah, das war dieselbe von Schildhorn! Noch immer
sah sie das blonde Haar im scheidenden Abendlicht glänzen – die war
sein Unheil!

Mit einem Spürsinn, der einem Polizisten Ehre gemacht hätte, forschte
die Mutter dem Sohne nach. Hätte Schlieben eine Ahnung davon gehabt, wie
oft, zu allen Tages- und Abendzeiten, seine Frau um Wolfgangs Wohnung
strich, er wäre dem auf das entschiedenste entgegengetreten. Der
brennende Drang, von Wolfgang zu hören, von ihm zu wissen, ließ Käte die
eigene Würde vergessen; mehr als einmal ging sie, während sie ihn
abwesend wußte, hinauf in seine Wohnung, angeblich, um ihm dieses oder
jenes zu bringen. Aber war sie dann allein – die schwatzhafte Wirtin
wußte sie sich vom Halse zu halten –, so fuhr sie mit forschenden Augen
in beiden Zimmern umher, spähte auf seinen Schreibtisch, wendete sogar
jedes Blättchen Papier. Sie kam hier oben gar nicht zur Besinnung ihres
Tuns, ging sie aber wieder die Treppe hinab, dann kam ihr das Gefühl
eigner Erniedrigung; sie wurde rot und schämte sich vor sich selber und
schwor sich’s zu mit hundert Eiden, dies nie, nie wieder zu tun. Und tat
es doch wieder. Es war ihr eine Qual, und sie konnte es doch nicht
lassen.

An einem kalten Wintertag war es – schon Abend, nicht spät für Berliner
Begriffe, aber doch immerhin schon Ladenschluß, und Theater und Konzerte
hatten längst begonnen – als Frau Schlieben noch in der Wohnung ihres
Sohnes saß. Acht Tage war er nicht draußen bei ihr gewesen – warum
nicht?! Eine große Unruhe hatte sie heute plötzlich gepackt, sie hatte
hin zu ihm müssen. Ihr Mann wähnte sie in der Hauptmann-Premiere –
dahin konnte sie ja auch noch später gehen – Wolfgang mußte jetzt doch
gleich nach Hause kommen! Auf ihr fragendes Briefchen hatte er
geantwortet: er sei erkältet und halte sich abends zu Hause. Nun, sie
wollte es ja auch gar nicht, daß er zu ihr hinauskam und sich noch
erkältete, aber es war wohl natürlich, daß sie nun einmal nach ihm sah!
Sie machte sich selber etwas vor.

Und so wartete sie und wartete. Die Zeit verstrich sehr langsam. Gegen
sieben Uhr war sie gekommen, jetzt war es bereits neun. Zum so und
sovielten Male hatte sie die beiden Zimmer durchmustert, am Fenster
gestanden, zerstreut auf das Straßengewühl hinabgeblickt, sich
hingesetzt, sich wieder erhoben und wieder hingesetzt. Jetzt ging sie in
rastloser Unruhe auf und nieder. Die Wirtin war schon ein paar Mal
hereingekommen und hatte sich drinnen zu schaffen gemacht; die
neugierig-forschenden Blicke wären Käte sonst lästig gewesen, jetzt
achtete sie gar nicht auf diese. Noch konnte sie sich nicht
entschließen, fortzugehen – wenn er krank war, warum kam er dann nicht
nach Hause?! Ihre Unruhe wuchs. Es lastete auf ihr wie die Vorahnung
eines nahenden Unheils. Nun mußte sie aber wirklich die Wirtin fragen –
schon zehn Uhr –, kam er denn immer so spät, trotz seiner Erkältung?!
Sie klingelte nach der Frau.

Diese kam, innerlich sehr gereizt: warum hatte Frau Schlieben sie denn
nicht längst ins Vertrauen gezogen?! Ei, nun konnte die lange warten,
die hochmütige Liese!

»Mein Sohn kommt wohl immer spät?« fragte Käte. Ihre Stimme klang
gemacht ruhig: sie durfte doch solch eine Frau nicht merken lassen, wie
unruhig sie eigentlich war.

»Na,« sagte die Wirtin, »mal so, mal so!«

»Ich wundere mich nur, daß er heute so spät kommt bei seiner
Erkältung!«

»So – ist der junge Herr erkältet?«

Wie, die Frau, bei der Wolfgang nun schon fast ein Vierteljahr wohnte,
wußte so wenig von ihm?! Und sie hatte doch versprochen, besonders gut
für ihn zu sorgen! »Sie müssen ihm abends eine Wärmflasche machen. Es
ist kalt hier im Zimmer.« Fröstelnd rieb sich Käte die Hände. »Und
bringen Sie ihm morgens vor dem Aufstehen ein Glas Emser mit heißer
Milch!«

Die Wirtin hörte sofort den gar nicht ausgesprochenen Vorwurf heraus und
wurde noch gereizter. »Na, wenn er überhaupt nich nach Hause kommt, kann
ich ihm doch abends keine Wärmkruke machen und morgens keine heiße
Milch!«

Wie – gar nicht nach Hause kommt?! Käte glaubte nicht recht verstanden
zu haben. Sie sah die Frau mit großen Augen an. »Überhaupt nicht nach
Hause kommt!«

Die Frau nickte: »Ich sage Ihnen, werte Dame, möbliert vermieten ist
kein Spaß, da muß man vieles mit in Kauf nehmen. So ’ne junge Herren –
na, ich sage schon!« Sie lachte, halb ärgerlich, halb belustigt auf. »Da
hatte ich mal einen, der blieb gleich ganze acht Tage weg – der erste
war vor der Tür, ich hatte Angst um meine Miete – ich mußte nach der
Polizei gehen!«

»Wo war er denn – wo war er denn?!« Kätes Stimme schwankte.

Die Frau lachte: »Na, da fand er sich denn wieder an!« Sie sah die Angst
der Mutter, und ihre Gutmütigkeit siegte über ihre Schadenfreude. »Der
kommt schon wieder, gnä’ Frau,« sagte sie beruhigend. »Sie kommen alle
wieder. Haben Sie man keine Angst. Und Herr Schlieben ist ja auch erst
zwei Tage weg!«

Zwei Tage weg – zwei Tage?! Zwei Tage war’s her, daß er auf ihr
Briefchen geantwortet hatte: er sei erkältet und müsse sich zu Hause
halten! Wie eine Irre sah Käte um sich, ganz verstörten Blickes. Wo war
er denn gewesen, diese ganzen zwei Tage? Nicht hier und nicht bei ihr –
o, bei ihr schon seit acht Tagen nicht! Im Geschäft mußte er aber noch
gewesen sein, sonst hätte Paul doch darüber gesprochen. Aber wo war er
die ganze übrige Zeit? Das waren doch immer nur ein paar Stunden. Und
ein Tag ist lang. Und die Nächte, die Nächte! Herrgott, die Nächte, wo
war er die Nächte?!

Käte hätte laut herausschreien mögen, aber die Wirtin sah sie an mit so
neugierigen, harten Augen, daß sie, die Nägel der einen Hand in die
Innenfläche der andern grabend, sich bezwang. Aber ihr Sprechen war nur
ein Flüstern mehr: »Ist er denn seit zwei Tagen gar nicht zu Hause
gewesen?«

»Nee, gar nich! Aber warten Sie mal!« Die Lust am Schwatzen machte alle
vorgenommene Zurückhaltung der Wirtin zuschanden. Der auf einen Stuhl
Hingesunkenen nähertretend und sich einen Stuhl heranziehend, schwatzte
sie umständlich: »Sonntag war’s – nee, Sonnabend merkt ich schon: der
hat was. Ja, das ist einer, ein ganz forscher! Rein verrückt war
er!«

»Wieso denn?! ›Verrückt‹, sagen Sie?!«

Die Vermieterin lachte. »Ach, so mein ich ja gar nich, das müssen Sie
nich gleich so wörtlich nehmen, gnä’ Frau! Na, ebent so – na, wie soll
ich denn schon sagen? – na, so wie sie dann alle sind! Na, und abends
ging er dann wie gewöhnlich weg – na, und dann kam er ebent nich mehr
zu Hause!«

»Und wie – wie war er –?!« Ruckweise nur stieß die Mutter die Worte
hervor, sie konnte gar nicht zusammenhängend mehr sprechen, ein sie
plötzlich überfallender Schreck lahmte fast ihre Zunge. »War er – etwa
verstört?!« Wie eine Vision tauchte sein fahles Gesicht vor ihr auf, und
da bei Schildhorn der verwehte Platz im Sand – mancher Mutter Sohn,
mancher Mutter Sohn – Gott, Gott, wenn er sich ein Leides getan hätte!
Sie zitterte wie Laub im Sturm und sank ganz in sich zusammen.

Die Wirtin erriet instinktiv der Mutter Gedanken; gutmütig-beruhigend
versicherte sie: »Nee, gar nich an zu denken! Der war nich traurig –
auch nich grade vergnügt – na, so – so – na, grade so in der
richtigen Stimmung!«

»Und Sie – ach, können Sie mir nicht einen – einen Wink geben – wo –
wo er hin – sein könnte?«

Die Frau wiegte zweifelnd den Kopf: »Wer kann das wissen! Sehen Sie,
gnä’ Frau, der Versuchungen gibt’s gar viele. Aber, warten Sie mal!« Sie
kniff die Augen zu und dachte nach. »Da kam mal vor einiger Zeit immer
so’n hübsches Mädchen her, sie holte ihn immer ab, sie sagte ›zum
Theater‹ – na, es kann ja auch wahr gewesen sein! Oft kam sie, sehr oft
– mindestens einmal die Woche! Blond war sie, wirklich ’n hübsches
Mädchen!«

»Blond – ganz hellblond – viel Haar, wellig über den Ohren?!«

»Ja ja, so war sie frisiert, über die Ohren gekämmt, hinten ’nen
mächtigen Knoten – so recht auffallend hellblond! Und sie duzten
sich!«

Blondes Haar – auffallend blond! Ah, das hatte sie damals gleich
gewußt, als sie ihn in Schildhorn sah mit der Blonden! Wie eine
Erleuchtung kam es über Käte. »Sie – wissen wohl nicht – ach, wissen
Sie vielleicht, wie sie heißt?«

»Er sagte ›Frida‹ zu ihr!«

»Frida?!«

»Ja, Frida! Das weiß ich bestimmt. Nu kommt sie aber nich mehr.
Vielleicht aber, daß er ’nen Brief von ihr gekriegt hat. Ich will mal
nachsehen, warten Sie mal!« Und die Frau bückte sich, zog unterm
Schreibtisch den Papierkorb vor und fing an darin zu wühlen.

»Er schmeißt nämlich allens in den Papierkorb,« sagte sie erklärend.

Freilich, da hatte sie noch nicht gesucht! Mit starren Augen sah Käte
zu, wie die Frau mit geübten Fingern alle Papierblätter wendete.
Plötzlich schrie die auf: »Na, sehen Sie, da haben wir’s!« Und vor die
Mutter legte sie triumphierend ein paar Papierfetzen auf den Tisch: »Da
is ’n Brief von ihr. Sehen Sie! Ich kenne die Schrift. Woll’n mal
sehen!«

Beide Frauen, die Köpfe zusammensteckend, versuchten, die einzelnen
Stücke des zerrissenen Briefes zusammenzufügen; es gelang aber nicht, es
fehlte zu viel, nur ein paar Sätze waren halb zusammen zu bringen.

  ›nicht mehr kommst –
  böse mit dir –
  nächstens zu dir abends ’rauf –
  immer deine‹

Doch da, halt, da war die Unterschrift! Die war nicht durchrissen, groß
und zusammenhängend stand sie unten auf dem Briefbogen:

    immer

      Deine Frida Lämke!

»Frida Lämke –?!« Käte schrie laut auf vor Überraschung. Frida Lämke –
nein, das hätte sie nie gedacht – oder gab es vielleicht zwei gleichen
Namens? Dieses blonde Kind, das einst bei ihr im Garten gespielt hatte?!
Aber ja, ja, dreiste Augen hatte die immer gehabt!

»Sie kennen die wohl?« fragte die Wirtin, und die Augen funkelten ihr
vor Neugier.

Käte gab keine Antwort. Vor sich hinbrütend stierte sie auf den Teppich:
war das nun schlimmer – oder war das weniger schlimm? Konnte es nun
nicht noch verhindert werden, nun, da sie die Fährte hatte, oder war
alles verloren?! Sie wußte es nicht; verständig überlegen konnte sie
überhaupt nicht mehr, nicht einmal mehr denken. Sie hatte nur den Trieb:
hin, hin zu den Lämkes! Nur hin, so rasch wie möglich hin! Aufspringend
sagte sie hastig: »Schon gut, schon gut – danke! Ah, es ist alles in
Ordnung!« Und an der verdutzten Frau vorübereilend, hastete sie zur Tür
und die Treppe hinunter. Gerade öffnete unten jemand von außen die
verschlossene Haustür; so kam sie hinaus.

Nun war sie auf der Straße. So ganz allein hatte sie um diese Zeit noch
nie auf der Friedrichstraße gestanden; ihr Mann hatte sie immer
begleitet, und war sie einmal allein ins Theater oder Konzert gegangen,
hatte er sie immer selber abgeholt oder mindestens von Friedrich abholen
lassen. Nun kam sie’s plötzlich wie eine Furcht an, trotzdem die schöne
Straße taghell erleuchtet war.

So viele Männer, so viele Frauen! Wie ein Strom flutete es an Käte
vorüber, sie wurde mitgerissen. Gleich Wellen umwogten sie Gestalten –
raschelnde Frauenröcke, die stark nach Parfüm dufteten, und Herren,
Männer, junge und alte, Greise und Jünglinge und kaum dem Knabenalter
Entwachsene. Das war ja hier wie ein Korso – was suchten die hier
alle?! Das war also das vielgerühmte und amüsante Nachtleben Berlins?
Schrecklich war es, o, über alle Maßen abscheulich!

Alles sah Käte auf einmal nur aus dem einen Gesichtspunkt. Bisher war
sie ja blind gewesen, ahnungslos wie ein Kind. Der Helm eines
Schutzmanns tauchte auf. Sie floh dahin wie eine Gejagte: der konnte ja
nicht sehen, daß sie graue Haare hatte, und daß sie eine Dame war! Der
hielt sie vielleicht auch für eine solche, für eine von denen hier! Nur
fort, fort!

Sie stürzte sich in eine Droschke, sie fiel mehr in den aufgerissenen
Schlag, als daß sie hineinstieg. Mit zitternder Stimme nannte sie dem
Kutscher ihre Adresse. Eine glühende Sehnsucht überkam sie plötzlich:
nach Haus, nur nach Haus! Heim in ihr reinliches, geordnetes Haus, in
die Mauern, die wie ein Schutz sie umgaben! Nein, er durfte nicht mehr
hinein in ihr reines Haus, seinen Schmutz nicht mit in dessen Räume
tragen!

Ganz in eine Ecke geschmiegt, die zuckenden Lider krampfhaft zugepreßt,
machte sie die weite Fahrt; heute kam ihr die schier endlos vor. Wie
langsam fuhr die Droschke! Ach, was würde Paul sagen, er würde sich
ängstigen, daß sie so spät kam!

Und Käte wünschte plötzlich, sich in die Arme ihres Mannes zu flüchten,
Schutz zu suchen an seiner Brust. Daß sie gleich hatte zu Lämkes
hingehen wollen, hatte sie ganz vergessen. Wie konnte sie auch, es war
ja bald Mitternacht, und wer weiß, vielleicht traf sie da auch nur eine
Mutter, ebenso unglücklich wie sie selber es war?! Verlorene Kinder –
ach, man weiß nicht, was schrecklicher ist: verlorener Sohn – verlorene
Tochter?!

Käte weinte bitterlich. Aber als die Tränen unter ihren geschlossenen
Lidern sich vorstahlen und über ihre Wangen rannen, wurde sie ruhiger.
Nun, da sie den großen Zug der Straße nicht mehr sah, ihr nächtliches
Wehen nicht mehr spürte, schwand ihre Furcht. Der Mut wuchs ihr wieder;
und mit dem gestärkten Mut wuchs ihr eine Erkenntnis: sie war eben nur
eine schwache und ängstliche Frau, er aber war doch ein rüstiger Junge,
der ein Mann werden sollte, ein starker Schwimmer. Noch brauchte man
nicht ganz zu verzweifeln!

Als die ersten Kiefern der stillen Kolonie rechts und links an ihr
vorbeiglitten und der Mondschein ihr auf den Ästen ein reines Weiß
zeigte, hatte Käte ihren Entschluß gefaßt: morgen würde sie zu Lämkes
gehen und würde mit der Mutter sprechen, und ihrem Manne würde sie
vorderhand noch nichts sagen. Dieselbe Scheu, die sie jetzt so oft
verstummen ließ vor ihm, kam sie wieder an: er würde ja doch nicht so
empfinden, wie sie empfand. Mit rauher Hand vielleicht würde er den Sohn
anfassen, und das durfte nicht sein; noch war sie da und berufen, mit
linder Hand dem Strauchelnden zu helfen!

Ganz ruhig schritt Käte ihrem Manne entgegen, so gelassen, daß er ihr
nichts anmerkte. Aber als sie am nächsten Tag den Weg zu Lämkes antrat,
klopfte ihr das Herz doch wieder so zitternd-unruhig wie vordem. Den
ganzen Morgen hatte sie gegen Scheu und Kleinmut gerungen; nun war es
darüber fast Mittag geworden. Paul hatte ihr beim Frühstück erzählt, daß
Wolfgang gestern gar nicht ins Geschäft gekommen, nachdem er den Tag
vorher auch nur ganz kurz dagewesen sei. »Ich weiß nicht, was mit dem
Jungen los ist,« hatte er gesagt. »Ich bin zu ärgerlich auf ihn. Aber
man müßte sich doch wohl mal um ihn kümmern!«

»Das werde ich auch,« hatte sie darauf geantwortet.

Die Füße trugen sie kaum, als sie langsam ihren Weg schlich, zuletzt
aber lief sie fast: er war doch ihr Kind lange, lange Jahre gewesen, und
sie hatte einen Teil der Verantwortung! Sie fragte sich jetzt nicht
mehr, wie sie eigentlich bei Frau Lämke die Unterredung beginnen sollte,
sie hoffte, daß der Augenblick ihr das rechte Wort geben werde.

So tappte sie die dunklen Stufen zu Lämkes Portierwohnung hinab und
klopfte und trat zugleich ein, ohne das Herein abgewartet zu haben.

Frau Lämke wischte gerade den Boden auf, der Schrubber entfiel ihrer
Hand, geschwind ließ sie ihr rundum hochgenommenes Kleid herab: die
gnädige Frau, die Frau Schlieben?! Was wollte die denn bei ihr?! Das
blasse, mager gewordene Gesicht mit den harmlosen Augen blickte die
Eintretende völlig verdutzt an.

»Guten Tag, Frau Lämke,« sagte Käte ganz freundlich. »Ist Ihre Tochter
Frida zu Haus? Ich muß sie sprechen!«

»Nee, Frida is nich zu Hause!« Die Lämke blickte noch verdutzter: was
wollte die gnädige Frau denn von Frida? Um die hatte sie sich noch nie
gekümmert! »Frida is ins Jeschäft!«

»So? Wissen Sie das ganz genau?«

Es lag etwas Anzügliches in dieser Art des Fragens, aber Frau Lämke
merkte nichts in ihrer Harmlosigkeit. »Frida is immer noch nich aus’s
Jeschäft ßurück um die Zeit, aber in ’ne kleine halbe Stunde kann se
woll hier sein. Se hat zwei Stunden Mittag; Abend kommt se erst jejen
zehne, denn um neune machen se man erst ßu. Aber wenn se nach Tische mal
bei die gnädige Frau vorkommen soll,« – Frau Lämke war zu neugierig:
was wollte die bloß von Frida? – »recht jerne!«

»Sie kommt in einer halben Stunde, sagen Sie?«

»Jawoll! Es pressiert ihr immer sehr, daß se bei Muttern kommt – un
denn der Hunger!«

»Wenn Sie gestatten, werde ich auf sie warten,« sagte Käte.

»Bitte, nehmen Sie jefälligst Platz!« Eilfertig wischte Frau Lämke mit
ihrer Schürze über einen Stuhl: das war doch immerhin eine Ehre, daß
Wolfgangs Mutter zu Frida hier in den Keller kam! Und mit einer Stimme,
der man den herzlichen Anteil anmerkte, fragte sie: »Wie jeht’s denn dem
jungen Herrn, wenn ich fragen darf, is er denn recht munter?«

Käte blieb die Antwort schuldig: das war denn doch eine zu große
Frechheit, eine ganz unglaubliche Frechheit! Wie konnte die nur so
unverfroren fragen?! Aber dann kam ihr auf einmal ein Zweifel: wußte die
denn überhaupt etwas? Sie sah in die harmlosen Augen. Diese hier war
wohl auch hintergangen, wie sie hintergangen worden war! Sie hatte nicht
das Herz, ein aufklärendes Wort zu sprechen – arme Mutter! So nickte
sie nur und sagte ausweichend: »Danke!«

Sie schwiegen, beide in einer gewissen Verlegenheit. Frau Lämke schälte
Kartoffeln zum Mittag und setzte sie auf und warf ab und zu einen
verstohlenen Blick auf die wartende Dame. Käte war blaß und gähnte
verstohlen, ihrer Aufregung war eine ungeheure Abspannung gefolgt. Sie
wartete ja vergeblich! Und diese Mutter hier würde heute auch vergeblich
warten! Das Mädchen, diese heuchlerische Kreatur, kam ja nicht! Wie Wut
packte es Käte, wenn sie an des Mädchens blondes Haar dachte. Das hatte
ihren Jungen verführt, ihn umstrickt – nun kam er vielleicht nicht mehr
los! ›Immer deine – deine Frida Lämke‹ – ein Schmollen war in dem
Brief gewesen, wahrscheinlich hat er sich zurückziehen wollen, aber –
›wenn du nicht kommst, komme ich zu dir‹ – o, die würde sich wohl
hüten, ihn loszulassen, die hielt fest!

Käte glaubte nicht mehr daran, daß Frida Lämke nach Hause kommen würde.
Es ging schon auf zwei Uhr: die Mutter log, die steckte vielleicht doch
mit unter der Decke!

Aber jetzt fuhr Käte zusammen, ein Tritt ließ sich auf der Kellertreppe
vernehmen, bei dem die Mutter erfreut sagte: »Das ’s Frida!«

Draußen trällerte ein Liedchen – nun ging die Tür auf.

Frida Lämke trug jetzt statt des kleinen Matrosenstrohhutes ein dunkles
Pelzbarett auf den blonden Haaren; der Pelz war unecht, aber sie hatte
ein paar Taubenflügel an der Seite stecken, und das Mützchen saß ihr
schick über dem kecken Gesicht.

In höchster Erregung stand Käte; sie war aufgesprungen und sah das
Mädchen an mit brennenden Augen. Da war sie – wahrhaftig – doch
gekommen! Die war hier – aber Wolfgang, wo war der?! Sie schrie
förmlich das Mädchen an: »Wissen Sie, wo mein Sohn ist – Wolfgang –
Wolfgang Schlieben?!«

Der überraschten Frida rosiges Gesicht wurde blaß. Sie wollte etwas
sagen, stotterte, stockte, biß sich dann auf die Lippen und wurde
dunkelrot. »Woher soll ich das wissen? Ich weiß doch nicht!«

»Sie wissen es wohl! Lügen Sie doch nicht!« Mit Heftigkeit faßte die
Frau Frida bei beiden Armen. Ins blonde Haar hätte sie ihr greifen mögen
und beim Dranreißen laut schreien: ›Mein Junge! Gib mir meinen Jungen
wieder!‹ Aber sie fand nicht die Kraft, diese schlanken Mädchenarme so
lange zu schütteln und zu rütteln, bis ein Bekenntnis herausgezwungen
war.

Die blauen Augen Fridas hatten sie ganz offen angesehen, vollständig
freimütig, wenn auch eine leise Unruhe in dem Blicke lag. »Ich habe ihn
lange nicht jesehen, jnädige Frau,« sagte Frida ehrlich. Und dann ward
ihr Ton leiser, eine gewisse Besorgnis lag darin: »Sonst kam er wohl,
aber jetzt kommt er jar nich mehr – nich wahr, Mutter?!«

Frau Lämke schüttelte den Kopf: »Nee, jar nich mehr!« Ihr war gar nicht
recht wohl zumute, das kam ihr alles so seltsam vor: Frau Schlieben hier
im Keller, und was wollte die denn von Frida?! Da ging was vor, da war
was nicht richtig! Aber was auch immer sein mochte, ihre Frida war
unschuldig, das mußte Frau Schlieben wissen! Und so faßte sie sich denn
ein Herz: »Wenn Sie etwa jlauben, jnädige Frau, daß da meine Frida
mittenmank is, da irren Se sich aber! Meine Frida jeht schonst lange mit
dem Flebbe – Hans Flebbe, dem Sohn vom Kutscher, er is nu Matrialist –
un überhaupt, Frida is ’n anständijet Mächen – was denken Sie wohl von
meiner Tochter? Herrje, det ’s aber immer so, ’n Mächen aus unserm
Stande, die kann ja nich anständig sein, nee!« Die gekränkte Mutter
wurde jetzt geradezu ausfallend. »Meine Frida war ’ne sehr jute Freundin
von Ihren Wolfjang, un ich bin ihn ja ooch janz jut – als ich in ’n
Sommer so elend war, hat er mir doch fufzig Mark geschickt, daß ich
konnte nach Fangschleuse ßiehn, drei Wochen, un mir erholen – aber nu
soll er mir mal wieder kommen, ’raus schmeiß ich ihn, den Bengel!« In
ihrer unbestimmten Angst, daß man ihrer Frida etwas nachsagen könnte,
wurde ihr blasses Gesicht heiß und rot.

Frida flog auf sie zu und faßte sie mit einem Arm um die Schultern:
Ȁrjere dich doch nich, Mutter! Du sollst dich doch nich aufregen, sonst
schlägt’s dir wieder auf ’n Magen!«

Frida wurde jetzt ganz energisch; ihre Mutter noch immer um die
Schultern gefaßt haltend, drehte sie den blonden Kopf nach Frau
Schlieben: »Jnädige Frau, da müssen Sie sich schon an ’ne andre Adresse
wenden. Ich kann Ihnen nichts über Ihren Herrn Sohn sagen. Mutter un ich
haben noch neulich drüber jesprochen, daß er nu jar nich mehr kommt. Un
ich habe ihm noch jerade ’n Briefchen jeschrieben, er soll uns doch mal
besuchen – weil ich ihn doch ewig nich jesehen hatte und – und – na,
weil er doch sonst jerne mit mir zusammen war! Aber er hat mir jar nich
drauf jeantwortet. Ich habe ihm doch nischt jetan! Er hat sich aber
ebent sehr verändert!« Sie setzte eine altkluge Miene auf: »Jnädige
Frau, ich jlaube, es wäre doch besser, wenn er noch bei Ihnen wohnte!«

Käte sah sie starr an: was ahnte die – was wußte die – wußte die
überhaupt etwas?! Zweifel stiegen in ihr auf, und dann kam ihr die
Gewißheit: dieses Mädchen hier war harmlos, sonst hätte es so nicht
sprechen können! Die Abgefeimteste konnte so treuherzig nicht
dreinblicken! Und sie gestand es ja auch ganz von selber offen ein, daß
sie neulich an Wolfgang geschrieben hatte – nein, so schlecht war die
hier nicht, eine andere mit blondem Haar mußte es sein! Aber wo war die
zu suchen – wo, wo Wolfgang zu finden?!

Und die Hände wie abbittend gegen das Mädchen hebend, sagte sie in einem
jammervollen Ton: »Aber wissen Sie denn gar nicht, haben Sie denn gar
keine Ahnung, wo er hin sein könnte? Gestern waren es zwei Tage, daß er
fort ist – verschwunden – ganz verschwunden, seine Wirtin weiß nicht,
wohin!«

»Ganz fort – seit zwei Tagen schon?!« Frida riß die Augen weit auf.

»Ich sagte es Ihnen ja schon – darum frage ich Sie ja – er ist fort,
ganz fort!«

Eine wilde Ungeduld kam über die Mutter, und zugleich die ganze
Erkenntnis ihrer peinvollen Lage, sie schlug die Hände vors Gesicht und
stöhnte laut auf.

Mutter und Tochter Lämke wechselten mitleidsvolle Blicke. Frida wurde
blaß und rot, es war, als ob sich ihr etwas auf die Lippen drängen
wollte, aber sie schwieg doch.

»Schlecht is er aber doch nich, nee, schlecht is er nich,« flüsterte
Frau Lämke.

»Wer sagt, daß er schlecht ist?!« Käte fuhr auf, ließ die Hände vom
Gesicht sinken; der ganze Gram langer Jahre und die ganze
Hoffnungslosigkeit lag in ihrem Ton: »Verführt ist er, verirrt, –
verloren, verloren!«

Frida weinte laut heraus: »Ach, sagen Sie das nich! Er findet sich schon
wieder an, findet sich jewiß wieder an! Wenn ich nur –« sie stockte und
zog die Stirn zusammen im Nachdenken – »sicher wüßte!«

»Helfen Sie mir! Ach, können Sie mir nicht helfen?!«

Frau Lämke schlug bei diesem ›Helfen Sie mir‹ der armen Frau die Hände
zusammen und zitterte vor Erregtheit: wenn eine das an ihrem Kind
erleben muß, an einem Kinde, das sie mit Schmerzen geboren hat! Allen
Respekt außer acht lassend, wankte sie auf Käte zu und faßte deren
kalte, schlaff herunterhängende Hand: »Jotte doch, es tut mir so leid,
so schrecklich leid! Aber trösten Se sich man! Wissen Se, ’ne Mutter hat
doch so ’ne Kraft, so was ganz Besonderes, ’n Kind verjißt ihr doch nie
janz!« Und sie lächelte in einer gewissen Sicherheit.

»Er ist ja nicht mein Sohn – mein eigner Sohn nicht – ich bin ja gar
nicht seine wirkliche Mutter!« Was Käte noch nie eingestanden hatte,
jetzt gestand sie es ein. Die Angst preßte ihr’s heraus und die
Hoffnung, daß diese Frau hier sagen würde: ›Auch solch eine Mutter wird
nicht vergessen, sicher nicht!‹

Aber Frau Lämke sagte das nicht. Zweifelnd sah sie drein und schüttelte
den Kopf: daran hatte sie eben für einen Augenblick gar nicht gedacht,
daß die ja Wolfgangs richtige Mutter gar nicht war!

Trübes Schweigen war im Raum. Nur ein zitterndes Atmen war vernehmbar,
bis endlich Frida, mit ihrer hellen Stimme die lähmende Stille
durchbrechend, fragte: »Sind Sie denn heute auch schon bei der Wirtin
jewesen?! Nee?!« Käte hatte stumm verneint. »Na, denn, jnädige Frau –
gestern waren’s zwei Tage, sagen Sie? – denn kann er aber doch heute
wieder jekommen sein! Man muß doch mal wieder nachfragen! Soll ich mal
rasch hinjehn?!«

Und schon war sie an der Türe, hörte gar nicht, daß die Mutter ihr
nachrief: »Frida, Frida, doch man erst ’n Happen essen, du hast ja noch
jar nich Mittag jejessen!« sondern lief die Kellerstufen hinan in
gutmütiger Hast und mitleidsvoller Teilnahme.

Käte lief hinter ihr drein. –

Aber sie erhielten in der Friedrichstraße keine andre Auskunft. Die
Zimmer waren zwar geheizt, Staub gewischt, sogar der Frühstückstisch
gedeckt, als sollte der junge Herr jeden Augenblick eintreten – die
Wirtin erhoffte ein besonderes Lob ihrer Fürsorge –, aber der junge
Herr war wieder nicht erschienen.

       *       *       *       *       *

Käte Schlieben war krank. Der Sanitätsrat zuckte die Achseln: da war
nicht viel zu machen, es war eine vollständige Apathie. Wenn nur etwas
käme und sie aufrüttelte, etwas, für das es ihr verlohnen würde, sich
aufzuraffen, dann würde es schon wieder werden! Vorderhand verordnete er
Kräftigungsmittel – der Puls war ja so schlecht – alle Stunden einen
Teelöffel Puro, Fleischgelee, Eier, Milch, Austern und dergleichen.

Am Bett seiner Frau saß Schlieben, er war eben aus der Stadt nach Hause
gekommen. Nun saß er da, den Kopf gesenkt, die Stirn in Falten gezogen.

»Noch immer nichts von ihm – was sagte die Frau – gar nichts von ihm?«
hatte Käte eben mit verlöschender Stimme geflüstert.

Er sagte nur: »Wir werden uns nun doch an die Polizei wenden müssen!«

»Nein, nein, nicht an die Polizei! Ihn suchen lassen, wie einen
Verbrecher?! Du bist schrecklich, Paul! Schweig doch, Paul!« Ihre
anfänglich so schwache Stimme war fast schreiend geworden.

Er zuckte die Achseln: »Es wird uns nichts übrig bleiben,« und blickte
bekümmert sie an und dann stumm vor sich nieder.

Ihm war, als könne er sein Unglück nicht übersehen, als sei das ganz
unüberblickbar. Acht Tage waren es nun her, daß Wolfgang fort war –
schrecklich, schrecklich, was dieser Mensch ihnen für Sorgen machte!
Aber größere Sorgen machte ihm seine Frau. Wie sollte das enden?! Diese
gesteigerte Nervosität war gefährlich; und dabei auch dieser
Kräfteverfall! Käte war nie eine Riesin gewesen, aber nun wurde sie so
dünn, so mager; in den acht Tagen war ihre Hand, die da so matt auf der
Decke lag, geradezu durchsichtig geworden. Ach, und ihr Haar so grau!

Mit traurigen Blicken suchte der Ehemann im Gesicht seiner Frau die
einstige Schönheit: zu viel Falten, zu viel eingegrabene Linien,
Furchen, die der Pflug des Grams gezogen hatte! Er mußte weinen; das kam
ihm doch zu hart an, sie so zu sehen. Den Kopf von ihr abwendend,
beschattete er die Augen mit der Hand.

So saß er stumm und rührte sich nicht, und sie rührte sich auch nicht,
lag, als ob sie schliefe.

Da klopfte es. Erschrocken sah Schlieben nach der Kranken hin: war sie
nun gestört worden? Aber sie hob die Lider nicht.

Auf den Zehen ging er zur Tür und öffnete. Friedrich brachte die Post,
allerhand Briefe und Zeitungen. Nur aus Gewohnheit griff Schlieben
danach, es interessierte ihn jetzt alles so wenig. Die ersten paar Tage
nach Wolfgangs Verschwinden hatte Käte immer gezittert, es möchte etwas
von ihm in der Zeitung stehen, die schrecklichsten Befürchtungen hatten
sie gequält; jetzt fragte sie nicht mehr. Aber nun zitterte der Mann
tief im Innern, obgleich er sich selber hart zu machen strebte: was
würde man noch erleben müssen?! Keine Zeitung faßte er an, ohne eine
gewisse Scheu.

»Knittere doch nicht so unerträglich,« sagte die schwache Frau gereizt.
Da erhob er sich, um aus dem Zimmer zu schleichen – es war besser, er
ging, sie mochte seine Nähe nicht! Doch sein Blick fiel auf einen der
Briefe. Was war denn das für eine unausgeschriebene, noch schulmäßige
Handschrift? Wohl ein Bettelbrief? Er war an seine Frau gerichtet, aber
sie machte ja jetzt keine Briefe auf; dazu drängte es ihn förmlich,
diesen, gerade diesen Brief zu öffnen. Es war nicht Neugier, ihm war,
als müsse er es tun.

Er öffnete den Brief, rascher, als es sonst seine Art war. Das hatte
eine Frau geschrieben, ein Mädchen sicherlich – es waren ganz
unausgeprägte, finzlige Buchstaben. Und das Bestreben war auffällig, die
Handschrift zu verstellen.

  ›Wenn Sie was über Ihren Sohn erfahren wollen, müssen Sie
  Puttkammerstraße gehn, 140, und aufpassen, drei Treppen hoch im Hof,
  Seitenflügel links, wo Knappe an der Klingel steht. Da wohnt sie!‹

Eine Namensunterschrift war nicht vorhanden, nur: ›Eine gute Freundin‹
– stand darunter.

Schlieben hatte das Gefühl, als brenne ihm das Papier die Finger –
geringes Papier, aber zartrosa und nach parfümierter, billiger Seife
riechend – ein anonymer Brief, pfui! Was sollte ihnen der Wisch?! Schon
wollte er ihn zusammenknittern, da rief Kätes Stimme vom Bett her: »Was
hast du da, Paul? Einen Brief? Zeig mal her!«

Und als er sich ihr nur langsam, zögernd näherte, richtete sie sich auf
und riß ihm den Brief aus der Hand. Sie las und schrie laut auf: »Den
hat die Lämke geschrieben! Ich bin sicher, er ist von ihr. Sie wollte
ihn ja suchen – und ihr Bruder, ihr Bräutigam – sie werden ihn
gefunden haben! Puttkammerstraße – wo ist die? 140, da müssen wir hin!
Gleich, sofort! Klingle dem Mädchen! Meine Schuhe, meine Sachen – ach,
ich kann ja gar nichts finden! So klingle doch! Sie soll mich frisieren
– ach, laß nur, ich kann ja schon alles allein!«

Sie war aus dem Bett gesprungen in zitternder Hast; nun saß sie schon
vor dem Toilettentisch und kämmte selber ihr langes Haar. Es war
verwirrt vom Bettliegen, aber sie riß den Kamm hindurch mit
unbarmherziger Eile.

»Daß wir nicht zu spät kommen! Wir müssen uns eilen. Da ist er sicher,
da ist er ganz sicher! Was stehst du noch und siehst mich so an? Mach
dich doch fertig! Ich bin gleich fertig, wir können gleich gehen. Paul,
lieber Paul, wir werden ihn da gewiß finden – o Gott!« Sie faßte um
sich, von einem Schwindel der Schwäche ergriffen, aber ihr Wille
überwand die Schwäche. Nun stand sie ganz fest auf den Füßen.

Niemand würde es glauben, daß sie eben noch wie eine ganz Hilflose
dagelegen hatte! Schlieben wagte es nicht, ihr zu widerstreben: was
sollte auch noch Schlimmeres kommen?! Schlimmer, als es jetzt gewesen
war, konnte es nicht mehr werden, und wenigstens konnte sie ihm dann
nicht mehr vorwerfen, er hätte den Jungen nicht lieb gehabt!

Als sie nach kaum einer halben Stunde den Wagen bestiegen, den Friedrich
herbeitelephoniert hatte, war sie weniger blaß und sah weniger alt aus,
als er.




5


Wenn Frida Lämke jetzt Wolfgang Schlieben begegnete, schlug sie die
Augen nieder, und er tat, als sähe er sie nicht. Er war böse auf sie:
verdammte kleine Krabbe, die ihn verraten hatte! Nur sie, sie allein
konnte die Eltern auf seine Spur gehetzt haben! Wie hätten die sonst
eine Ahnung gehabt? Er hätte sich prügeln mögen, daß er dieser Schlange
einmal Andeutungen über seine Bekanntschaft in der Puttkammerstraße
gemacht hatte. Die Frida mit ihrer Freundschaft, die sollte ihm noch mal
von Freundschaft reden! Pah, Weiber überhaupt, die waren alle nichts
wert!

Eine grimmige Weiberverachtung hatte den jungen Menschen gepackt. Er
hätte ihnen allen am liebsten ins Gesicht gespieen – alles feile
Kreaturen –, er kannte sie jetzt zur Genüge, ja bis zum Ekel!

Der noch nicht Neunzehnjährige fühlte sich müde und alt; seltsam müde.
Wenn Wolfgang an die letztvergangene Zeit zurückdachte, kam sie ihm vor
wie ein Traum; jetzt, da die Zimmer in der Friedrichstraße aufgegeben
waren und er wieder bei den Eltern wohnte, jetzt sogar wie ein böser
Traum. Und wenn er dann Frida Lämke begegnete – das ließ sich nicht
vermeiden, nun er regelmäßig herein- und herausfuhr zu den Bureaustunden
–, gab es ihm jedesmal einen Stich durchs Herz. Er grüßte sie nicht
einmal, selbst dazu konnte er sich nicht überwinden.

Wenn er doch nur den Druck abschütteln könnte, den er auf sich fühlte!
Sie taten ihm doch nichts – nein, sie waren sogar sehr gut –, aber er
hatte doch immer das Gefühl, nur gelitten zu sein. Das reizte ihn und
machte ihn zugleich traurig. Vorwürfe hatten sie ihm nicht gemacht,
würden sie ihm wohl auch nicht machen, aber der Vater war stets ernst,
zurückhaltend, und der Mutter Blick hatte geradezu etwas Quälendes. Ein
krankhaftes Mißtrauen erfüllte ihn: warum sagten sie ihm nicht lieber,
daß sie ihn verachteten?!

In Nächten, in denen Wolfgang nicht schlafen konnte, plagte ihn etwas,
das fast Reue war. Dann klopfte sein Herz heftig, flatterte förmlich, er
mußte sich im Bett aufsetzen – das Liegen konnte er nicht ertragen –
und nach Atem ringen. Mit ängstlich aufgerissenen Augen stierte er dann
ins Dunkel: ach, was war das für ein scheußlicher Zustand! Am Morgen,
wenn der Anfall vorüber war – dieser ›moralische Kater‹, wie er ihn
spöttisch benannte – ärgerte er sich über seine Sentimentalität. Was
hatte er denn Schlimmes getan? Nichts andres, als was hundert andere
junge Leute auch tun, nur daß die nicht so dumm waren wie er! Diese
Frida, diese verwünschte Klätscherin! Er hätte sie erwürgen können.

Nach den schlechten Nächten war Wolfgang dann noch unliebenswürdiger,
noch wortkarger, noch verdrossener, noch in sich verschlossener. Und
noch elender sah er aus.

›Er ist reduziert!‹ sagte sich Schlieben. Er sagte es nicht zu seiner
Frau – wozu die noch mehr aufregen? – denn daß sie sich beunruhigte,
das zeigte ihm die Art, wie sie Wolfgang umsorgte. Nicht mit Worten,
nicht mit Liebkosungen, =die= Zeiten waren vorbei; aber eine besondere
Sorgfalt legte sie auf seine Ernährung, er wurde förmlich gepäppelt. Ein
Mensch in seinen Jahren müßte doch ganz anders bei Kräften sein! Der
Rücken schien nicht mehr so breit, die Brust nicht mehr so gewölbt, die
schwarzen Augen lagen dunkel umrandet in ihren Höhlen. Die Haltung war
schlecht, die Stimmung noch schlechter. Die Stimmung, ja die Stimmung!
Die war die Wurzel alles Übels, aber da konnte keine Pflege helfen und
auch kein Medikament. Der junge Mensch war eben unzufrieden mit sich,
war’s ein Wunder?! Er schämte sich!

Und vor Schliebens Augen stand die Situation grausam deutlich, in der er
ihn gefunden hatte.

Er hatte Käte unten warten lassen – sie hatte zwar durchaus mit
hinaufgewollt, aber er hatte darauf bestanden, sie mußte unten auf dem
Hof, auf diesem engen, dunklen Hof, der nach Moder und Müllstaub roch,
stehen bleiben – war allein hinaufgegangen. Drei Treppen. Sie waren ihm
unendlich steil vorgekommen, noch nie hatte ihm Treppensteigen so die
Kniee angestrengt. Da stand ›Knappe‹. Er hatte an die Klingel gerührt –
hei, wie fuhr er zusammen, als sie so schrillte. Was wollte er denn
eigentlich hier?! Auf einen anonymen Brief hin drang er zu fremden
Leuten ein, in eine fremde Wohnung, er, Paul Schlieben?! Das Blut stieg
ihm zu Kopf – da hatte schon die Person geöffnet, in einem hellblauen
Schlafrock, gar nicht mehr jung, aber üppig, mit gutmütigen Augen. Und
er hatte einen eleganten Überzieher und einen feinen Filzhut im Entree
hängen sehen beim Schein des erbärmlichen Küchenlämpchens, das den
selbst am Mittag stockdunklen Flur erhellte, und erkannte in ihnen
Wolfgangs Sachen. Also wirklich, er war hier?! Hier?! Der anonyme Brief
log also doch nicht?!

Was er dann getan hatte, wußte er selber nicht mehr genau; er wußte nur,
er war Geld losgeworden. Und dann hatte er den jungen Menschen beim Arm
die Treppe hinuntergeführt, das heißt, mehr geschleppt als geführt. In
halber Höhe schon war ihnen Käte entgegengekommen, es hatte ihr da unten
zu lange gedauert, Kinder mit offenen Mäulern hatten sich um sie
versammelt, und aus den Fenstern hatten Weiber auf sie herabgespäht. Sie
war fast verzweifelt: warum blieb Paul denn so entsetzlich lange?! Sie
hatte ja keine Ahnung, daß er den Sohn erst aus einem bleiernen Schlaf
in einem unordentlichen Bett erwecken mußte. Das durfte sie auch nie,
nie erfahren!

Nun hatten sie ihn wieder zu Hause, aber war’s eine Freude? Darauf mußte
Schlieben sich, und wäre er noch so versöhnlich gestimmt gewesen, noch
so vergebungsbereit, mit einem schroffen ›Nein‹ antworten. Hier erblühte
ihnen keine Freude mehr. Vielleicht, daß sie später, ganz später, noch
einmal welche an ihm erlebten! Vorerst war es das beste, daß der junge
Mensch zum Militär kam!

Zum ersten April sollte Wolfgang eintreten, darauf setzte Schlieben die
letzte Hoffnung.

Wolfgang hatte immer gewünscht, bei den Rathenower Husaren zu dienen,
aber nach den letzten Erfahrungen hielt Schlieben es für angemessener,
ihn ganz solide bei der Infanterie eintreten zu lassen.

Früher würde der Sohn heftigen Widerspruch erhoben haben – Kavallerie
mußte es sein, auf jeden Fall – jetzt fiel ihm das gar nicht mehr ein.
Wenn denn gedient sein mußte, war es ganz gleichgültig wo; er war
todmüde. Er hatte nur den Wunsch, sich einmal ganz ausschlafen zu
können. Kullrich war tot – gegen Weihnachten hatte der trauernde Vater
ihm aus Görbersdorf die Anzeige geschickt – und er? Er hatte zu viele
Nächte verbummelt. –

Es war ein Schlag für Schlieben, daß Wolfgang nicht zum Militär genommen
wurde. ›Untauglich‹ – ein hartes Wort – und warum untauglich?!

›Schwerer Herzfehler –‹ die Eltern lasen’s mit Augen, die falsch zu
lesen glaubten und es doch richtig lasen.

Wolfgang war sehr abgespannt von der Untersuchung nach Hause gekommen,
aber er zeigte sich nun weiter nicht aufgeregt über seine
Untauglichkeit. Er zeigte es nicht – aber ob er es nicht doch war?!

Der Sanitätsrat zwar, nachdem auch er ihn untersucht hatte, versuchte
alles so tröstlich als möglich hinzustellen: »Herzfehler, lieber Gott,
Herzfehler! Es gibt ja gar keinen Menschen, der ein ganz normales Herz
hat! Wenn Sie sich ein bißchen danach halten, Wolfgang, und solide
leben, können Sie steinalt werden!«

Der junge Mensch sagte kein Wort hierauf.

Schliebens überschütteten ihren Arzt mit Vorwürfen: warum hatte er ihnen
das nicht längst gesagt? Er mußte das doch wissen! Warum hatte er sie so
im unklaren gelassen?!

Hofmann verteidigte sich: hatte er denn nicht immer und immer wieder zur
Vorsicht gemahnt?! Seit dem Scharlach damals hatte er für des Jungen
Herz gefürchtet und das auch nicht verhehlt. Aber freilich, daß sich die
Sache so schnell verschlimmern würde, hatte auch er nicht gedacht. Der
Junge hatte eben zu sehr drauf los gelebt!

›Schwerer Herzfehler‹ – das war wie ein Todesurteil. Wolfgang streckte
die Waffen. Auf einmal fühlte er nicht mehr die Kraft in sich, gegen
diese nächtlichen Anfälle anzukämpfen. Was er früher, ehe er das wußte,
ganz für sich allein in seinem Bett, selbst ohne Licht anzuzünden,
abgemacht hatte, das trieb ihn jetzt auf die Füße. Es trieb ihn ans
Fenster – er riß es auf – trieb ihn in der Stube umher, bis er
endlich, völlig ermattet, im Lehnstuhl Ruhe fand. Das trieb ihn sogar,
bei den Eltern anzuklopfen: »Schlaft ihr? Ich habe solche Angst! Wacht
doch mit mir!«

       *       *       *       *       *

Wochenlang waren es böse Nächte gewesen. Wolfgang hatte gelitten, und
die Mutter mit ihm. Wie konnte sie schlafen, wenn sie wußte, daß nebenan
jemand sich quälte?!

Nun ging es wieder besser. Die Medikamente des alten Freundes hatten
gewirkt, und Wolfgang hatte eine regelrechte Kur durchgemacht: Bäder,
Abreibungen, Massage, besondere Diät. Nun konnte man ganz zufrieden mit
dem Erfolge sein. Besonders das streng geregelte Leben hatte ihm gut
getan; das Körpergewicht hatte wieder zugenommen, sein Auge war
glanzvoller, seine Gesichtsfarbe frischer. Sie hatten alle die größte
Zuversicht – nur einer nicht. Dieser eine hatte eben keinen Willen zum
Leben mehr. –

Der April war rauh und stürmisch, ganz außergewöhnlich kalt; es war
nicht möglich, daß der Rekonvaleszent so viel im Freien sein konnte wie
wünschenswert war, besonders da warmmachende Bewegungen, wie Tennis,
Radfahren, Reiten, für ihn noch zu ermüdend waren. Der Arzt schlug vor,
Wolfgang nach der Riviera zu schicken. Wenn auch dort nur noch ein paar
Wochen blieben, bis es zu heiß wurde, die würden schon genügen.

Schlieben war sofort bereit, den jungen Mann reisen zu lassen: wenn’s
ihm gut tat, nun natürlich! Käte erbot sich, mitzureisen.

»Aber warum denn, liebste Frau? Der Junge kann ganz gut allein reisen,«
versicherte der Sanitätsrat.

Aber sie bestand darauf, sie wollte ihn begleiten. Jetzt war’s nicht
mehr die Besorgnis, er könne ihr verloren gehen: es war ihre Pflicht so,
sie mußte ihn begleiten, selbst wenn sie es nicht gern getan hätte. Und
ein wenig eigne Lust, sich ganz heimlich, ihr selber unbewußt, in ihr
regend, kam auch noch dazu. Sie wußte ja so gut Bescheid im Süden –
wenn sie zum Beispiel nach Sestri gingen? Fragend sah sie ihren Mann an.
Hatten sie nicht dort an der Riviera Levante einst wahrhaft glückliche
Tage verlebt? Dort am blauen Meer, wo die breiten Pinien grüner und
schattender stehen, als tiefer im Süden die Palmen, wo die Luft bei
aller Milde etwas Herbes und Erfrischendes hat, wo nichts Schlaffes ist,
lauter Belebung!

Er lächelte: gewiß, sie konnten ja dahin reisen! Ach, er freute sich ja
so über den doch noch nicht gänzlich verlöschten Enthusiasmus seiner
Frau.

Am Nachmittag seiner Abreise kramte Wolfgang lange in seinem Zimmer.
Käte, die besorgt war, daß er sich beim Packen zu sehr anstrengen
könnte, hatte ihm Friedrich zu Hilfe geschickt. Aber dieser kam bald
wieder herunter: »Der junge Herr will’s alleine machen!«

Als Wolfgang das Letzte in seinen Koffer gelegt hatte, sah er sich
nachdenklich im Zimmer um. Hier war er nun aufgewachsen, hier dieses
Zimmer hatte er oft als einen Käfig betrachtet – ob er nun wieder in
diesen zurückkehrte?!

– – _Wir haben hie keine bleibende Statt, die zukünftige suchen wir_
– –

Drüben hing, schön gerahmt, sein Konfirmationsspruch an der Wand. Lange
nicht gelesen. Jetzt las er ihn wieder; leicht lächelnd, ein bißchen
spöttisch, und ein bißchen wehmütig. Ja, er würde wieder hier hinein
zurückflattern, er war eben an den Käfig gewöhnt!

Und nun beschloß er, als allerletztes, noch etwas Übriges zu tun, und –
zu Frida zu gehen. –

Frau Lämke war sprachlos vor Staunen, fast erschrocken, als sie gegen
die Zeit, in der ihre Frida gewöhnlich nach Hause zu kommen pflegte, den
jungen Herrn Schlieben bei sich eintreten sah. Sie stotterte vor
Verlegenheit: »Nee, Frida is noch nich zu Hause – un Artur is auch nich
hier – un Vater is oben in die Loge – aber wenn Sie so lange – so
lange – bei mir vorlieb nehmen wollen!« Sie schob ihm mit großem
Gerappel einen Stuhl hin.

Er rückte sich den Stuhl dicht an den Tisch heran, an dem sie genäht
hatte. Nun saß er wieder hier wie einst. Und er entsann sich ganz
deutlich jener ersten Einladung zu Lämkes – Fridas zehnter Geburtstag
war’s gewesen –, da hatte er hier gesessen mit den Kindern, und der
Kaffee und die Kuchenschnecken hatten ihm so köstlich geschmeckt.

Und eine Menge von Erinnerungen kamen ihm noch – lauter nette
Erinnerungen – aber doch wollte kein rechtes Gespräch mehr zwischen ihm
und Frau Lämke zustande kommen. Fühlte er eine Beklemmung vor dem
Wiedersehen mit Frida? Oder was machte ihn so unruhig hier?! Ja, es war
so, auch hier war er nicht mehr am Platze!

Es lag wie eine Trauer in seiner Stimme, als er, Mutter Lämke die Hand
zum Abschied reichend, sagte: »Nun denn – adieu!«

»Na, verjniegte Erholung – auf Wiedersehen!«

Daraufhin nickte er und schüttelte ihr noch einmal die Hand, und dann
ging er; er wollte lieber Frida entgegen gehen, das war besser als hier
innen zu sitzen. Er hatte Herzklopfen. Da sah er sie schon auf sich
zukommen.

Obgleich es dunkel war, die Beleuchtung nicht so taghell wie drinnen in
der Stadt, erkannte er sie schon von weitem. Sie trug das gleiche
Matrosenhütchen mit blauem Band wie im vorigen Sommer; das war zwar noch
etwas verfrüht, aber es paßte zu ihr. So frühlingsfrisch!

Ein Gefühl quoll in Wolfgang auf, als sie vor ihm stand, das er sonst
Frauenzimmern gegenüber nicht gekannt hatte: ein brüderliches Gefühl
inniger Zärtlichkeit. Ach, sie hatte es doch wohl nur gut gemeint!

Stumm grüßte er, sie aber sagte froh: »Ach du, Wolfjang?!« und streckte
ihm die Hand hin.

Wie früher schlenderte er neben ihr her; sie hatte unwillkürlich ihren
Schritt verlangsamt. Sie wußte nicht recht, wie sie wieder mit ihm
anfangen sollte, aber das glaubte sie zu fühlen: böse war er nicht
mehr.

»Wir reisen morgen,« sagte er.

»Nanu, wohin denn?«

Und er erzählte ihr’s.

Mitten darin unterbrach sie ihn. »Bist du mir böse?« fragte sie ganz
leise.

Er schüttelte verneinend den Kopf, aber weiter ging er nicht darauf
ein.

Alles, was sie ihm sagen wollte, daß sie nicht anders gekonnt hätte, daß
Hans ihn ›ausbaldowert‹, daß sie’s doch seiner Mutter versprochen und
daß sie selber so große Angst um ihn gehabt hätte, unterblieb. Es war
nicht nötig. Es war, als sei das Vergangene nun tot für ihn, als hätte
er es ganz vergessen.

Als er dem interessiert zuhörenden Mädchen von der Riviera, wohin er nun
reisen würde, erzählte, beschlich es ihn leise doch wieder wie neue
Lebensfreudigkeit. Ah, nur heraus hier, heraus! Wenn er erst dort war,
würde alles besser werden! Er machte sich noch kein rechtes Bild, wie es
eigentlich dort sein würde; mit halbem Ohr nur, nein, gar nicht hatte er
zugehört, wenn die Mutter ihm vom Süden gesprochen hatte, es war ihm ja
alles ganz gleichgültig gewesen. Nun empfand er es selber wie eine
Wohltat, daß er wieder Teilnahme hatte. Er atmete tief auf.

»Schickst du mir auch ’ne schöne Ansichtskarte von da?« bat sie.

»Natürlich, viele!« Und dann legte er den Arm um ihre schmalen Schultern
und zog sie an sich.

Und sie ließ sich ziehen.

Auf offener Straße, an deren Rändern die Büsche schon knospten und der
Flieder im ersten Safte schwoll, standen sie und hielten sich umfaßt.

»Komm jesund wieder,« schluchzte sie.

Und er küßte sie zart auf die Wange: »Frida, ich muß mich wirklich noch
bei dir bedanken!« – – – – – – –

Als Frida am andern Morgen ins Geschäft ging – die Uhr war halb acht –
sagte sie zur Mutter: »Nu is er fort,« und blieb nachdenklich den ganzen
Tag. Lange Wochen hatte sie nicht mit Wolfgang gesprochen gehabt – da
war es ihr auch ganz gleichgültig gewesen – aber seit gestern abend war
ihr weh ums Herz. Sie dachte viel an ihn, sie konnte ihn gar nicht
vergessen.




6


Käte war nun mit dem Sohn allein. Nun hatte sie ihn ganz für sich. Das,
was sie früher in eifersüchtigem Ringen erstrebt hatte, nun war es ihr
gegeben. Nicht einmal die Natur draußen, die mit so lockenden Augen in
die Fenster sah, konnte ihn an sich ziehen. Es erstaunte sie – ja, nun
verstimmte es sie fast – daß er nicht mehr Anteil zeigte. Sie fuhren
durch die Schweiz – er sah sie zum ersten Mal – aber das, was sie beim
ersten Anblick zu Tränen anbetender Bewunderung gerührt hatte, diese
hohen Berge, deren Gipfel sich in Schnee und Wolken verloren, zwangen
ihm kaum einen Blick ab. Dann und wann sah er wohl einmal zum
Coupéfenster hinaus, aber meist lehnte er in seiner Ecke, las oder
träumte mit offenen Augen vor sich hin.

»Bist du müde?«

»Nein,« sagte er; bloß ›nein‹, aber ohne die schroffe Kürze, die ihm
sonst eigen gewesen war. Es war keine unliebenswürdige Ablehnung mehr in
seinem Ton.

Mit besorgten Augen sah Käte den Sohn an: die Reise griff ihn doch wohl
an? Es war gut, daß sie mit ihm war! Sie kam sich unentbehrlich vor, und
das Gefühl innerer Genugtuung ließ die Anstrengungen der weiten Reise
gar nicht empfinden.

In Mailand, wo sie einen Tag rasteten, wollte Wolfgang nicht viel vom
Dom wissen. »Ja, großartig,« sagte er, als sie sich am Wunderbau
begeisterte. Aber auf die Plattform, von der man heute bei dem hellen
Wetter eine kolossale Rundsicht haben würde bis hin zu den fernen Alpen,
wollte er nicht mit ihr hinauf. »Geh du allein, laß mich hier!«

Es kam ihr anfänglich komisch vor, daß sie, die alte Frau, hinaufsteigen
sollte, während er, der junge Mann, unten blieb. Zuletzt konnte sie der
Lust, die sie drängte, das früher schon einmal Genossene, Herrliche
wieder neu aufleben zu sehen, doch nicht widerstehen. Sie löste sich die
Karte zum Hinaufsteigen, und er klappte sich einen der Feldstühle
auseinander, die zum Gebrauch in der weiten Leere des Riesendomes
stehen, und ließ sich, den Rücken an eine Marmorsäule gelehnt, nieder.

Ah, hier ruhte sich’s gut! Nach dem Markt draußen mit seinem Gelärm und
dem Geschwirr von Tönen und bunten Farben, umfing ihn hier die
weihrauchdurchwürzte Dämmerung. Es störte ihn nicht, daß Türen auf- und
zuklappten, daß Leute aus- und einzogen in Scharen. Daß hier ein
Fremdenführer mit blecherner Stimme seinen Fremden die eingelernte
Belehrung herleierte, ganz laut, nicht achtend, daß er dabei fast über
die Füße derer stolperte, die auf niedrigen Bänkchen vor einem sitzenden
Priester, flüsternd ihre Sünden bekannten. Daß dort einer die Messe
zelebrierte – die Meßner knicksten und klingelten – während hier eine
Köchin, das an den Beinen zusammengebundene Geflügel neben sich, mit
einer Gevatterin schwatzte.

Das alles störte ihn nicht, er bemerkte es gar nicht. Die köstliche
Dämmerung umfing seine Sinne, er wurde so schläfrig, so selig müde. Vor
seinen verschwimmenden Blicken lächelten alle Heiligen, süße Marien und
pausbackige Engelchen, die Amoretten glichen. Es wurde ihm wohlig hier.
Der Mailänder Dom, dies Wunder der Welt, verlor seine befremdende
Großartigkeit; die weiten Mauern rückten zusammen, wurden eng und
traulich und umfaßten doch die Welt. Eine friedvolle Welt, in der Sünder
niederknieen und als Reine auferstehen. Eine ungeheure Sehnsucht erfaßte
Wolfgang, auch hier niederzuknieen. Ah, da war sie wieder, die
Sehnsucht seiner Knabenjahre! Wie hatte er dazumal die Kirche, in die
ihn das Mädchen Cilla geführt hatte, geliebt! Er liebte sie noch, er
liebte sie wieder, er liebte sie heute mit noch sehnsüchtigerer Liebe
als dazumal. Hier war er zu Haus, hier hatte er das warme Gefühl der
Zugehörigkeit.

– ›_Qui vivis et regnas in saecula saeculorum_‹ – – hocherhoben
strahlte die goldene Monstranz, tief neigten sich die Beter, seliger
Wohlklang schwebte unterm hochgewölbten Kuppeldach, immer schöner,
schöner – leise, leiser. Die Lider fielen ihm zu.

Und er sah Cilla. So frisch, so schön wie das Leben selber. O, wie
wunderschön! So hatte sie sonst doch nicht ausgesehen?! Er war sich
bewußt, daß er träumte, aber er war nicht imstande, den Traum
abzuschütteln. Und sie kam ihm ganz nah – o, so nah! Und sie machte das
Zeichen des Kreuzes über ihm – leise tönte Orgelmusik – horch, was
sprach sie, was flüsterte sie über ihm?! Er wollte nach ihrer Hand
greifen, sie befragen, da hörte er eine andre Stimme:

»Wolfgang, schläfst du?«

Kätes Hand hatte sich leise auf seine Hände gelegt, die er gefaltet auf
den Knieen hielt. »Ich bin wohl lange oben geblieben? Du hast dich
gelangweilt?«

»O nein, nein!« Er sagte es mit Enthusiasmus.

Sie gingen zusammen zum Dom hinaus, aus dem die Orgel hinter ihnen
hertönte bis auf den Markt. Käte war ganz begeistert von der genossenen
Fernsicht und merkte darüber nicht den heimlichen Glanz, der in
Wolfgangs Augen war. Er war still und schien mit allem einverstanden.

       *       *       *       *       *

Seine Art fing die Mutter fast an zu beängstigen. Das, was sie früher
beglückt haben würde – ach, wie hatte sie sich in früheren Jahren nach
einem gefügigeren Kinde gesehnt! – stimmte sie jetzt wehmütig. War er
am Ende doch kränker, als sie alle ahnten?

Sie waren jetzt an der Küste angelangt, in Sestri. Das waren noch
dieselben Pinien, unter denen sie vor achtzehn Jahren als jüngere Frau
gesessen und gemalt hatte. Aber ein andres Hotel war seitdem entstanden,
ein ganz deutsches: deutscher Wirt, deutsche Bedienung, deutsche Küche,
deutsche Gesellschaft, aller Komfort, so, wie Deutsche ihn lieben. Käte
hatte sich ganz zurückhalten wollen, nur für Wolfgang leben; nun war es
ihr aber doch Bedürfnis, dann und wann mit diesem oder jenem zu
plaudern, denn wenn sie auch mit Wolfgang zusammen war, allein fühlte
sie sich doch. Was dachte er? Daß er etwas dachte, zeigten ihr seine
Stirn und seine Augen; aber er sprach seine Gedanken nicht aus. War er
verstimmt – heiter? Fröhlich – traurig? Reute ihn manches und grübelte
er darüber nach – oder langweilte er sich hier?! Das alles wußte sie
nicht.

Mit einem gewissen Eigensinn zog er sich von allen übrigen zurück.
Vergebens ermunterte Käte ihn, mit jungen Mädchen, die einen Partner
suchten, Tennis zu spielen; wenn er’s nicht übertrieb, durfte er das
immerhin schon wagen. Auch zu Segelfahrten wurde er aufgefordert, aber
der Sport schien ihm gleichgültig geworden zu sein.

Meist lag Wolfgang vorn auf der Mole, an deren felsiger Spitze sich das
blaue Meer rastlos zu weißem Schaum zerpeitscht, sah hinüber nach der
Küste der Ponente, die in rotviolettem Dufte schwimmt, oder blickte
zurück nach den nackten Gipfeln der Apenninen, in deren Halbkreis sich
die weißen und roten Häuser von Sestri schmiegen.

Wenn die Fischerboote mit schlaffen Segeln wie müde Vögel in den Hafen
glitten, stand er auf und schlenderte langsam zum Anlegeplatz ihnen
entgegen. Die Hände in den Hosentaschen stand er dann dabei und sah zu,
was sie an Fischen ausluden. Viel Beute war es nicht. Dann zog er die
Hände aus den Hosentaschen und gab den Fischern, was er an Geld bei sich
hatte.

Wenn die Mutter gewußt hätte, was der Sohn dachte! Wenn sie geahnt
hätte, daß seine Seele dahinflog mit müden Flügeln wie eine treibende
Möwe über uferlosem Meer!

Wolfgang hatte Heimweh. Hier gefiel es ihm nicht. Hier war es viel zu
weich, viel zu schön; das langweilte ihn. Nur die Pinien, die streng
duftenden, gefielen ihm; die waren doch besser als die Kiefern im
Grunewald. Aber Heimweh nach dem Grunewald hatte er eigentlich auch
nicht. Es war eben immer dasselbe, ob hier, ob da, ihn quälte immer die
Sehnsucht. Wonach – wohin?! Darüber grübelte er. Aber der Mutter hätte
er es nicht sagen mögen, denn jetzt sah er’s, daß sie sich um ihn mühte.
Und öfters, als er es sonst je in seinem Leben getan hatte, fand er
jetzt ein herzliches Wort.

Also endlich, endlich doch! Käte sah ihn oft verstohlen von der Seite
an: war das noch derselbe, der sich als Knabe trotzig gegen sie
gestemmt, ihre Liebe abgewehrt hatte, all ihre große Liebe?! Dieser
hier, dessen Anblick im Mailänder Dom sie so seltsam gerührt hatte, war
das noch derselbe, der auf der Schwelle gelegen hatte, betrunken –
pfui, so betrunken! Derselbe noch, der so gesunken war, so tief, daß er
– ach, gar nicht mehr daran denken!

Käte wollte vergessen; ehrlich mühte sie sich darum. Neulich, als sie
ihn im Dom gefunden hatte, an einer Säule sitzend, die Hände gefaltet,
die Lider träumerisch geschlossen, da war er ihr so jung vorgekommen,
noch rührend jung; seine Stirn war glatt gewesen, alles darauf wie
weggewischt. Und sie mußte denken: ob man nicht doch zuviel von ihm
verlangt hatte? War man ihm auch immer ganz gerecht geworden? Hatte man
ihn so verstanden, wie man ihn hätte verstehen müssen?! In ihrer Seele
stiegen Zweifel auf. Sie hatte sich immer für eine gute Mutter gehalten;
seit jenem Tag im Dom war es ihr, als hätte sie etwas verfehlt. Was,
konnte sie selber nicht sagen. Aber in die Genugtuung, daß der Sohn nun
doch zu ihr kam, mischte sich Wehmut und ein reichlich Teil
selbstquälerischen Schmerzes. Ah, nun war er ja gut, nun war er
wenigstens annähernd so, wie sie sich ihn gewünscht hatte – weicher,
lenksamer – aber nun – ach, was hatte sie nun?!

›Wolfgang macht mir doch Sorge,‹ schrieb sie an ihren Mann. ›Es ist so
schön hier, aber er sieht es nicht. Mir ist oft bange!‹

Als Schlieben ihr angeboten hatte, auch mitzureisen – er hatte das
getan, weil er wünschte, seiner Frau manches abzunehmen – hatte Käte
fast ängstlich abgewehrt: nein, nein, es war durchaus nicht nötig! Sie
wollte viel lieber mit Wolfgang allein sein, sie hielt es für ihn und
für sich so viel ersprießlicher. Nun dachte sie doch viel an ihren Mann
und schrieb ihm fast alle Tage. Und wenn es auch nur ein paar Zeilen auf
einer Postkarte waren, sie fühlte das Bedürfnis, ein Wort mit ihm zu
tauschen. Er, ja er würde es hier so schön finden, wie sie es schön
fand! Wie sie es einst vereint schön gefunden hatten! Hier diesen Pfad
über die Klippen waren sie einst zusammen geklettert, er hatte ihr die
Hand gereicht, sie geführt, damit ihr nicht schwindelte, und mit einem
Gefühl wonnigen Grausens hatte sie tief unter sich das blaue gläserne
Meer gesehen und hoch über sich den grauen Felsenfirst mit den
tiefgrünen Pinien, die das Blau des Himmels küßten. War sie denn in
diesen achtzehn Jahren so alt geworden, daß sie sich diesen Pfad nicht
mehr getraute zu gehen? Sie hatte es versucht, aber vergeblich, ein
jäher Schwindel hatte sie erfaßt. Die Hand war eben nicht da, die sie so
fest, so sicher gestützt hatte. Ach ja, damals waren es bessere Zeiten
gewesen, glücklichere!

Käte vergaß ganz, daß sie damals etwas so heiß begehrt hatte, daß sie
dadurch sich und ihm manche Stunde getrübt, jeden Genuß vergällt hatte.
Jetzt sah sie über den Sohn weg, der neben ihr schlenderte, sah mit
weichem Blick, in dem noch ein Strahl verlorener Jugend aufglänzte, in
die Ferne – ihr guter Mann, er war so allein! Ob er an sie dachte, wie
sie an ihn?!

Am Abend, als Wolfgang sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte – was er
da trieb, ob er noch aufsaß, las, schrieb oder sich schon niedergelegt
hatte, wußte sie nicht – schrieb sie ihrem Mann.

Es war nicht die Länge und Ausführlichkeit des Briefes, die Schlieben so
erfreuten – damals aus Franzensbad hatte sie ihm auch lange und
ausführliche Briefe geschrieben – er las etwas zwischen den Zeilen. Das
war ein unausgesprochener Wunsch, ein Verlangen, eine Sehnsucht nach
ihm. Und er beschloß, nun doch noch nach dem Süden zu reisen: man hatte
am Ende so lange Jahre miteinander gelebt, daß es wohl zu verstehen war,
fühlte der eine Teil ohne den andern sich vereinsamt!

Mit tatkräftigem Eifer wickelte Schlieben seine laufenden Geschäfte ab.
In acht Tagen spätestens hoffte er reisefertig zu sein. Aber nichts
schreiben, ja nichts vorher schreiben, das sollte einmal eine
Überraschung werden!

       *       *       *       *       *

Die Mittagssonne in Sestri brannte heiß, aber die Zeit gegen
Sonnenuntergang war noch, trotz aller leuchtenden Kraft, angenehm und
erquickend. Da strömte jedes Kräutchen Wohlgeruch aus. So viel Balsam,
so viel Köstlichkeit in dieser strömenden Duftfülle! Käte fühlte ihr
Herz überfließen: Gott sei Dank, noch war sie nicht ganz zermürbt, noch
nicht ganz verbraucht, noch besaß sie die Fähigkeit, Schönes zu
empfinden! Wenn Paul jetzt hier wäre!

Ganz vorn, hoch oben am äußersten Vorsprung der Küste, umbrandet vom
weißen Schaum des sehnsüchtigen Meeres, das gern hinauf möchte zu den
Zypressen und Pinien, zu den Steineichen und Erdbeerbäumen, zu den
vielen duftenden Rosen liegt der Garten eines reichen Marchese. Hier
saßen Mutter und Sohn. Stumm sahen sie nach der Riesensonne, die rot,
tief purpurn, dicht über dem Meere hing, das da strahlte in glanzvollem
Widerschein, still-andächtig, erwartungsfeierlich in der heiligen
Empfängnis des Lichts. Es war eine jener Stunden, jener wunderbaren
seltenen Stunden, in denen auch das Stumme beredt wird, das
Verschwiegene sich offenbart, in der die Steine schreien.

Käte schrak förmlich zusammen, als sie schaute und schaute: o, da war
sie ja, dieselbe riesige rote Sonne, die sie einst hatte versinken sehen
in den Wellen des wilden Venns!

Ach, daß ihr dieser Gedanke auch jetzt kommen mußte und sie quälen! Mit
scheuer Besorgnis wendete sie rasch ihre Augen zu Wolfgang – wenn der’s
ahnte?! Aber er saß ganz gleichgültig auf einem Stein, hatte die Beine
übereinandergeschlagen, die Augen halb geschlossen. Von was träumte er?!
Sie mußte ihn aufstören.

»Ist das nicht herrlich, großartig, erhaben?!«

»O ja!«

»Sie sinkt – sieh, wie sie sinkt!« Käte war aufgesprungen vom
efeuumrankten Pinienstumpf, sie streckte den Finger aus, warm
angestrahlt, ganz Begeisterung für dieses purpurne Meer, dieses
glanzvolle Licht, das da in solcher Schönheit zu sterben ging. Die Augen
wurden ihr naß; sie waren geblendet. Als sie wieder sah, fiel es ihr
auf, daß Wolfgang sehr blaß war.

»Frierst du?« Eine plötzliche Kühle wehte vom Meer herauf.

»Nein! Aber ich –« er blickte sie, die dunklen Augen plötzlich groß
aufmachend, fest an – »ich möchte was von meiner Mutter wissen. Jetzt
kannst du reden – ich höre!«

»Von deiner – deiner –« sie stotterte, das kam ihr zu unerwartet. O
weh, die Sonne, die Sonne des Venns! Jetzt hätte sie lieber geschwiegen,
sie hatte auf einmal den früheren Mut nicht mehr.

Aber er drängte sie. »Erzähle!« Es lag etwas Gebieterisches in seinem
Ton. »Wie heißt sie – wo wohnt sie – lebt sie noch?!«

Mit angstvollen Blicken sah Käte um sich. ›Lebt sie noch?‹ – darauf
konnte sie nicht einmal antworten! Aber ja, ja, sicherlich – gewiß –
die lebte ja ewig!

Und sie erzählte ihm alles. Erzählte ihm, wie sie ihn aus dem Venn
fortgeschafft hatten, mit ihm geflohen waren wie mit einem Raub.

Sie wurde blaß und rot dabei und wieder blaß – o, wie würde er
aufbrausen, sich leidenschaftlich erregen! Und ihr zürnen. Hatten sie
sich doch nie mehr um seine Mutter gekümmert, seit sie das Venn
verlassen hatten, nie mehr! Sie wußte ihm nichts weiter mehr zu
erzählen.

Er fragte auch nicht mehr. Er brauste aber auch nicht auf, wie sie
gefürchtet hatte; sie hätte es nicht nötig gehabt, sich, als er nun eine
Weile stumm blieb, zu verteidigen, sich förmlich zu entschuldigen. Er
sah sie freundlich an und sagte nur: »Du hast es gut gemeint, das glaube
ich wohl!« –

Als sie vom Park die Treppenstufen zum Ort hinunterstiegen, bot er ihr
den Arm. Scheinbar führte er sie, aber sie hatte doch die Empfindung,
als sei er es, der der Stütze bedürfe; er ging schwankend. –

Hinter dem Garten des Marchese liegt der Kirchhof von Sestri. Die weißen
Marmormonumente leuchteten durch das Abendgrau; gerade über die
Parkmauer weg ragten noch die weißen Flügel eines Riesenengels. Käte
blickte zurück: wehte es ihnen nicht von dorther nach wie eine Ahnung –
oder war es eine Hoffnung?! Sie wußte nicht, ob Wolfgang so empfand wie
sie, ob er überhaupt etwas empfand, aber sie drückte seinen Arm fester,
und er erwiderte leise diesen Druck. –

In der Nacht nach jenem Abend im Garten der Villa Piuma hörte sie ihn
unruhig in seinem Zimmer auf und nieder gehen. Eigentlich hatte sie sich
vorgenommen, ihn sich selber zu überlassen – hatte sie sich doch früher
allzuviel um ihn gekümmert – aber sie bedachte, daß er noch Patient sei
und daß die innere Erregung, in die ihn ihre Erzählung versetzt haben
mochte, ihm schaden könnte. Sie wollte bei ihm eintreten, aber seine Tür
war verschlossen. Erst auf wiederholtes Klopfen, und als sie ihn
inständig bat, ihr zu öffnen, schloß er auf.

»Was willst du?« Es war wieder etwas von dem alten abweisenden Klang in
seiner Stimme.

Aber sie ließ sich nicht abschrecken. »Ich dachte, es wäre dir doch
vielleicht lieb, noch – nun, noch darüber zu reden,« sagte sie weich.

»Was soll ich tun?!« Er rief’s, rang die Hände und ging wieder mit
großen Schritten rastlos im Zimmer auf und ab. »Wenn mir nur einer sagen
wollte, was ich jetzt tun soll! Aber das weiß ja keiner! Kann ja auch
keiner wissen! Was soll ich tun – was soll ich tun?!«

Bestürzt stand Käte: ach, nun machte er sich solche Gedanken! Sie sah
es, er hatte geweint. In sorgendem Mitgefühl hing sie sich an ihn. Was
sie lange, ewig lange nicht getan hatte, sie küßte ihn. Und von seinem
›Was soll ich tun?‹ wie von einem gerechten Vorwurf im innersten Herzen
erschüttert, bat sie zerknirscht: »Quäle dich nicht! Gräme dich nicht!
Wenn du willst, reisen wir hin – wir suchen sie – wir finden sie
gewiß!«

Aber er schüttelte den Kopf in heftiger Verneinung und stöhnte: »Das ist
ja nun zu spät – viel zu spät! Was soll ich jetzt noch da? Dafür und
hierfür« – er machte eine ablehnende Handbewegung – »für alles
untauglich! Mutter, Mutter!« Käte mit beiden Armen umschlingend, fiel er
schwer vor ihr nieder und preßte das Gesicht in ihr Kleid.

Sie fühlte sein Schluchzen am Zucken seines Körpers, am Krampfen seiner
heißen Hände, die ihre Taille umklammerten.

»Wenn ich nur wüßte – meine Mutter – Mutter – ach, Mutter, was soll
ich tun?!«

Jetzt weinte er laut heraus, und sie weinte mit ihm in mitleidsvoller
Teilnahme. Wenn doch nur Paul hier wäre! Sie selber fand kein tröstendes
Wort, sie fühlte sich selber so getroffen, sie glaubte an keine Tröstung
mehr. Vor ihr stand eingegraben in großen Lettern, wie Inschriften
stehen über Kirchhofstüren, die =eine= peinvolle, qualvolle Frage: ›Wie
soll das enden?!‹

       *       *       *       *       *

Käte überlegte sich: sollte sie an ihren Mann schreiben: ›Komm!‹ –?
Wolfgang war entschieden wieder nicht wohl. Er klagte nicht, er sagte
nur, er könne nachts nicht schlafen, und das mache ihn so müde. Nun
wußte sie nicht, war es seelisches Leiden, das ihm den Schlaf nahm, oder
körperliches. Sie war in einer großen inneren Unruhe, aber sie verschob
das Schreiben an ihren Mann doch noch. Warum sollte sie ihn herjagen,
ihn die weite Reise machen lassen? Hier war doch nichts zu helfen! Daß
sie ihn für sich, für sich selber herwünschte, das war ihr noch nicht
klar. Sie unterließ sogar ein paar Tage das Schreiben an ihn ganz.

Wolfgang lag viel auf dem Ruhebett in seinem Zimmer, bei geschlossenen
Läden; er las nicht einmal. Sie kam oft zu ihm herein, um ihm
Gesellschaft zu leisten – er durfte sich nicht vereinsamt fühlen! –
aber es schien ihr fast so, als bliebe er ebensogern allein.

Wenn sie nun über ihr Buch hinweg im Halbdunkel des Zimmers verstohlen
nach ihm schaute, konnte sie doch wiederum gar nicht denken, daß er so
krank sei. Es war wohl mehr die Unlust an sich selber, eine Schlaffheit
des Wollens, die ihn auch körperlich so apathisch machte. Wenn sie ihn
nur aufrütteln könnte! Sie schlug ihm alles mögliche vor: Wagenfahrten
die Küste entlang, zu all den herrlich gelegenen Nachbarorten; Touren
hinauf ins Gebirge – es war ja unbegreiflich schön, den höchsten
Gipfeln der Apenninen so nah, hinabzublicken in die gesegneten Weintäler
der _cinque terre_ – Fahrten auf dem Golf, bei denen unterm
regelmäßigen Ruderschlag geübter Schiffer das Schiffchen so sanft trägt,
daß man kaum die Entfernung vom Lande merkt und doch bald weit draußen
auf hoher See schwimmt, auf diesem himmlisch-blauen klaren Meer, dessen
Hauch die Seele befreit. Wollte er nicht fischen – es gab ja so
entzückende bunte Fischchen hier, die Signorinen und Trillien, die
dumm-gefräßig auf jeden Köder beißen –, wollte er nicht auf Fischadler
schießen? Sie quälte ihn förmlich.

Aber er wich ihr immer aus; er wollte nicht. »Ich bin heute wirklich zu
müde!«

Da ließ sie den italienischen Arzt holen. Aber Wolfgang war ungehalten:
was sollte ihm der Quacksalber? Er war so unliebenswürdig gegen den
alten Mann, daß Käte sich förmlich schämte. Nun ließ sie ihn gewähren.
Was sollte sie ihm denn Liebes tun, wenn er sich nicht Liebes tun lassen
wollte?! Sie verzweifelte an ihm. Es drückte sie unsagbar nieder, daß
auch die Reise hierher verfehlt schien – ja, sie war es, mit jedem Tage
sah sie das mehr ein. Der Reiz der Neuheit, der ihn während der ersten
Tage angeregt hatte, war verflogen; nun war’s wieder wie vordem. Noch
schlimmer.

Denn nun schien ihm die Luft nicht mehr zu bekommen. Wenn sie zusammen
spazierten, stand er oft still und schöpfte Atem, wie einer, dem das
Atmen sauer wird. Es wurde ihr oft ganz ängstlich dabei: »Laß uns
umkehren, dir ist wohl nicht gut?!« Aber diese Atembeschwerden gingen
doch immer wieder so rasch vorüber, daß sie sich ihrer übertriebenen
Fürsorge wegen, mit der sie sich viele Jahre vergällt hatte, schalt.

Aber in einer Nacht bekam er einen neuen Anfall, schlimmer als die
andern Anfälle, die er schon zu Hause gehabt hatte.

Es mochte gegen Mitternacht sein, als Käte, die sanft schlief,
eingewiegt vom steten Rauschen des Meeres, durch ein Pochen an der Tür,
die ihre beiden Zimmer verband, aufgeschreckt wurde. Und durch ein
Rufen: »Mutter, ach Mutter!« Jammerte da nicht ein Kind?! Schlaftrunken
richtete sie sich auf – da erkannte sie seine Stimme.

»Wolfgang, ja, was ist dir?« Erschrocken warf sie ihren Morgenrock über,
schlüpfte in die Samtschuhe, öffnete – da stand er vor ihrer Tür, im
Hemde, auf bloßen Füßen, zitterte und stammelte: »Mir ist – so
schlecht!« Sah sie mit angstvollen Augen flehend an und fiel, ehe sie
noch zufassen konnte, ihn zu halten, schon um.

In ihrer Angst riß Käte fast die Klingel ab. Portier und Zimmermädchen
kamen. »An meinen Mann, an meinen Mann depeschieren: ›Komm!‹ Rasch,
sofort!«

Als der erschrockene Wirt auch erschien, legten sie den Kranken wieder
auf sein zerwühltes Bett; der Portier stürmte zu Telegraphenamt und
Arzt, das Zimmermädchen schluchzte. Der Hotelier eilte selber in seinen
Keller, um vom ältesten Kognak, vom besten Champagner zu holen. Der
junge Mensch tat ihnen allen so unbeschreiblich leid; er schien in einer
tiefen Ohnmacht zu liegen.

Käte weinte nicht, wie die gutmütige Person, das Zimmermädchen, dem in
einem fort die Tränen über die Backen liefen. Sie hatte zu vieles zu
beachten, sie hatte ihre Pflicht zu tun bis zum Schluß. Zum Schluß –
jetzt wußte sie’s. Es bedurfte nicht des Kopfschüttelns des Arztes,
nicht seines geheimnisvollen Flüsterns mit dem Hotelier. Medikamente
wurden aus der Apotheke gebracht; man bettete den Kopf des Erkrankten
tiefer, die Füße höher, man machte Kampfereinspritzungen – das Herz
ließ sich nicht mehr anpeitschen.

Käte verließ ihn nicht; sie stand dicht an seinem Bett. Glorreich hob
sich eben draußen das goldene, unbesiegliche, ewige Licht aus den
Wellen, da lallte er noch einmal etwas. Sie beugte sich dicht über ihn,
so dicht, wie sie es einstmals über den schlafenden Knaben getan, da es
sie gedrängt hatte, ihm Odem von ihrem Odem einzuhauchen, ihn für sich
umzubilden, Leben aus ihrem Leben. Nun hatte sie diesen Wunsch nicht
mehr. Nun gab sie ihn frei. Und wenn sie sich jetzt so nah zu ihm
neigte, so hingebend an seinen Lippen hing, so war es nur, um seinen
letzten Wunsch zu vernehmen.

»Mut–ter?!« Es klang so fragend. Weiter sagte er nichts mehr. Er
öffnete nur noch einmal die Augen, sah suchend um sich, seufzte und
verschied.

       *       *       *       *       *

Von außen lachte die Sonne herein. Und die Frau, die jetzt am Fenster
stand und mit trockenen Augen hinaus in den Glanz sah, in den
erquickenden, herrlichen Morgen, der leuchtender war als einer je zuvor,
fühlte sich bezwungen von der Kraft der Natur. Die war so groß, so
erhaben, so unwiderstehlich – vor der Natur mußte sie sich bewundernd
beugen, so umflort auch ihr Blick war. Lange, lange stand Käte sinnend:
draußen war das Leben, hier innen war der Tod. Der Tod aber ist der Übel
größtes nicht! Mit einem zitternden Aufseufzen wandte sie sich und trat
zurück ans Bett: »Gott sei Dank!«

Nun sank sie vor dem Toten in die Kniee, faltete seine kalten Hände und
küßte sie.

Sie hörte es nicht, daß leise angepocht wurde.

»Madame!« Das Zimmermädchen steckte den Kopf herein. Und hinter dem
Zimmermädchen reckte sich ein Männerkopf.

»Madame!«

Käte hörte nicht.

»Hier ist jemand – der Herr – der Herr ist angekommen!«

»Mein Mann?!«

Schlieben hatte das Mädchen beiseite geschoben und war eingetreten,
blaß, hastig, in höchster Erregung: seine Frau, seine arme Frau! Was
hatte sie allein durchmachen müssen! Der Junge tot! Man hatte ihn unten
damit empfangen, als er ahnungslos ankam, sie beim Morgenkaffee zu
überraschen.

»Paul!« Es war ein Aufschrei seligster Überraschung, wahrer Erlösung.
Von dem kalten Toten weg flüchtete sie in seine warmen Arme. »Paul, Paul
– Wolfgang ist tot!« Nun fand sie Tränen. Nicht endenwollende,
strömende und doch so wohltuende Tränen.

All die Bitterkeit schwamm mit ihnen weg, die sie gegen den Sohn in sich
getragen hatte, als er noch lebend war. »Armer Junge – unser armer,
lieber Junge!« Diese Tränen wuschen ihn rein, so rein, daß er wieder das
kleine, unschuldige Jungchen wurde, das im blühenden Heidekraut gelegen
und mit blanken Augen in die helle Sonne gelacht hatte. O, hätte sie ihn
dagelassen! Diesen Vorwurf, den sie sich selber machen mußte, den wurde
sie ja nie wieder los!

»Paul, Paul,« schluchzte sie auf. »Gott sei Dank, daß du da bist! Hast
du’s geahnt? Ja, du hast es geahnt! Du weißt, wie schrecklich, wie
furchtbar mir zumute ist!« Die gealterte Frau umschlang den gealterten
Mann mit noch fast jugendlicher Inbrunst: »Wenn ich dich nicht hätte –
ach, das Kind, das arme Kind!«

»Weine nicht so sehr!« Er wollte sie trösten, aber auch ihm liefen die
Tränen über das gefurchte Gesicht. Da war er nun hergereist in
fliegender Hast, von einer jähen Unruhe getrieben – ihre Briefe waren
ja ausgeblieben! – er war gekommen, freudig, um sie zu überraschen, und
nun fand er’s so hier?! Er rang nach Fassung.

»Hätt ich ihn dort gelassen – ach, hätt ich ihn dort gelassen!«

Schlieben fühlte seiner Käte die Qual, den Selbstvorwurf nach, aber er
wies auf den Toten, dessen Gesicht über dem weißen Hemd seltsam
verfeinert, fast edelschön, jung und glatt war und ganz friedvoll, und
zog sie mit der andern Hand fester an sich. »Weine nicht! Du hast ihn
doch eigentlich erst zum Menschen gemacht – das vergiß nicht!«

»Meinst du –?! Ach, Paul« – in tiefem Schmerz neigte sie das betränte
Gesicht – »ich habe ihn dadurch nicht glücklicher gemacht!«

Sie mußte weinen, unaufhaltsam weinen in tiefer Erkenntnis menschlichen
Irrens. Zitternd faßte sie ihres Mannes Hände und zog ihn mit sich
nieder am Totenbett.

Beider Hände falteten sich vereint über dem verlorenen Sohn. Wie aus
einem Munde, in tiefer Reue flüsterten sie:

»Vergib uns unsre Schuld!«




Verlag von =Egon Fleischel & Co. / Berlin W 9=


Romane und Novellen

von

C. Viebig

Einzelausgaben


Kinder der Eifel / Novellen

11. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

In diesem Werke der bisher unbekannten Schriftstellerin offenbart sich
ein siegreiches Talent, an dem nicht nur die Reife der Lebensanschauung,
sondern auch die geschlossene Lebendigkeit der Darstellungskunst
überrascht. Das Eifelgebirge und die aparte Natur seiner Bewohner sind
mit erstaunlicher Kraft gezeichnet, und das Buch gewinnt dadurch jenen
herben Erdgeruch, welcher den meisten Werken moderner Autoren fehlt.

  (=Internationale Literaturberichte.=)


Rheinlandstöchter / Roman

11. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Realismus in der Wahrhaftigkeit der Darstellung, Idealismus in der
Gesinnung und Denkweise.

  (=St. Petersburger Zeitung.=)


Dilettanten des Lebens / Roman

5. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Mit ergreifender Wahrheit malt uns Clara Viebig den Verlauf eines
tragischen Geschickes, und sie entfaltet eine bedeutende Kraft und
lebensvolle Anschaulichkeit.

  (=Norddeutsche Allgemeine Zeitung.=)


Vor Tau und Tag / Novellen

5. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.50

Eine überreiche Skala von Stimmungstönen steht der Verfasserin zur
Verfügung, und sie macht ausgiebigsten Gebrauch davon.

  (=Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung.=)


Es lebe die Kunst / Roman

5. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Was dem Roman einen starken Wert verleiht, ist zuerst sein typischer
Gehalt: Er hat den Wert eines Kulturdokuments.

  (=Die Nation.=)


Das Weiberdorf / Roman aus der Eifel

26. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Ein Werk, wie es in der Frauenliteratur in gleicher Wucht noch nicht
geschrieben worden ist.

  (=Tägliche Rundschau.=)


Das tägliche Brot / Roman (Volksausgabe)

20. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.–

Das tägliche Brot ist eine der bedeutendsten sozialen Dichtungen unserer
Zeit.

  (=Breslauer Zeitung.=)


Die Rosenkranzjungfer / Novellen

8. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.50

Herzbewegend, voll mahnender Anregung sind diese Erzählungen alle, kurz
angeschlagene Töne, die lange noch nachklingen in wehmütiger Trauer.

  (=Berliner Börsen-Courier.=)


Die Wacht am Rhein / Roman

24. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Es ist ein Buch für das deutsche Volk im höchsten und besten Sinne, ein
Buch, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte, ein deutscher Roman,
wie wir ihn brauchen.

  (=Der Tag.=)


Vom Müller-Hannes / Eine Geschichte aus der Eifel

12. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Möchten recht viele den herben Eifelwind einatmen, der durch die
Geschichte vom Müller-Hannes weht; er ist erfrischend und gesund.

  (=Rheinisch-Westfälische Zeitung.=)


Das schlafende Heer / Roman

26. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Es findet sich unter den deutschen Romandichtern der Gegenwart wohl kaum
einer, der mit dieser ungewöhnlichen Kraft der Darstellung noch so viel
Anmut und Schönheit verbände.

  (=Neue Hamburger Zeitung.=)


Naturgewalten / Neue Geschichten aus der Eifel

12. Auflage. Preis geh. M. 3.50; geb. M. 5.–

Ein herrliches Buch, die »Naturgewalten«! Ein Buch voll wuchtiger Kraft,
ein Buch – voll Schönheit.

  (=Österreichische Rundschau.=)


Einer Mutter Sohn / Roman

20. Auflage. Preis geh. M. 5.–; geb. M. 6.–

Einer Mutter Sohn ist eine bange Schmerzensklage, ein zitternder
Angstruf aus krankem Herzen, die ergreifende Bitte einer irre gegangenen
Seele.

  (=Frankfurter Zeitung.=)

_Absolvo te!_ / Roman

18. Auflage. Preis geh. M. 5.–; geb. M. 6.–

Das ist ein Roman wie ein Sturm. Ein Föhn der Leidenschaft setzt gleich
im Anfang ein und braust mit nie ermüdendem heißem Atem bis zum Schluß.

  (=Berner Bund.=)


Das Kreuz im Venn / Roman

17. Auflage. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Das Venn ist der eigentliche Held des Romanes, und aus dem Blühen der
Heide, und der dörrenden Glut der Julisonne, aus dem Brausen des
Schneesturms klingt eine Stimme, eindringlicher als Menschenwort,
erlauscht von einer feinhörigen, überzeugten Kunst.

  (=Berliner Tageblatt.=)


Die heilige Einfalt / Novellen

12. Auflage. Preis geh. M. 3.–; geb. M. 4.–

Diese lautere Glut in einer Zeit, schlapp und bekenntnisfeig wie unsere,
sie erzwingt sich Achtung und Bewunderung.

  (=Die Zeit, Wien.=)

Die vor den Toren / Roman

16.-21. Tausend. Preis geh. M. 6.–; geb. M. 7.50

Ein groß angelegtes und glänzend durchgeführtes Kulturgemälde, das von
einer Fülle scharf individualisierter, lebensechter Typen belebt wird.
Es ist nicht bloß ein herbes, sondern auch ein starkes Buch, das jeden
Freund einer ernsthaften epischen Kunst zu hoher Bewunderung zwingt.

  (=Neues Tagblatt, Stuttgart.=)


Buchdruckerei Roitzsch, Albert Schulze, Roitzsch.




Liste korrigierter Druckfehler


Seite 11, »wennn« durch »wenn« ersetzt (Ja, wenn Käte ein Kind hätte,
dann wäre alles gut, ...);

Seite 32, »ererziehen« durch »erziehen« ersetzt (Ich werde es mir
erziehen.);

Seite 38, Punkt ergänzt hinter »sollte« (wie sie sich und ihre fünf satt
machen sollte.);

Seite 43, Punkt ergänzt hinter »dagegen« (Sie preßte die Hände
dagegen.);

Seite 44, »Aste« durch »Äste« ersetzt (... mit mächtigen Hieben ein paar
starke Äste zu zerkleinern.);

Seite 58, »auseinandergreissen« durch »auseinandergerissen« ersetzt (...
dessen Nebelwand jetzt für Augenblicke durch einen wütenden Windstoß
auseinandergerissen ward ...);

Seite 78, Anführungszeichen am Ende der wörtlichen Rede ergänzt (»Nein
– um keinen Preis – nein! Nie, nie!«);

Seite 90, Punkt ergänzt hinter »gesammelt« (Oder Kienäpfel in den großen
Sack gesammelt.);

Seite 95, »zufllig« durch »zufällig« ersetzt (Hätte nicht zufällig ein
Arbeiter den Ranzen entdeckt ...);

Seite 112, Einfaches Anführungszeichen hinter »schon« ergänzt (...
Spittelmarcht zehne, die weeß schon‹ – au weih, war mich schlecht!);

Seite 121, »weiß« durch »weißt« ersetzt (Du weißt es ja gar nicht!);

Seite 135, Punkt ergänzt hinter »leid« (... es tat ihm aufrichtig
leid.);

Seite 146, »heraußbeißen« durch »herausbeißen« ersetzt (...wie häßlich
von den Dienstboten, die andre heraußbeißen zu wollen!);

Seite 168, Punkt ergänzt hinter »riet er« (»Du müßtest mehr lachen,«
riet er.)

Seite 220, »Unwikürlich« durch »Unwillkürlich« ersetzt (Unwillkürlich
sah Wolfgang nach der Pendüle auf dem Kaminsims ...);

Seite 234, »einen« durch »einem« ersetzt (... und zwei Herren halfen
einem dritten heraus.);

Seite 242, »zusamenbeißend« durch »zusammenbeißend« ersetzt (Die Zähne
zusammenbeißend, den Ekel zurückdrängend, ...);

Seite 245, »Muter« durch »Mutter« ersetzt (So was kommt vor, das macht
jede Mutter durch!);

Seite 252, »eine Zug« durch »ein Zug« ersetzt (... ein Zug von Trotz und
Widersetzlichkeit machte sein Gesicht nicht angenehm.);

Seite 258, »er leuchteten« durch »es leuchteten« ersetzt (... es
leuchteten wie Glühwürmchen brennende Zigarren auf, ...);

Seite 266, »Mittenacht« durch »Mitternacht« ersetzt (Es war schon weit
nach Mitternacht, ...);

Seite 321, »in Zimmer« durch »im Zimmer« ersetzt (... sah er sich
nachdenklich im Zimmer um.);

Seite 326, »nierderzuknieen« durch »niederzuknieen« ersetzt (Eine
ungeheure Sehnsucht erfaßte Wolfgang, auch hier niederzuknieen.).

Seite 334, »inere« durch »innere« ersetzt (... und daß die innere
Erregung, ...).





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EINER MUTTER SOHN ***


    

Updated editions will replace the previous one—the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for an eBook, except by following
the terms of the trademark license, including paying royalties for use
of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for
copies of this eBook, complying with the trademark license is very
easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation
of derivative works, reports, performances and research. Project
Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may
do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected
by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark
license, especially commercial redistribution.


START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE

PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase “Project
Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg™ License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works
provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right
of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.